Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 10.05.1990; Aktenzeichen L 12 J 2191/88)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Mai 1990 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU) hat.

Der 1934 geborene Kläger hat bis 1973 verschiedene Tätigkeiten ausgeübt. Von 1957 bis 1962 war er Angehöriger der französischen Fremdenlegion. Seit Januar 1974 ist er bei der Stadt M. … beschäftigt. Er war als Kraftfahrer im Stadtreinigungsamt mit dem Fahren von Müllwagen beschäftigt. Seit April 1987 ist er nicht mehr als Fahrer eingesetzt worden. Die Abschlußprüfung im Ausbildungsberuf „Berufskraftfahrer im Güterverkehr” hat er im Dezember 1985 bestanden.

Seinen Rentenantrag vom Juni 1987 lehnte die Beklagte ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinland-Pfalz als möglicherweise leistungspflichtigen Versicherungsträger beigeladen. In der Zeit vom 24. Mai bis 16. Juni 1988 hat der Kläger an einem Heilverfahren auf Kosten der Beklagten teilgenommen. Er ist mit einer Schonungszeit bis 23. Juni 1988 daraus entlassen worden.

Das SG hat die Beklagte veurteilt, dem Kläger Rente wegen BU ab 1. Juli 1987 zu gewähren (Urteil vom 20. September 1988).

Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Mai 1990).

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers. Der Kläger macht die Verletzung des § 1246 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und Verfahrensverstöße geltend.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Mannheim vom 20. September 1988 mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Beklagte verurteilt wird, dem Kläger für die Zeit vom 1. Juli 1987 bis 23. Mai 1988 Übergangsgeld zu bewilligen und daß anstelle der Beklagten die Beigeladene verurteilt wird, dem Kläger ab 24. Juni 1988 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu bewilligen und ihm hierüber einen Bescheid zu erteilen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Revision gegen das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 10. Mai 1990 zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß. Das LSG hat bei seiner Entscheidung § 1246 Abs 2 RVO verletzt.

Der Kläger kann nach den Feststellungen des LSG seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Kraftfahrer nicht mehr verrichten. Ob der Kläger allein deswegen berufsunfähig im Sinne von § 1246 Abs 2 RVO ist, hängt davon ab, ob es für ihn ausgehend vom Wert seines bisherigen Berufs zumutbare Verweisungstätigkeiten gibt.

Zum Wert seines bisherigen Berufs hat das LSG festgestellt, daß der Kläger die Prüfung als Berufskraftfahrer abgelegt hat und als Fahrer eines Lkws in die Lohngruppe V des BMT-G eingestuft war. Die zuletzt genannte Feststellung des LSG ist insoweit ungenau, als auf Bundesebene nur ein Rahmentarifvertrag zu § 20 BMT-G (vom 22. Mai 1975, zuletzt geändert durch Tarifvertrag vom 22. März 1991) mit Lohngruppen und Oberbegriffen zu den einzelnen Lohngruppen, aber kein einheitliches Lohngruppenverzeichnis zum BMT-G vereinbart ist. Zur Ergänzung des BMT-G bestehen Bezirkstarifverträge, in denen auf Landesebene Lohngruppenverzeichnisse vereinbart sind. Das ergibt sich auch aus der vom LSG seiner Feststellung zugrunde gelegten Arbeitgeberauskunft. Danach war der Kläger in die Lohngruppe V des für ihn maßgebenden Lohngruppenverzeichnisses (Anlage zum Bezirksmanteltarifvertrag Baden-Württemberg) eingestuft.

Aufgrund der tarifvertraglichen Einstufung der Tätigkeit eines Kraftfahrers in die Lohngruppe V ist der Kläger als Kraftfahrer der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen. Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung auch Versicherte, die – wie der Kläger – Tätigkeiten ohne anerkannte Ausbildung oder mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren verrichtet haben, im Rahmen des für die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO maßgebenden Berufsgruppenschemas der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet, wenn diese Tätigkeiten den anerkannten Ausbildungsberufen mit einer mehr als zweijährigen Ausbildung tarifvertraglich qualitativ gleichgestellt sind (vgl die Urteile in BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; BSGE 56, 72 = SozR aaO Nr 111, SozR aaO Nrn 116, 122, 123; BSGE 58, 239 = SozR aaO Nr 129 und SozR aaO Nr 164 und zuletzt Urteile vom 14. Mai 1991, 5 RJ 82/89 – zur Veröffentlichung vorgesehen –, 5 RJ 41/90 und 5 RJ 59/90).

Durch die Einstufung in die Lohngruppe V (Tarifstelle 3.11) des Lohngruppenverzeichnisses zum Bezirkstarifvertrag Baden-Württemberg BMT-G sind die Kraftfahrer, die Lkws fahren, Facharbeitern gleichgestellt. Das LSG hat die Lohngruppe, in die der Kläger als Kraftfahrer eingestuft gewesen ist, nicht selbst bewertet. Der Senat ist trotz der regionalen Begrenzung des für den Kläger geltenden Lohngruppenverzeichnisses nicht gehindert, diese Bewertung selbst vorzunehmen. Die Lohngruppenverzeichnisse in den einzelnen Bundesländern sind im wesentlichen gleich. Insbesondere die auf die Ausbildungsdauer bezogenen allgemeinen Anforderungen der Lohngruppen sind in den Lohngruppenverzeichnissen zB der Länder Baden-Württemberg, Saarland und Niedersachsen gleich. Diese allgemeinen Anforderungen für die Eingruppierung sind als „Oberbegriffe der Lohngruppen” auch im Rahmentarifvertrag zu § 20 BMT-G aufgeführt. Die Lohngruppe V ist eine Lohngruppe, die im wesentlichen für qualifizierte Facharbeiter gilt. Die Eingangslohngruppe für Facharbeiter ist die Lohngruppe IV. Sie gilt für Arbeiter mit erfolgreich abgeschlossener Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungsdauer von mindestens 2 1/2 Jahren, die in ihrem oder einem diesem verwandten Beruf beschäftigt werden. Die Lohngruppe V gilt nach ihrer Definition zunächst für Arbeiter der Lohngruppe IV, Fallgruppe 1 oder 2, die hochwertige Arbeiten verrichten. Der Ansicht des LSG, die Tätigkeit des Klägers könne nicht der Berufsgruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet werden, weil der Berufskraftfahrer lediglich eine Ausbildung von zwei Jahren durchlaufe und dieser Beruf auch kein Erwachsenenberuf sei, folgt der Senat deshalb nicht.

Ob der Kläger berufsunfähig ist oder nicht, kann der Senat aufgrund der vom LSG aufgeführten Verweisungstätigkeiten nicht abschließend entscheiden.

Die vom LSG genannte Tätigkeit eines einfachen Pförtners ist als Verweisungstätigkeit nicht zumutbar, denn es ist weder eine Anlerntätigkeit noch ist sie tarifvertraglich gleichgestellt.

Die Feststellungen des LSG zur Verweisungstätigkeit des Postabfertigers/Expedienten sind jedenfalls nicht ausreichend, soweit sie den Wert dieser Tätigkeit betreffen.

Das LSG ist davon ausgegangen, daß die Tätigkeit des Postabfertigers in die Vergütungsgruppe VIII BAT eingestuft ist. Tätigkeiten, die tarifvertraglich in die Vergütungsgruppe VIII BAT eingestuft sind, sind einem Facharbeiter von der Qualität her zumutbar (vgl Senatsurteil vom 12. September 1991 ≪5 RJ 34/90≫ – zur Veröffentlichung vorgesehen –). Das LSG hat seine Annahme über die tarifliche Einstufung des Postabfertigers allein auf die Arbeitgeberauskünfte gestützt, die es über diese Tätigkeit eingeholt hat. Die Revision wendet sich zu Recht dagegen, daß damit schon der Wert dieser Tätigkeit in dem Sinne festgelegt ist, wie es der Senat bei der tarifvertraglich vereinbarten Eingruppierung einer bestimmten Tätigkeit annimmt. Die Tätigkeit des Postabfertigers ist weder in der Fallgruppe 1a, die die allgemeinen Anforderungen der Vergütungsgruppe VIII BAT enthält, aufgeführt, noch in einer anderen Fallgruppe dieser Vergütungsgruppe. Darauf weist die Revision zu Recht hin. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß auch Tätigkeiten, die nicht besonders aufgeführt sind, in ihren Anforderungen aber den allgemein beschriebenen Tätigkeitsmerkmalen einer Vergütungsgruppe entsprechen, tarifvertraglich gleichgestellt sind. Ob dafür aber schon die Arbeitgeberauskünfte über eine entsprechende Einstufung der Tätigkeit ausreichen, obwohl die im Tarifvertrag beschriebenen allgemeinen Anforderungen auf erhebliche Vorkenntnisse – vgl zB die beispielhaft aufgeführten „Kenntnisse fremder Sprachen” in Fallgruppe 1a Vergütungsgruppe VIII BAT – schließen lassen, kann offenbleiben. Für die Tätigkeit des Postabfertigers hätte das LSG jedenfalls berücksichtigen müssen, daß diese in der Vergütungsgruppe IXb BAT Fallgruppe 1a aufgeführt ist (Angestellte im Büro …dienst … mit einfacheren Arbeiten ≪zB … Postabfertigung, …), auf die der Kläger nicht verweisbar ist (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 12. September 1991 aaO).

Das LSG wird prüfen müssen, worauf die Diskrepanz zwischen der von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Einstufung der Tätigkeit eines Postabfertigers und der von den Arbeitgebern angegebenen tatsächlichen Einstufung der Tätigkeit beruht. Nur dann, wenn die von den Arbeitgebern angegebene höhere tarifliche Einstufung darauf beruhen sollte, daß die Tätigkeit der bei ihnen beschäftigten Postabfertigern den allgemeinen Merkmalen der Vergütungsgruppe VIII BAT entspricht, – dh höhere Anforderungen stellt, als sie die Tarifvertragsparteien für die Tätigkeit des Postabfertigers in Vergütungsgruppe IX BAT vorausgesetzt haben –, die Tätigkeit vom Kläger auch innerhalb von drei Monaten Einarbeitungszeit vollwertig ausgeübt werden kann und ein Versicherter im Falle einer Einstellung spätestens nach Ablauf von drei Monaten regelmäßig tatsächlich in die Vergütungsgruppe VIII BAT eingestuft würde, könnte der Kläger zumutbar auf die Tätigkeit eines Postabfertigers verwiesen werden (vgl auch hierzu Urteil vom 12. September 1991 aaO). Das LSG wird dabei auch zu berücksichtigen haben, daß die höhere Einstufung eines Postabfertigers, wenn sie nur vereinzelt vorkommt, die Verweisung auf diese Tätigkeit möglicherweise nicht zuläßt. In diesem Fall kann davon auszugehen sein, daß die anders als tarifvertraglich vereinbart eingestuften Tätigkeiten nicht in ausreichender Anzahl auf dem Arbeitsmarkt vorkommen. Ggf sind auch hierzu Feststellungen erforderlich.

Ob die vom Kläger gegen die Verweisung auf die Tätigkeit des Postabfertigers erhobenen Verfahrensrügen durchgreifen, brauchte der Senat nach alledem nicht zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174127

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