Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 29.04.1988; Aktenzeichen L 1 Ar 67/87)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 29. April 1988 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin darlehensweise bewilligtes Unterhaltsgeld (Uhg) als Zuschuß zu gewähren.

Die Klägerin war von Oktober 1979 bis September 1984 als examinierte Krankenschwester in Itzehoe beschäftigt. Vom 2. April 1984 bis 19. April 1984 (1. Maßnahmeabschnitt) und vom 2. Oktober 1984 bis 20. September 1985 (2. Maßnahmeabschnitt) nahm sie mit Erfolg an einer Fortbildung zur Unterrichtsschwester teil. Seit 1. Oktober 1985 ist sie als Unterrichtsschwester tätig.

Auf den Förderungsantrag vom 13. August 1984 bewilligte die Beklagte Uhg für die Zeit ab 2. Oktober 1984 nach § 44 Abs 2a des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) als Darlehen. Eine zuschußweise Gewährung lehnte sie ab, weil ein Mangel an Kranken- oder Unterrichtspflegepersonal in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg und Bremen nicht zu verzeichnen sei (Bescheid vom 5. November 1984; Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 1985).

Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat die auf Zahlung von Uhg als Zuschuß gerichtete Klage wegen Versäumung der Klagefrist abgewiesen (Urteil vom 29. Januar 1986). Das dies bestätigende Urteil des Landessozialgerichts (LSG) hat der erkennende Senat aufgehoben. In dem nunmehr angefochtenen Urteil vom 29. April 1988 hat das LSG die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide verurteilt, der Klägerin das für die Zeit vom 2. Oktober 1984 bis 21. September 1985 darlehensweise bewilligte Uhg als Zuschuß in Höhe von 63 vH des Bemessungsentgelts zu zahlen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG und des § 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Ziel des § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG sei eine Hilfe für Betriebe, in denen unverschuldet ein Fachkräftebedarf bestehe. Wenn Arbeitgeber der Auffassung seien, daß der Arbeitsmarkt ihnen nicht genügend Fachkräfte zur Verfügung stelle und nicht selbst bereit seien, durch entsprechende Fortbildungsmaßnahmen diesem Mangel abzuhelfen, müsse von ihnen erwartet werden, daß sie den tatsächlichen Bedarf den Arbeitsämtern meldeten. Nur so könne sie – die Beklagte – die konkrete Arbeitsmarktsituation verläßlich beurteilen und feststellen, was der Vermittlung der bei ihr gemeldeten arbeitsuchenden Fachkräfte entgegenstehe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 29. April 1988 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 29. Januar 1986 zurückzuweisen sowie die Klage gegen den Bescheid vom 30. Mai 1985 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil hält den Revisionsangriffen stand.

Der Klageanspruch ist nach § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG idF des 5. Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (5. AFG-ÄndG) vom 23. Juli 1979 (BGBl I 1189) begründet. Die Aufhebung dieser Vorschrift durch Gesetz vom 20. Dezember 1988 läßt den streitigen Anspruch unberührt. Nach dieser Vorschrift ist Anspruchsvoraussetzung, daß der Antragsteller einen Beruf ergreifen will, in dem ein Mangel an Arbeitskräften auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt besteht oder in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Von einem Mangelberuf in diesem Sinne ist regelmäßig dann auszugehen, wenn dem Angebot an freien Stellen für eine bestimmte Beschäftigung eine so geringe Nachfrage nach solchen Stellen auf Arbeitnehmerseite gegenübersteht, daß der Bedarf in dem entsprechenden Beschäftigungszweig nicht in der für eine ausgeglichene Arbeitsmarktsituation erforderlichen Weise gedeckt werden kann (BSGE 41, 1, 4 f = SozR 4100 § 36 Nr 11; § 10 Abs 2 der Anordnung für die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung -AFuU- in der Fassung der 12. Änderungsanordnung vom 16. März 1982 – ANBA 1982, 567).

Für die Auffassung der Beklagten, daß ein Mangelberuf nur vorliege, wenn die Zahl der dem Arbeitsamt gemeldeten offenen Stellen die Zahl der arbeitsuchenden Fachkräfte übersteige, bietet weder der Gesetzeswortlaut einen Anhalt, noch läßt sich eine solche restriktive Auslegung mit Sinn und Zweck der Regelung vereinbaren. Erklärtes Ziel der erhöhten zuschußweisen Unterhaltsgeldzahlung nach § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG ist es, den Anreiz zur Teilnahme an arbeitsmarktpolitisch bedeutsamen Maßnahmen zur Deckung des Fachkräftebedarfs zu verstärken (BR-Drucks 1/79 aaO). Damit soll vorrangig die Mobilität des einzelnen Arbeitnehmers gefördert werden, dh es sollen Nachteile aufgefangen werden, die mit einem Betriebs-, Wohnorts- oder Berufswechsel zusammenhängen, um im Einklang mit den Zielen des § 2 Nr 1 AFG einen Arbeitskräftemangel zu verhindern oder zu beseitigen. Zur Feststellung des Arbeitskräftebedarfs dienen ua das in § 6 AFG aufgeführte Instrumentarium der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und der Statistik sowie die Auskunfts- und Meldepflichten nach den §§ 7 – 11 AFG. Eine der Ermächtigung des § 9 AFG entsprechende Rechtsverordnung, wonach die Arbeitgeber zur Meldung der bei ihnen vorhandenen offenen Stellen verpflichtet sind, existiert bislang nicht. Einen Mangelberuf dennoch nur anzunehmen, wenn in einem Beschäftigungszweig mehr – freiwillig – gemeldete offene Stellen als Arbeitsuchende vorhanden sind, wäre lebensfremd und ginge an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes vorbei. Der Anzahl der gemeldeten offenen Stellen kann – wegen der nur begrenzten Aussagekraft – allenfalls indizielle Bedeutung zukommen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Senats vom 7. April 1987 – 11b RAr 22/86 – (AuB 1987, S 303 f). Dort ist lediglich ausgeführt, daß schon das fehlende Angebot offener Stellen eines bestimmten Berufes auf dem Arbeitsmarkt es ausschließe, diesen als Mangelberuf zu bezeichnen; über die Art des Stellenangebotes, insbesondere darüber, ob die Stellen beim Arbeitsamt gemeldet sein müssen, enthält das Urteil keine Aussagen.

Nach den Feststellungen des LSG stellt sich der angestrebte Beruf vom Beginn der Maßnahme her gesehen auf dem regionalen Arbeitsmarkt und im Bundesgebiet als Mangelberuf dar. Die Klägerin ist für das gesamte Bundesgebiet verfügbar. In einem solchen Fall genügt die Feststellung, daß im Bundesgebiet die offenen Stellen überwiegen, ohne daß es auf deren Lage ankommt.

Aufgrund umfangreicher Ermittlungen hat das LSG das Vorliegen eines in diesem Sinn zu definierenden Mangelberufs in tatsächlicher Hinsicht festgestellt. Es hat dabei die amtliche Statistik der Beklagten, mehrere Stellungnahmen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die in Fachzeitschriften veröffentlichten Stellenangebote, Auskünfte von Krankenpflegeschulen, Krankenhäusern und Berufsverbänden sowie die Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft berücksichtigt, die zum Teil sich widersprechenden Ergebnisse abgewogen und im Wege der Beweiswürdigung den Schluß gezogen, daß auf dem regionalen und dem bundesweiten Teilarbeitsmarkt dem Angebot an freien Stellen für Unterrichtsschwestern nur eine geringe Nachfrage gegenübergestanden habe. Dabei handelt es sich um tatsächliche Feststellungen, an die der Senat nach § 163 SGG gebunden ist, da in bezug auf sie zulässige und begründete Revisionsrügen nicht vorgebracht worden sind.

Die Beklagte hat zwar mit der Revision ua gerügt, daß das LSG die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten und gegen Denkgesetze verstoßen habe. Die Beklagte meint, das LSG habe zu Unrecht als bewiesen angesehen, daß der Mangel an Arbeitskräften im Beruf der Unterrichtsschwester auf fehlende Qualifikation zurückzuführen sei. Diese Beweisrüge greift schon deshalb nicht durch, weil es materiell-rechtlich auf die Ursache des vom LSG festgestellten Mangels nicht ankommt.

Hinsichtlich der Feststellung der offenen Stellen beschränkt sich die Beklagte darauf, die Auseinandersetzung mit den von ihr vorgelegten Unterlagen des IAB als nicht ausreichend zu beanstanden, die vom LSG vorgenommene Auswertung des Zahlenmaterials als nicht sachgerecht zu bezeichnen, die Auskünfte des zuständigen Berufsverbandes als nicht frei von eigenen Interessen zu rügen und die Stellenausschreibungen in Fachzeitschriften für nicht aussagekräftig zu halten. Damit behauptet die Revision aber nur, daß die tatsächlichen Feststellungen des LSG zum Mangelberuf unrichtig, fragwürdig oder bedenklich seien. Daß sie in einer gegen die Gesetze der Logik verstoßenden Weise zustande gekommen und damit denkgesetzlich unmöglich seien oder daß das LSG nicht bestehende Erfahrungssätze angenommen oder bestehende mißachtet hätte, läßt sich diesem Vorbringen nicht entnehmen.

Eine formgerechte Verfahrensrüge der Verletzung des Rechts der freien Beweiswürdigung liegt nicht vor, wenn die Revision lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG setzt oder diese eigene Würdigung als der des Tatsachengerichts überlegen bezeichnet (vgl BSGE 1, 150, 163; 2, 236, 237; SozR Nrn 34 und 56 zu § 128 SGG); dem Revisionsgericht ist es nicht gestattet, unter mehreren möglichen Beweiswürdigungen eine Wahl zu treffen oder diese sonst zu bewerten. Dabei kann von einem Verstoß gegen die Denkgesetze nur gesprochen werden, wenn aus den Gegebenheiten nur eine Folgerung gezogen werden kann, jede andere nicht „denkbar” ist und das Gericht die allein denkbare nicht gezogen hat (BSG SozR 1500 § 164 Nr 31 mwN; vgl auch BSG, Urteil vom 22. September 1988 – 7 RAr 61/86). Diesen Anforderungen entspricht die Revisionsbegründung nicht.

Die Beklagte rügt zu Unrecht, das LSG habe berücksichtigt, daß die Klägerin im Anschluß an die Maßnahme eine Arbeitsstelle gefunden habe; es habe dadurch gegen das materiell-rechtliche Gebot verstoßen, die Arbeitsmarktlage aus der Sicht vor Beginn der Maßnahme als Prognose zu beurteilen. Die materiell-rechtlich gebotene Prognoseentscheidung schließt es nicht aus, die spätere Entwicklung zu berücksichtigen (vgl BSG SozR 4100 § 44 Nr 46 S 111). So ist zB bei der Verneinung der Erfolgserwartung (§ 42 AFG) wegen mangelnder Eignung des Teilnehmers bei der gerichtlichen Überprüfung der Prognose rückschauend ein erfolgreicher Abschluß zugunsten des Teilnehmers zu berücksichtigen, wie das BSG bereits entschieden hat (SozR 4100 § 42 Nr 2).

Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172871

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