Leitsatz (amtlich)

Die Ablehnung eines Bescheides zugunsten des Berechtigten ist nicht ermessenswidrig, wenn der unanfechtbar gewordene Umanerkennungsbescheid zwar BVG § 85 verletzt hat, eine erneute Überprüfung aber nicht zu dem mit dem Zugunstenbescheid erstrebten Ergebnis führen könnte.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Offenbare Unrichtigkeiten iS des KOV-VfG § 25 sind Fehler im Ausdruck, nicht in der Bildung des Willens, die auch dem Außenstehenden schon so eindeutig als Irrtum erkennbar sind, daß sie sich - ebenso wie ihre Richtigstellung - aus der Entscheidung und dem ihr zugrunde gelegten Sachverhalt selbst ohne weiteres oder wenigstens aus den Vorgängen bei Erlass der Entscheidung ergeben. Dazu gehören zwar durch Achtlosigkeit entstandene rechnerische Unrichtigkeiten, nicht aber Fehler, die durch eine falsche Tatsachenwertung, eine Nichtanwendung der Norm auf den Sachverhalt oder einen Rechtsirrtum hervorgerufen sind.

2. Der durch unrichtige Anwendung von Rechtssätzen fehlerhafte Bescheid kann selbst dann nicht wegen offenbarer Unrichtigkeit nach KOV-VfG § 25 berichtigt werden, wenn es sich um unschwer erkennbare grobe Verstöße, zB Nichtanwendung des BVG § 85 handelt.

KOV-VfG § 40 Abs 1 dient nur der Beseitigung einwandfrei feststellbaren Unrechts; er begründet keine Verpflichtung der Versorgungsbehörde, den Berechtigten grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Bindung aus einem früheren Bescheid so zu stellen, als ob er von seinem Anfechtungsrecht Gebrauch gemacht hätte.

Die Verwaltungsbehörde genügt der Pflicht zur sachgemäßen Ausübung des Ermessens nach KOV-VfG § 40, wenn sie zu dem durch die Überprüfung gerechtfertigten Ergebnis kommt, daß die beantragte Rechtsfolge auch abgelehnt werden müßte, wenn über sie erstmalig zu entscheiden wäre. Der Antrag auf Erlaß eines Zugunstenbescheides kann daher nicht schon allein deswegen Erfolg haben, weil in dem unanfechtbar gewordenen Umanerkennungsbescheid BVG § 85 verletzt worden ist.

 

Normenkette

BVG § 85 Fassung: 1950-12-20; KOVVfG § 25 Fassung: 1955-05-02, § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. Dezember 1959 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Landesversicherungsanstalt (LVA) Württemberg als Versorgungsbehörde erkannte beim Kläger nach Untersuchung durch Bescheid vom 24. September 1947 1.) Schwerhörigkeit, besonders links, 2.) Zustand nach Granatsplitter-Verletzung beider Unterschenkel, Rücken und Kopf, zu 2) hervorgerufen, zu 1) verschlimmert durch schädigende Einwirkungen als Leistungsgrund nach dem Württembergischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) an und gewährte Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vom Hundert (v. H.). Im Berufungsverfahren vor dem Oberversicherungsamt (OVA) beantragte der Kläger höhere Bewertung der MdE, weil er auf dem linken Ohr nichts mehr hören könne, auch rechts das Gehör sehr schlecht sei und er infolge der Granatsplitter-Verletzung schwere Arbeiten nicht verrichten könne. In dem ohrenfachärztlichen Gutachten vom 16. April 1948 kam Dr. S, der den Kläger im Juli 1946 wegen einer Perlgeschwulst (Cholesteatom) und einer Entzündung des Innenohrs ( Labyrinthitis ) links operiert hatte, zu dem Ergebnis, daß diese vermutlich 1944 während des militärischen Dienstes entstandene Krankheit nicht durch Kriegseinwirkungen verursacht sei. Der Vertrauensarzt Dr. S führte aus, die Taubheit auf dem linken Ohr sei mit Wahrscheinlichkeit kein Körperschaden im Sinne des KBLG; darum könne nur die Schwerhörigkeit rechts im Sinne der Verschlimmerung anerkannt bleiben. Der Kläger nahm darauf die Berufung zurück.

Im versorgungsärztlichen Gutachten vom 8. Mai 1952 folgte auch Dr. H der Beurteilung der Schwerhörigkeit links durch Dr. S. Im Umanerkennungsbescheid vom 20. August 1952 erkannte der Beklagte - neben der Schädigung durch Stecksplitter - nur Schwerhörigkeit rechts, verschlimmert durch schädigende Einwirkungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) an und gewährte Rente nach einer MdE um 30 v. H. Dieser Bescheid wurde nicht angefochten. 1955 beantragte der Kläger höhere Bewertung der MdE und Berichtigung der Leidensbezeichnung Schwerhörigkeit rechts durch einen Bescheid zu seinen Gunsten, weil die Schädigungsfolge auf dem linken Ohr nur infolge eines offensichtlichen Schreibfehlers weggelassen worden sei. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 24. März 1955 ab. Der Umanerkennungsbescheid sei bindend geworden und eine offenbare Unrichtigkeit nicht gegeben. Der Widerspruch blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) Stuttgart änderte mit Urteil vom 1. Juli 1957 die angefochtenen Bescheide und verurteilte den Beklagten, die Schädigungsfolge "Schwerhörigkeit rechts" in "Schwerhörigkeit, besonders links" verschlimmert durch schädigende Ereignisse im Sinne des BVG zu berichtigen. Es hielt § 25 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) für anwendbar, weil ein Fall gegeben sei, der nach Treu und Glauben entsprechend dieser Vorschrift behandelt werden müsse. Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 15. Dezember 1959 das Urteil des SG auf und wies die Klage ab. Der Umanerkennungsbescheid habe die Gesundheitsstörungen erschöpfend aufzählen und die Anerkennung des Leidens Schwerhörigkeit links nicht offen lassen wollen, weil die Taubheit auf dem linken Ohr medizinisch nicht auf Wehrdiensteinflüsse habe zurückgeführt werden können. Das sei dem Kläger auch bekannt gewesen; er habe darum den Umanerkennungsbescheid nicht mißverstehen können. Der Bescheid sei, obgleich er gegen § 85 BVG verstoßen habe, bindend geworden. Er könne nicht nach § 25 VerwVG berichtigt werden, weil er nicht offenbar unrichtig sei; denn es fehle an der in dieser Vorschrift vorausgesetzten Nichtübereinstimmung zwischen dem gewollten und dem erklärten Inhalt des Bescheides. Die Vorschrift könne auch nicht entsprechend angewandt werden. Der Beklagte habe ermessensfehlerfrei den Erlaß eines Bescheides nach § 40 VerwVG abgelehnt. Er habe ohne Rücksicht auf den Altbescheid vom 24. September 1947 darauf abstellen dürfen, daß nach fachärztlicher Prüfung ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Schwerhörigkeit links und dem Wehrdienst verneint werden müsse. Der Beklagte habe nicht gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn er sich bei dieser Sachlage trotz der Verletzung des § 85 BVG im Umanerkennungsbescheid auf diese Bindungswirkung berufen habe. Mit der Bindung seien die Rechtsvorteile verfahrensrechtlicher Art entfallen, die § 85 BVG dem Kläger geboten habe, und es sei nun wieder entscheidend auf die medizinische Beurteilung angekommen. Das LSG ließ die Revision zu.

Der Kläger rügt mit der Revision Verletzung des § 40 Abs. 1 VerwVG und des § 54 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Der Beklagte habe im Bescheid vom 20. August 1952 die Verbindlichkeit der im Bescheid vom 24. September 1947 ausgesprochenen Anerkennung der Schädigungsfolge "Schwerhörigkeit, besonders links" beachten müssen und daher diese Schädigungsfolge nicht ablehnen dürfen. Von der Bindungswirkung des Bescheides vom 24. September 1947 hätte er sich nur durch einen Berichtigungsbescheid befreien können. Da der Bescheid vom 20. August 1952 unter Verletzung des materiellen Rechts ergangen sei, habe der Kläger Anspruch auf Erteilung eines Bescheides zu seinen Gunsten, denn § 40 VerwVG diene der Beseitigung fehlerhafter Entscheidungen. Durch Ablehnung eines Zugunstenbescheides habe der Beklagte sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Es werde zwar nicht Verletzung des § 25 VerwVG gerügt; da jedoch damit gerechnet werden müsse, daß das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht einen Berichtigungs anspruch nach § 25 VerwVG verneine und in diesem Falle der Tenor des Urteils des SG nicht aufrechterhalten werden könne, werde, um einen Rechtsverlust aus verfahrensrechtlichen Gründen zu vermeiden, für diesen Fall ein entsprechender Hilfsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 1. Juli 1957 zurückzuweisen, hilfsweise 1.) die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 1. Juli 1957 in Abänderung dieses Urteils mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß dieses Urteil dahin abgeändert wird, daß der Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt wird, 2.) unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen. Die Bindung an den Altbescheid sei trotz der Verletzung des § 85 BVG durch die jüngere Bindung an den Umanerkennungsbescheid abgelöst worden. Nachdem diese Bindung eingetreten sei, beziehe sich die Ermessensentscheidung nach § 40 VerwVG nur auf die Prüfung, ob die Bindung der materiell-rechtlichen Sachlage gerecht werde.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und deshalb zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG). Sachlich ist sie nicht begründet.

Der Hauptantrag der Revision ist auf Wiederherstellung des Urteils des SG gerichtet. Das SG geht von einem nicht bindend gewordenen Umanerkennungsbescheid aus, der darum nach § 25 VerwVG berichtigt werden könne. Der Kläger hat ausdrücklich hervorgehoben, daß er eine Verletzung des § 25 VerwVG nicht rügen will. Wenn er dennoch das Urteil des SG aufrechterhalten wissen will, so kann das nur bedeuten, daß er eine unmittelbare Anwendung des § 25 VerwVG zwar nicht für gerechtfertigt hält, aber dennoch um Nachprüfung bittet, ob dasselbe Ergebnis sich nicht mit einer entsprechenden Anwendung des § 25 VerwVG erzielen läßt. Das trifft jedoch nicht zu. Im vorliegenden Fall ist eine Berichtigung nach § 25 VerwVG weder in unmittelbarer noch in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift möglich. Das LSG hat festgestellt, daß der Beklagte im Bescheid vom 20. August 1952 das Gehörleiden als Schädigungsfolge erschöpfend mit der Bezeichnung Schwerhörigkeit rechts beurteilt hat und daß der Kläger den Bescheid auch nicht anders verstehen konnte. Der Kläger hat diese tatsächlichen Feststellungen nicht angegriffen; sie sind daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Aus ihnen ergibt sich die zutreffende rechtliche Folgerung des LSG, daß der Beklagte das Gehörleiden des Klägers in dem Umanerkennungsbescheid nicht teilweise übergangen, es auch nicht versehentlich nur ungenau oder mißverständlich bezeichnet hat, sondern daß insoweit über den gesamten Leidenszustand entschieden worden ist. Da der Kläger diesen Bescheid nicht angefochten hat, ist er mit dem ihm hiernach zukommenden Inhalt bindend geworden (§ 77 SGG, § 24 VerwVG). Die Bindung erfaßt allerdings nicht die in § 25 VerwVG bezeichneten Schreib- und Rechenfehler sowie ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die, weil sie keine Bindung herbeiführen, auf Antrag oder von Amts wegen berichtigt werden können. Daher ist weder eine unmittelbare noch eine entsprechende Anwendung des § 25 VerwVG möglich, soweit der rechtlich fehlerhafte Inhalt eines Bescheids keine offenbare Unrichtigkeit i. S. dieser Vorschrift darstellt und deshalb von der Bindungswirkung ausgeschlossen ist. Das Gesetz hat in § 25 VerwVG wörtlich die in § 319 der Zivilprozeßordnung für die Berichtigung von Urteilen getroffene Regelung übernommen. Offenbare Unrichtigkeiten im Sinne des § 25 VerwVG sind Fehler im Ausdruck, nicht in der Bildung des Willens, die auch dem Außenstehenden schon so eindeutig als Irrtum erkennbar sind, daß sie sich - ebenso wie ihre Richtigstellung - aus der Entscheidung und dem ihr zugrunde gelegten Sachverhalt selbst ohne weiteres oder wenigstens aus den Vorgängen bei Erlaß der Entscheidung ergeben (BGH 20, 191 f; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. § 57 I 3 S. 260; BSG Urt. v. 17. Mai 1962 - 11 RV 116/60 - KOV 1963, 38; vgl. ferner die Entscheidung des erkennenden Senats vom 23. Oktober 1962 in SozR SGG § 150 Da 17 Nr. 37). Dazu gehören zwar durch Achtlosigkeit entstandene rechnerische Unrichtigkeiten, nicht aber Fehler, die durch eine falsche Tatsachenwertung eine Nichtanwendung der Norm auf den Sachverhalt oder einen Rechtsirrtum hervorgerufen worden sind (vgl. auch BSG 15, 96, 98). Der durch unrichtige Anwendung von Rechtssätzen fehlerhafte Bescheid kann selbst dann nicht wegen offenbarer Unrichtigkeit nach § 25 VerwVG berichtigt werden, wenn es sich um unschwer erkennbare grobe Verstöße handelt. Hier war der Bescheid vom 20. August 1952 fehlerhaft durch Nichtanwendung des § 85 BVG. Er hätte den im Bescheid vom 24. September 1947 für die beiderseitige Gehörschädigung anerkannten Kausalzusammenhang mit dem militärischen Dienst nicht verneinen dürfen, so lange nicht nach Art. 30 Abs. 4 KBLG in Verbindung mit § 86 Abs. 3 BVG dieser Bescheid teilweise zurückgenommen worden war, weil sich seine Voraussetzungen als unzutreffend erwiesen hatten. Aber dieser Fehler in der Anwendung des sachlichen Rechts beeinflußte nicht die Bindungswirkung des Umanerkennungsbescheides. Darum kann er nicht, auch nicht in entsprechender Anwendung des § 25 VerwVG, berichtigt werden. Der Hauptantrag des Klägers ist somit unbegründet.

Auch die auf Verletzung des § 40 Abs. 1 VerwVG aF gestützten Hilfsanträge des Klägers können nicht zum Erfolg führen. Der Beklagte hat sein Ermessen nicht dadurch fehlerhaft ausgeübt, daß er sich in dem als Bescheid anzusehenden Schreiben vom 24. März 1955 auf die für den Bescheid vom 20. August 1952 eingetretene Bindung berief und den Erlaß eines Zugunstenbescheides nach § 40 VerwVG ablehnte. Der Bescheid vom 24. März 1955 hat nicht auf Grund erneuter Sachprüfung eine neue Regelung getroffen und anstelle des alten Bescheides einen neuen gesetzt (vgl. BSG 10, 248 und SozR SGG § 77 Da 8 Nr. 21, Da 8 Nr. 22). Es kann darum nur geprüft werden, ob die Ermessensentscheidung, durch die ein Bescheid zugunsten des Klägers abgelehnt wurde, fehlerhaft ist. Nach § 40 Abs. 1 VerwVG kann die Verwaltungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Bei der Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens hat sie unter Berücksichtigung der gesamten Umstände zu prüfen, ob sie an dem bindend gewordenen Bescheid festhalten will. Dabei hat sie zu beachten, daß § 40 VerwVG der materiellen Gerechtigkeit den Vorrang vor der Berufung auf die Bindungswirkung einräumen will (vgl. BSG in SozR VerwVG § 40 Ca 2 Nr. 3). Aus der Begründung des Entwurfs zum VerwVG (§§ 40 bis 44, Deutscher Bundestag, 2. Wahlp. 1953, Drucks. 68 S. 14) ergibt sich, daß der Verwaltung wegen der Vielzahl der in der Nachkriegszeit notwendig gewordenen und unter unzulänglichen Verhältnissen getroffenen Entscheidungen in geeigneten Fällen ein Abgehen von der Bindungswirkung gestattet werden sollte. Insofern dürfen die an die Ermessensentscheidung nach § 40 VerwVG zu stellenden Anforderungen nicht eng ausgelegt werden, weil die Vorschrift sonst ihren Zweck verfehlen würde. Bei zweifelsfreiem Widerspruch zwischen einer zum Nachteil des Berechtigten getroffenen bindend gewordenen Regelung und dem materiellen Recht soll die Verwaltung nicht die Augen vor der Fehlerhaftigkeit des früheren Bescheides verschließen dürfen. Sie handelt daher ermessensfehlerhaft, wenn sie die Anerkennung eines Leidens oder die Gewährung einer anderen, dem Beschädigten günstigen Rechtsposition unter Berufung auf die Bindung eines Bescheides versagt, obgleich die aus früheren Vorgängen bekannten Tatsachen oder durch neuere Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Erfahrungen ergeben, daß die bindend getroffene Entscheidung sachlich verfehlt ist. Die Vorschrift begründet andererseits keine Verpflichtung der Versorgungsbehörde, den Berechtigten grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Bindung aus einem früheren Bescheid so zu stellen, als ob er von seinem Anfechtungsrecht Gebrauch gemacht hätte; sie dient nur der Beseitigung einwandfrei feststellbaren Unrechts. In der Regel genügt daher die Verwaltungsbehörde der Pflicht zur sachgemäßen Ausübung des Ermessens nach § 40 VerwVG, wenn sie zu dem durch die Überprüfung gerechtfertigten Ergebnis kommt, daß die beantragte Rechtsfolge auch abgelehnt werden müßte, wenn über sie erstmalig zu entscheiden wäre.

Nach diesen Grundsätzen kann hier der Antrag auf Erlaß eines Zugunstenbescheides nicht schon allein deswegen Erfolg haben, weil in dem unanfechtbar gewordenen Umanerkennungsbescheid § 85 BVG verletzt worden ist. Aus dem Übergangscharakter des § 85 BVG folgt vielmehr, daß sich die Verbindlichkeit einer nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangenen Entscheidung über die Zusammenhangsfrage lediglich auf die erste Entscheidung nach dem BVG erstreckt, und daß diese Vorschrift somit bei Erlaß eines späteren Bescheides nicht mehr anzuwenden ist (vgl. BSG 18, 25; BSG in SozR BVG § 85 Ca 11 Nr. 18). Wenn daher der Berechtigte Folgen eines Leidens geltend macht, das in dem bindend gewordenen Umanerkennungsbescheid - entgegen der früheren Anerkennung - aberkannt worden ist, so muß die Versorgungsbehörde den Kausalzusammenhang zwischen dieser Schädigungsfolge und dem militärischen Dienst nicht schon deshalb bejahen, weil in dem Umanerkennungsbescheid § 85 BVG nicht beachtet worden ist. Der Berechtigte muß sich vielmehr regelmäßig auf die Bindungswirkung mit der sich daraus ergebenden Erschwerung des Beweises über den Kausalzusammenhang verweisen lassen, weil er durch Nichtanfechtung des Umanerkennungsbescheides die ihm durch § 85 BVG eingeräumte Rechtsposition verloren hat. In diesen Zusammenhang gehören allerdings nicht die Fälle, in denen in dem Umanerkennungsbescheid eine Schädigungsfolge übergangen wurde und darum dieser Bescheid das Versorgungsverhältnis nicht erschöpfend geregelt hat (vgl. BSG in SozR § 85 Ca 12 Nr. 19) oder in denen bereits die Auslegung des "bindend" gewordenen Bescheides eine Unklarheit oder Mehrdeutigkeit ergibt, die zu Lasten der Versorgungsverwaltung geht (vgl. BSG 11, 57 und Urt. des erkennenden Senats v. 9. Juli 1963 - 9 RV 1358/60 -). Verstößt jedoch ein bindend gewordener Bescheid erkennbar und zweifelsfrei gegen eine gesetzliche Vorschrift, so darf die Versorgungsbehörde den Berechtigten nicht an diesem Bescheid festhalten, wenn seine Überprüfung im Zeitpunkt der Ermessensentscheidung nach § 40 Abs. 1 Verw VG ergibt, daß er offensichtlich materiell unhaltbar ist. Darum ist der vorliegende Fall nicht vergleichbar mit dem Fall, den der erkennende Senat in dem Urteil vom 15. November 1961, SozR VerwVG § 40 Ca 2 Nr. 3, entschieden hat; dort war in dem ohne Nachuntersuchung ergangenen Umanerkennungsbescheid die frühere MdE beibehalten, aber im Gegensatz zu den bisherigen Untersuchungsergebnissen und den nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangenen Bescheiden ein Leiden nur im Sinne der Verschlimmerung - statt der Entstehung - anerkannt worden, obwohl kein Grund hierfür ersichtlich war. Es war nicht einmal erkennbar, ob ein Versehen vorlag oder ob - in völliger Verkennung des Sachverhalts - die Schädigungsfolge anders als vorher bezeichnet wurde. In diesem Fall handelte die Versorgungsverwaltung bei Ablehnung eines Bescheides zugunsten des Klägers ermessensmißbräuchlich, denn sie verletzte ihre Verpflichtung zu sozial angemessener Rechtsausübung. Von diesem Fall unterscheidet sich der vorliegende grundsätzlich, denn nach den Feststellungen des LSG konnte der Kläger bereits vor Erlaß des Umanerkennungsbescheides nicht mehr mit einer weiteren Anerkennung der Gehörschäden links rechnen, nachdem die Ermittlungen vor dem OVA ergeben hatten, daß sie nicht auf den militärischen Dienst zurückgeführt werden konnten. Der Beklagte hätte zwar insoweit den Bescheid vom 24. September 1947 zurücknehmen müssen, um sich von der durch § 85 BVG vorgeschriebenen Bindung bezüglich der Entscheidung über den Ursachenzusammenhang zwischen Gesundheitsstörung und Schädigung im Sinne des § 1 BVG zu befreien. Die Fehlerhaftigkeit des Bescheides vom 20. August 1952 beruht aber im wesentlichen auf einer unzutreffenden verfahrensrechtlichen Behandlung, nicht auf offensichtlichem materiellen Unrecht. Der Kläger muß daher diesen Bescheid, dessen Anfechtung er versäumt hat, gegen sich gelten lassen (vgl. auch BSG Urt. v. 28. Februar 1963 - 7 RV 1086/61).

Das LSG hat keine Tatsachen festgestellt, die einen Anhalt dafür bieten, daß das Gehörleiden auf dem linken Ohr im Zusammenhang mit dem militärischen Dienst entstanden oder durch ihn verschlimmert worden ist. Es hat sich vielmehr auf die seit dem ohrenfachärztlichen Gutachten des Dr. S vom 16. April 1948 einheitliche Beurteilung dieses Leidens durch die medizinischen Sachverständigen stützen können, um ein fehlerhaftes Ermessen des Beklagten bei der Ablehnung eines Bescheides zugunsten des Klägers nach § 40 VerwVG zu verneinen. Der Kläger hat gegen die dieser rechtlichen Folgerung zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen auch keine Revisionsrügen vorgebracht. Da das LSG somit die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide zutreffend bejaht hat, ist die Revision unbegründet. Sie war nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 286

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