Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweisnotstand. Beweisvereitelung. Umkehr der Beweislast. Beweiswürdigung. Beweismaßstab. Amtsermittlung. Obduktion. Exhumierung. Lungenkrebs iVm Asbestose

 

Leitsatz (amtlich)

Die Tatsachengerichte haben bei einem durch den Sozialleistungsträger verursachten Beweisnotstand des Anspruchstellers im Rahmen der Beweiswürdigung zwar an den Beweis der Tatsachen, auf die sich der Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen zu stellen, sind aber nicht befugt, dabei den Beweismaßstab zu verringern (Fortführung von BSG vom 29.9.1965 - 2 RU 61/60 = BSGE 24, 25).

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1; BKVO Anl 1 Nr. 4104; RVO § 589 Abs. 2 S. 2; SGB X § 20; RVO § 551 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 07.08.1996; Aktenzeichen L 8 U 47/94)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 16.12.1993; Aktenzeichen S 1 U 60/91)

 

Tatbestand

In dem Rechtsstreit um Gewährung von Witwenrente streiten die Beteiligten, ob der Tod des Ehemannes der Klägerin Folge einer Berufskrankheit (BK) der Nr 4104 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) ist.

Der im Jahre 1944 geborene Ehemann der Klägerin (Versicherter) war nach seiner Ausbildung in der Zeit von September 1959 bis Oktober 1963 zum Klempner und Installateur bis März 1971 in diesem Beruf als Geselle tätig. Nach einer Fortbildung zum Bautechniker in der Zeit von April 1971 bis September 1972 war er im Bedachungs- und Fassadenbau bis Juli 1976 als Bauleiter, anschließend bis Juli 1984 als Bauleiter und Abteilungsleiter, von August 1984 bis Juni 1986 als Niederlassungsleiter, von August 1986 bis August 1987 als Vertriebsleiter sowie ab September 1987 als Oberbau- und Außendienstleiter beschäftigt. Während seiner Tätigkeit als Klempner hatte er asbesthaltige Materialien zu bearbeiten. Im Bedachungs- und Fassadenbau wurden vorwiegend Bitumen, Asbestzement- und Betonsteinprodukte verarbeitet.

Im März 1988 trat beim Versicherten ein Doppelbildersehen mit Kopfschmerzen auf. Deswegen wurde er im Allgemeinen Krankenhaus B. stationär behandelt. Dabei wurde ein fortgeschrittenes metastasiertes Bronchialkarzinom diagnostiziert.

Am 4. Mai 1988 zeigte das Krankenhaus der Beklagten an, daß beim Versicherten der Verdacht auf das Vorliegen einer BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO bestehe. Das daraufhin mit Schreiben vom 26. Mai 1988 an den Chefarzt der neurologischen Abteilung des Krankenhauses gerichtete Ersuchen, im Falle des Ablebens des Versicherten vorsorglich eine Sektion durchzuführen, wurde mit dem Hinweis zurückgewiesen, derartige Mitteilungen in Zukunft zu unterlassen.

Die Beklagte zog die medizinischen Unterlagen der Landesversicherungsanstalt (LVA) der Freien und Hansestadt Hamburg bei und ermittelte im Anschluß an eine schriftliche Auskunft des Versicherten bei seinen früheren Arbeitgebern über Art und Dauer seiner Beschäftigungen sowie welchen Einwirkungen er dabei ausgesetzt war. Aus den Berichten des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Beklagten vom 20. Oktober und 21. Dezember 1988 ergab sich ua, daß der Versicherte im September 1988 verstorben war. Die Beklagte zog die Krankenblätter des Allgemeinen Krankenhauses B. und der Reha-Klinik D. über die Behandlungen des Versicherten bei.

Am 30. Januar 1989 unterrichtete die Klägerin die Beklagte telefonisch, daß ihr Ehemann am 17. September 1988 verstorben sei. Es habe eine Erdbestattung stattgefunden. Mit Schreiben vom 19. Juli 1989 teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß zur Feststellung einer BK eine Obduktion erforderlich sei und fragte zugleich an, ob - sofern eine solche nicht bereits durchgeführt worden sei - die Klägerin einer Exhumierung und Untersuchung des Leichnams ihres Ehemannes zustimme. Diese teilte mit, daß eine Obduktion nicht vorgenommen worden sei; sie sei nicht sicher, ob sie einer Exhumierung zustimmen solle, da ihr Ehemann bereits vor zehn Monaten verstorben sei. Nach Ablauf einer eingeräumten Bedenkzeit erklärte die Klägerin mit ihrer am 11. August 1989 bei der Beklagten eingegangenen Erklärung ihr Einverständnis mit einer Exhumierung und Untersuchung des Leichnams ihres Ehemannes.

Der Arzt für innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. S. teilte auf Anfrage der Beklagten mit, daß eine Exhumierung sinnlos sei, weil seit dem Ableben des Versicherten mehr als sechs Monate vergangen seien. Nach Einholung eines Gutachtens von Dr. S. vom 18. April 1990 sowie einer Stellungnahme des Staatlichen Gewerbearztes der Freien und Hansestadt Hamburg vom 1. Juli 1990 lehnte es die Beklagte ab, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes zu gewähren. Nach den ärztlichen Feststellungen könne das Vorliegen einer Asbestose nicht wahrscheinlich gemacht werden. Es bestehe nach dem ermittelten Sachverhalt allenfalls die Möglichkeit einer beruflichen Krebsentstehung. Die anspruchsbegründenden Tatsachen seien trotz umfangreicher Ermittlungen nicht bewiesen (Bescheid vom 21. August 1990 idF des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1991).

Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung eines Gutachtens mit ergänzender Stellungnahme von dem Arzt für innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. L. vom 18. Februar 1993/12. Oktober 1993 die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Dezember 1993).

Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Einholung eines Gutachtens des Arztes für innere Medizin und Sozialmedizin Prof. Dr. W. vom 1. April 1996 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren (Urteil vom 7. August 1996). Der Tod des Versicherten sei auf eine BK der Nr 4104 der Anlage 1 der BKVO zurückzuführen. Zwar stehe nicht fest, daß der Versicherte während seiner beruflichen Tätigkeit den Einwirkungen von Asbestfaserstaub in einem Umfang von 25 Faserjahren ausgesetzt gewesen sei. Auch die weiteren Tatbestandsalternativen einer BK nach der Nr 4104 stünden wegen fehlender Röntgen-, computertomographischer und feingeweblicher Untersuchungsbefunde nicht fest. Schließlich sei auch nachträglich keine Obduktion durchgeführt worden. Der medizinische Sachverhalt könne insoweit im Nachhinein nicht mehr aufgeklärt werden. Nach allem steht zwar fest, daß der Versicherte an einem Lungenkrebs verstorben sei, nicht aber, daß bei dem Versicherten eine Asbeststaublungenerkrankung oder eine durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura vorgelegen habe. Dies schließe jedoch nicht die Feststellung aus, daß der Versicherte infolge einer BK nach der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO verstorben sei. Wegen der besonderen Umstände des Falles reiche es zur Anspruchsbegründung aus, daß bei dem Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorgelegen habe. Denn die Beweislage sei auf das Verhalten der Beklagten zurückzuführen. Sie habe schuldhaft versäumt, den medizinischen Sachverhalt aufzuklären. Durch das Verhalten der Beklagten sei die Klägerin in einen Beweisnotstand geraten. Diesen Umständen sei bei den Anforderungen an den Nachweis der anspruchsbegründenden Tatsachen Rechnung zu tragen. Es sei zwar keine Umkehr der Beweislast anzunehmen. Wenn der beweisbelastete Beteiligte durch das schuldhafte Verhalten des Gegners in einen Beweisnotstand gerate, könne das Gericht aber dem dadurch Rechnung tragen, daß es an den Nachweis der Tatsachen, auf die sich der Beweisbelastete beziehe, weniger hohe Anforderungen stelle. Im vorliegenden Falle reiche deshalb lediglich die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Asbestose aus. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens gehe das LSG davon aus, daß der Versicherte möglicherweise an einer Minimalasbestose erkrankt gewesen sei. Der Versicherte sei über eine Reihe von Jahren mit der Verarbeitung von Asbest befaßt gewesen. Das sei die wesentliche Voraussetzung für das Entstehen einer Asbestose. Damit seien die Voraussetzungen für die Bejahung einer BK iS der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO erfüllt. Dem stehe auch nicht die Annahme entgegen, daß der Versicherte nach Aktenlage Raucher gewesen sei.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte, daß das LSG zu Unrecht die fehlenden bzw nicht festgestellten Tatbestände der BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO meine dadurch ersetzen zu können, daß es der Beklagten eine schuldhafte Beweisverhinderung anlaste. Die Begründung des LSG laufe im Ergebnis darauf hinaus, daß es zu Lasten der Beklagten eine Umkehr der Beweislast vorgenommen habe. Diese Folgerung sei aber mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) unvereinbar. Im vorliegenden Fall habe entgegen der Auffassung des LSG eine schuldhafte Beweisvereitelung durch die Beklagte nicht vorgelegen. Selbst wenn die Beklagte sofort tätig geworden wäre und die erforderlichen Genehmigungen eingeholt hätte, hätte die Obduktion erst nach einem Zeitraum von fünf bis sechs Monaten nach dem Ableben des Versicherten durchgeführt werden können. Das LSG gehe aber selbst davon aus, daß eine Obduktion spätestens "bis zu sechs Monaten" nach dem Tode hätte durchgeführt werden müssen, um eine Asbestose oder eine asbestbedingte Veränderung der Pleura nachweisen zu können. Unabhängig davon begegne die Beweisführung des LSG durchgreifenden Bedenken. Es unterstelle, daß bei dem Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorgelegen habe. Alsdann gewähre das LSG der Klägerin eine weitere Beweiserleichterung aufgrund des Beweisnotstandes und sehe die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Asbestose, die es mangels konkreter Nachweise und Anhaltspunkte selbst unterstellt habe, als ausreichend an. Das LSG komme also im Ergebnis entgegen der Rechtsprechung des BSG zu einer Umkehr der Beweislast. Das LSG habe daher nicht nur die Rechtsprechung des BSG, sondern auch die nicht vorhandenen Tatsachen verfälscht, um zu dem von ihm gewünschten Ergebnis zu kommen. Das LSG hätte auch berücksichtigen müssen, daß der Versicherte ein starker Raucher gewesen sei und nach seinen eigenen Angaben 20 Zigarillos pro Tag geraucht habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. August 1996 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 16. Dezember 1993 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Entgegen der Ansicht der Beklagten habe das LSG keineswegs eine Umkehr der Beweislast vorgenommen. Unverständlich sei auch der Vortrag der Beklagten darüber, daß eine schuldhafte Beweisvereitelung durch sie nicht vorgelegen habe.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu entscheiden.

Der Anspruch der Klägerin richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), da die von ihr geltend gemachte BK ihres Ehemannes vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes ≪UVEG≫, § 212 SGB VII).

Der Anspruch auf Witwenrente besteht gemäß § 589 Abs 1 RVO "bei" Tod durch Arbeitsunfall. Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Arbeitsunfall gilt nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung bezeichnet und die sich ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit zugezogen hat.

Das LSG hat die Voraussetzungen für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente im vorliegenden Rechtsstreit als erfüllt angesehen, weil der Tod des Versicherten auf eine BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO zurückzuführen sei. Das LSG hat dabei auf die BK der Nr 4104 idF der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992 (BGBl I, S 2343) abgestellt, die nach Art 2 Abs 1 dieser Verordnung am 1. Januar 1993 in Kraft getreten ist. Nach der Rückwirkungsklausel des Art 2 Abs 2 dieser Verordnung könnte sie jedoch nur angewandt werden, wenn der Versicherungsfall erst nach dem 31. März 1988 eingetreten ist. Dies war vorliegend aber nicht der Fall, weil sich der Versicherte bereits ab dem 22. März 1988 wegen des Bronchialkarzinoms in stationärer Behandlung befand. Es kann daher hier ungeprüft bleiben, ob die Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren nachgewiesen ist. Somit ist die frühere Fassung der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO maßgebend. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO vom 22. März 1988 (BGBl I, S 400) oder deren Vorgängerin, die BKVO idF der Änderungsverordnung vom 8. Dezember 1976 (BGBl I, S 3329), anzuwenden ist, da der hier einschlägige Tatbestand, Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) in Verbindung mit Lungenkrebs, der BK der Nr 4104 im Wortlaut zwar verändert wurde, inhaltlich aber keine Änderungen erfahren hat. Nach der Fassung der BK der Nr 4104 der Anlage 1 der BKVO vom 22. März 1988 zählt als BK "Lungenkrebs in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura".

Die Voraussetzungen der Nr 4104 in der hier maßgebenden Fassung stehen nach Ansicht des LSG nicht fest, weil wegen fehlender Röntgen-, computertomographischer oder feingeweblicher Befunde nicht festgestellt werden kann, daß bei dem Versicherten eine Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder eine durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura vorlag. Auch eine Obduktion oder rechtzeitig durchgeführte Exhumierung und Untersuchung des Leichnams, wodurch eine Klärung, ob eine Asbeststauberkrankung vorgelegen hat, möglich gewesen wäre, sei nicht durchgeführt worden. Wegen der besonderen Umstände des Falles reiche es zur Anspruchsbegründung aus, daß bei dem Versicherten möglicherweise eine Asbestose vorgelegen habe. Denn die Beweislage sei auf das Verhalten der Beklagten zurückzuführen, die es schuldhaft versäumt habe, den medizinischen Sachverhalt aufzuklären.

Die Ausführungen, mit denen die Beklagte sich gegen die Auffassung des LSG wendet, das Unterbleiben der Obduktion bzw der rechtzeitigen Exhumierung und Untersuchung des Leichnams des Versicherten sei auf eine schuldhafte Vernachlässigung ihrer Ermittlungspflicht (§ 20 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuches ≪SGB X≫) zurückzuführen, sind unbegründet. Sie hat nach den Feststellungen des LSG bereits im Oktober 1988 und später noch einmal im Dezember 1988 erfahren, daß der Versicherte im September 1988 verstorben war, ohne unverzüglich Ermittlungen hinsichtlich des medizinischen Sachverhalts anzustellen. Der Beklagten oblag es im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht auch festzustellen, ob Rechtsnachfolger iS des § 56 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) und Hinterbliebene iS des § 589 RVO vorhanden waren. Schon deshalb ist der Hinweis der Revision unbeachtlich, der Beklagten seien Angehörige des Versicherten nicht bekannt gewesen.

Vor allem übersieht die Beklagte, daß der Vorwurf des LSG, ihre Pflicht zur Amtsermittlung dahingehend, ob beim Versicherten eine Asbeststaublungenerkrankung bzw eine durch Asbeststaub verursachte Erkrankung des Zwerchfelles vorlag, verletzt zu haben, sich auch auf den Zeitraum vor dem Tode des Versicherten bezieht. Nach den Feststellungen des LSG war der Beklagten bereits seit dem 4. Mai 1988 durch die Anzeige des Allgemeinen Krankenhauses B. bekannt, daß beim Versicherten der Verdacht des Vorliegens einer BK der Nr 4104 der Anlage 1 zur BKVO bestand, ohne daß von ihr - vor allem in Hinblick auf den ihr bekannten Gesundheitszustand des Versicherten - unverzüglich die erforderlichen medizinischen Untersuchungen und Begutachtungen veranlaßt wurden. Hinzu kommt, daß im Falle rechtzeitiger Ermittlungen der Klägerin ggf für das Feststellungsverfahren über ihre Hinterbliebenenansprüche die Rechtsvermutung des § 589 Abs 2 Satz 2 RVO zugute gekommen wäre. Auch diese mögliche Rechtsvermutung der Klägerin wurde durch das Verhalten der Beklagten vereitelt.

Dagegen sind nach der Auffassung des erkennenden Senats die Rügen der Revision berechtigt, mit denen sie sich gegen die Schlußfolgerungen wendet, die das LSG aus dem von der Beklagten verschuldeten Beweisnotstand der Klägerin gezogen hat. Das LSG geht entsprechend der Rechtsprechung des BSG (BSGE 24, 25; 41, 297, 300; BSG SozR Nr 60 zu § 128 SGG) und der Literatur (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 103 RdNrn 18, 19; § 128 RdNr 18; Bley in Gesamt-Komm, § 128 SGG Anm 4a ff; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, III, RdNrn 29, 159) von dem Grundsatz aus, daß bei einem Beweisnotstand, auch wenn er auf einer fehlerhaften Beweiserhebung oder sogar auf einer Beweisvereitelung durch denjenigen beruht, dem die Unerweislichkeit der Tatsachen zum prozessualen Vorteil gereicht, keine Umkehr der Beweislast eintritt. Vielmehr sind die Tatsachengerichte in einem derartigen Fall berechtigt, im Rahmen der vielfältigen Möglichkeiten der Beweiswürdigung (s ua Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht, 1996, S 152 ff) an den Beweis der Tatsachen, auf die sich der Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen zu stellen (BSGE 24, 25). An dieser, auch vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) geteilten Rechtsauffassung (BVerwGE 10, 270) hält der Senat trotz der beachtlichen abweichenden Ausführungen von Keller (SGb 1995, 474) fest. Auch Keller geht zutreffend und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) davon aus, einem Beweisnotstand jedenfalls zunächst einmal im Rahmen der Beweiswürdigung Rechnung zu tragen. Die Fälle, in denen nach der Rechtsprechung des BGH eine Beweislastumkehr zu prüfen ist (vgl Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, Band 1, 2. Aufl 1991, § 823 II RdNr 51, § 823 Anhang C II RdNrn 33, 64 und Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 267 ff, 297), unterscheiden sich wesentlich von denen, die dem vorliegenden Fall entsprechen (s auch Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 266, RdNr 453). Insbesondere kommt es weder im Rahmen der Amtsermittlungspflicht der Sozialleistungsträger (s BVerwGE 10, 270, 272) noch grundsätzlich für die geltend gemachten materiell-rechtlichen Ansprüche der Versicherten darauf an, ob einem der Beteiligten - oder in der gesetzlichen Unfallversicherung dem Arbeitgeber - ein Verschulden trifft (vgl Baumgärtel aaO § 823 Anhang C II RdNr 33; s auch BGH NJW 1985, 1774, 1775 und 1992, 754, 755). Eine gegenüber der Berücksichtigung des Beweisnotstandes im Rahmen der Beweiswürdigung sichere Handhabung bietet auch eine Beweislastumkehr nicht, deren Eintritt ebenfalls nicht generell bei fehlerhafter Beweiserhebung oder Beweisvereitelung, sondern in diesen Fällen je nach den Umständen des Einzelfalls flexibel gestaltet sein (Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 266 RdNr 453) und als letzte der sich an die Beweiswürdigung anschließenden Maßnahmen eintreten soll (s auch BGHZ 72, 132, 139; Baumgärtel Handbuch aaO § 823 II RdNr 51, § 823 Anhang C II RdNr 64 und Beweislastpraxis im Privatrecht aaO S 297 RdNr 508).

Die ständige Rechtsprechung des BSG, die sich im Ergebnis nicht zwangsläufig von denen der Gegenmeinung und der Rechtsprechung des BGH unterscheiden muß, vermag auch bei Beweisnotstand den in diesem Zusammenhang vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) betonten Grundsätzen - insbesondere des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit - wirksam zu beachten (s BVerfGE 52, 131, 153, 158; 54, 148, 157; s auch BGHZ aaO; BVerfG DVBl 1991, 154; Reinhardt NJW 1994, 93). Es bleibt dem Tatsachengericht im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung überlassen, je nach den Besonderheiten des maßgebenden Einzelfalls schon einzelne Beweisanzeichen, im Extremfall ein Indiz ausreichen zu lassen für die Feststellung einer Tatsache oder der daraus abgeleiteten Bejahung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Hätte das LSG im Hinblick auf den Beweisnotstand der Klägerin aufgrund der gesamten Umstände des vorliegenden Falles die Voraussetzungen der BK Nr 4104 und die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs zwischen dieser BK und dem Tod des Versicherten bejaht, so wäre dies revisionsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden gewesen.

Die demgegenüber vom LSG aus den angeführten Grundsätzen gezogene rechtliche Schlußfolgerung, daß schon die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Asbestose beim Versicherten ausreiche, ist unzutreffend (s auch BGH NJW 1990, 1721). Denn die Befugnis der Tatsachengerichte, im Falle eines unverschuldeten Beweisnotstands angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalles an den Beweis weniger hohe Anforderungen zu stellen, basiert auf dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Dieser Grundsatz bezieht sich nur auf die zu würdigenden Tatsachen; er schließt nicht die Befugnis ein, das Beweismaß zu verringern oder frei darüber zu entscheiden, ob die Gewißheit erforderlich oder die Wahrscheinlichkeit ausreicht oder sogar die Möglichkeit genügt, damit eine Tatsache als festgestellt oder der Kausalzusammenhang als gegeben angesehen werden kann. Die zugrunde zu legenden Beweismaßstäbe sind anders als die Beweiswürdigung im engeren Sinn revisionsgerichtlich nachprüfbar (vgl Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Aufl 1994, § 108 VwGO RdNr 5).

Das LSG ist aufgrund seiner Rechtsauffassung von einem anderen Beweismaßstab bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs ausgegangen und hat darauf seine Beweiswürdigung ausgerichtet. Dem Revisionsgericht ist eine eigene Würdigung der Beweise verwehrt. Deshalb mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

SozR 3-1500 § 128, Nr.11

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