Leitsatz (amtlich)

Haben der Unfall oder die Berufskrankheit zunächst keine unfallrentenrechtlich relevante Minderung der Erwerbsfähigkeit zur Folge, tritt jedoch später unabhängig von ihnen völlige Erwerbsunfähigkeit ein, so besteht, wenn sich danach die Folgen des Unfalls oder die Berufskrankheit derart verschlimmern, daß sie an sich - dh ohne die von dem Unfall oder der Berufskrankheit unabhängige völlige Erwerbsunfähigkeit - geeignet wären, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in unfallrentenrechtlich relevantem Maße zu verursachen, kein Anspruch auf die Verletztenrente.

 

Normenkette

RVO § 581 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 27. Januar 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger eine Verletztenrente wegen einer Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) zusteht.

Der im Jahre 1907 geborene Kläger, der von der Bundesknappschaft seit dem 1. März 1956 die in die Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit umgestellte Knappschaftsvollrente bezieht, war von 1923 bis 1956 im saarländischen Steinkohlenbergbau unter Tage tätig. Erstmalig im Jahre 1952 sind bei ihm silikotische Lungenveränderungen festgestellt worden, die zunächst als beginnend und später als solche ersten Grades bezeichnet worden sind. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 10. September 1969 einen Antrag des Klägers auf Gewährung einer Verletztenrente ab, weil nach dem eingeholten Gutachten des Dr. F vom 10. Juli 1969 und der gutachtlichen Äußerung des Staatlichen Gewerbearztes vom 25. August 1969 die beim Kläger bestehenden silikotischen Lungenveränderungen ersten Grades nicht leistungsmindernd Atmung oder Kreislauf beeinträchtigten.

Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 10. November 1970 abgewiesen, nachdem es ein Gutachten des Dr. G vom 12. Juni 1970 und eine ergänzende Äußerung dieses Arztes vom 29. Oktober 1970 eingeholt hatte. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 27. Januar 1971 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die bei dem Kläger von der Silikose unabhängig bestehenden Gesundheitsstörungen - Arteriosklerose mit Zustand nach zweimaligem Schlaganfall, Diabetes, coronare und periphere Durchblutungsstörungen, degenerative Wirbelsäulenveränderungen - hätten bereits zur völligen Erwerbsunfähigkeit geführt, bevor der Kläger durch die Silikose in einer Weise geschädigt worden sei, die ohne das Vorliegen anderer Leiden rentenversicherungsrechtlich relevant wäre. Das ergebe sich insbesondere aus dem Gutachten des Dr. G, der den 5. Juni 1970 als den für die Silikose maßgebenden Versicherungsfall bezeichnet habe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) könne eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht mehr als durch eine Berufskrankheit bewirkt angesehen werden, wenn der Verletzte schon vor Beginn der Berufskrankheit völlig erwerbsunfähig gewesen sei.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er trägt vor, die völlige Erwerbsunfähigkeit sei nicht unabhängig von der Silikose eingetreten, sondern mindestens teilweise dadurch bedingt gewesen. Die bereits vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit bestehende Silikose ersten Grades habe Krankheitswert gehabt. Von medizinischen Wissenschaftlern werde die Silikose und ihre Auswirkung auf andere Gesundheitsstörungen sehr unterschiedlich bewertet. Wenn es aber medizinisch so schwer sei, eine Abgrenzung zwischen silikosebedingten Störungen und schicksalsmäßigen Erkrankungen zu treffen, wie es sich aus dem in einem anderen Verfahren erstatteten Gutachten des Dr. Sch vom 31. August 1970 ergebe, so könne man nicht einfach behaupten, die völlige Erwerbsunfähigkeit sei silikoseunabhängig. Die im Jahre 1960 eingetretenen beiden Schlaganfälle hätten zwar zu vorübergehenden linksseitigen Lähmungserscheinungen geführt. Wenn jedoch die Lähmungserscheinungen nur vorübergehend vorhanden gewesen seien, dann sei auch die völlige Erwerbsunfähigkeit nur vorübergehender Natur gewesen, wobei man auch die Frage diskutieren könne, ob nicht auch die Arteriosklerose, die zu diesem Schlaganfall geführt habe, zum Teil durch die Silikose bedingt und mitverursacht gewesen sei. Jedenfalls müsse angenommen werden, daß die Silikose, die bereits im Jahre 1960 den ersten bis zweiten Grad erreicht gehabt habe, und mit einem Emphysem verbunden gewesen sei, zur völligen Erwerbsunfähigkeit beigetragen habe.

Der Kläger beantragt,

die Entscheidung des Landessozialgerichts Saarbrücken vom 27. Januar 1971 und die Entscheidung des Sozialgerichts Saarbrücken vom 10. November 1970 aufzuheben und die Revisionsbeklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 10. September 1969 zu verurteilen, dem Revisionskläger eine Entschädigung wegen Vorliegens einer Berufskrankheit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.

II

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet, denn das LSG hat die Berufung des Klägers gegen das die Klage abweisende Urteil des SG mit Recht zurückgewiesen.

Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine Verletztenrente wegen einer Quarzstaublungenerkrankung.

Der Senat hat - nach Wegfall des § 561 Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. - in nunmehr ständiger Rechtsprechung aus § 581 Abs. 1 RVO geschlossen, daß ein Anspruch auf die Verletztenrente nicht besteht, wenn der Versicherte durch ein von dem Unfall oder der Berufskrankheit unabhängiges Leiden bereits zu einer Zeit völlig erwerbsunfähig geworden ist, als der Unfall oder die Berufskrankheit sich noch nicht in unfallrentenrechtlich relevantem Maße auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten ausgewirkt haben (vgl. SozR Nr. 6 zu § 581 RVO; Urteile vom 24. Juni 1971 - 5 RKnU 7/69 -, 27. Mai 1972 - 5 RKnU 2/70 - und 15. Dezember 1972 - 5 RKnU 3/71 -). Der Senat hält auch nach erneuter Überprüfung an dieser Rechtsprechung fest, der sich der Kläger in seinem Revisionsvorbringen im übrigen auch angeschlossen hat. Diesen Entscheidungen liegt der Gedanke zugrunde, daß eine MdE nicht Folge eines Unfalls oder einer Berufskrankheit sein kann, wenn bereits vorher eine zu mindernde Erwerbsfähigkeit nicht mehr vorhanden war. Das gilt zunächst für den - früher in § 561 RVO a. F. ausdrücklich geregelten - Fall, daß der Unfall oder der Beginn der Berufskrankheit zeitlich nach dem Eintritt der von ihnen unabhängigen völligen Erwerbsunfähigkeit liegen. Jedoch bleibt der Grundgedanke der zitierten Entscheidungen nicht auf diesen Fall beschränkt. Haben der Unfall oder die Berufskrankheit zunächst keine unfallrentenrechtlich relevante MdE zur Folge und tritt später unabhängig von ihnen völlige Erwerbsunfähigkeit ein, so besteht ein Anspruch auf die Verletztenrente auch dann nicht, wenn sich danach die Folgen des Unfalls oder die Berufskrankheit derart verschlimmern, daß sie an sich - d. h. ohne die von dem Unfall oder der Berufskrankheit unabhängige völlige Erwerbsunfähigkeit - geeignet wären, eine MdE in unfallrentenrechtlich relevantem Maße zu verursachen. Auch in diesem Fall ist der Wegfall der Erwerbsfähigkeit nicht auf den Unfall oder die Berufskrankheit, sondern ausschließlich auf die davon unabhängigen Gesundheitsstörungen zurückzuführen. Der Unfall oder die Berufskrankheit können auch in diesem Fall die nicht mehr vorhandene Erwerbsfähigkeit nicht noch weiter mindern. Voraussetzung für den Anspruch auf die Verletztenrente ist aber eine "durch" den Unfall oder die Berufskrankheit wesentlich verursachte MdE. Die bloße Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit wird nach dem geltenden Unfallrecht durch die Verletztenrente nicht entschädigt, sondern lediglich die Einbuße der Erwerbsfähigkeit in einem bestimmten Mindestmaß. Es mag sozialpolitisch wünschenswert erscheinen, solchen Versicherten einen Ausgleich des immateriellen Schadens zu gewähren, die durch den Unfall oder die Berufskrankheit zwar nicht in ihrer Erwerbsfähigkeit, wohl aber in ihrem körperlichen Wohlbefinden nicht unerheblich beeinträchtigt sind. Das geltende Recht der Unfallversicherung kennt jedoch den Ersatz eines immateriellen Schadens nicht. Es obliegt allein der Entscheidung des Gesetzgebers, ob für derartige Fälle die Möglichkeit eines Ausgleichs des immateriellen Schadens geschaffen werden soll.

Auch die Rechtsprechung des erkennenden und des 7. Senats zu § 589 RVO (vgl. SozR Nrn. 8 und 10 zu § 589 RVO) gibt keine Veranlassung, die Rechtsprechung des Senats zu § 581 RVO in Zweifel zu ziehen. Im Gegensatz zur Verletztenrente nach § 581 RVO ist es bei der Hinterbliebenenrente nach § 589 RVO nicht erforderlich, daß der Unfall oder die Berufskrankheit wesentlich zu einer bestimmten MdE geführt haben. Es genügt vielmehr, daß der Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit wesentliche Ursachen des Todes sind.

Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG ist die völlige Erwerbsunfähigkeit beim Kläger durch silikosenunabhängige Gesundheitsstörungen bereits zu einem Zeitpunkt eingetreten, als die Silikose sich noch nicht in feststellbarem und unfallrentenrechtlich relevantem Maße auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers ausgewirkt hatte. Der Kläger hat zwar vorgetragen, die Silikose habe bereits vor Eintritt der völligen Erwerbsunfähigkeit auf die anderen Gesundheitsstörungen eingewirkt und damit zur völligen Erwerbsunfähigkeit beigetragen. Damit greift der Kläger die Tatsachenfeststellungen des LSG an, ohne den Angriff aber in der Form des § 164 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorzutragen. Der Kläger hat insbesondere nicht dargetan, welchen verfahrensrechtlichen Grundsatz das LSG verletzt haben soll. Im übrigen sind aber auch die Tatsachenfeststellungen des LSG nicht verfahrensfehlerhaft zustandegekommen. Angesichts des vorliegenden Beweismaterials brauchte das LSG sich nicht gedrängt zu fühlen, weitere Beweise zu erheben. Das LSG hat sich bei der Würdigung der vorliegenden Gutachten auch in den Grenzen der ihm obliegenden freien richterlichen Beweiswürdigung gehalten.

Auch wenn die Lähmung der linken Körperhälfte als Folge eines Schlaganfalls nur vorübergehender Natur gewesen sein sollte, so brauchte das dem LSG nicht Veranlassung zu geben, entgegen dem Gutachten des Dr. G anzunehmen, daß damit auch die völlige Erwerbsunfähigkeit des Klägers infolge der silikoseunabhängigen Leiden überhaupt nur vorübergehender Natur gewesen sei. Dem Kläger ist zwar darin zuzustimmen, daß eine Abgrenzung zwischen silikosebedingten Gesundheitsstörungen und silikoseunabhängigen Erkrankungen oft medizinisch schwierig ist. Wenn aber ein Sachverständiger - wie im vorliegenden Fall Dr. G - zu dem klaren Ergebnis kommt, daß die völlige Erwerbsunfähigkeit des Klägers von der Silikose unabhängig sei, so besteht für das Berufungsgericht jedenfalls dann kein zwingender Grund, daran zu zweifeln, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für einen Zusammenhang dieser Leiden mit der Silikose bestehen. Es besteht nach den von dem Gutachten des Dr. G gedeckten Tatsachenfeststellungen des LSG also auch kein Anhaltspunkt für die Annahme, daß die silikoseunabhängig eingetretene völlige Erwerbsunfähigkeit nur deshalb weiter bestanden hätte, weil die Silikose und ihre Folgen an die Stelle gebesserter silikoseunabhängiger Gesundheitsstörungen getreten und damit wesentlich an der völligen Erwerbsunfähigkeit beteiligt wäre.

Der Senat hat die danach unbegründete Revision des Klägers zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 232

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