Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 12.05.1980)

SG Trier (Urteil vom 28.05.1979)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Mai 1980 geändert und das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 28. Mai 1979 sowie der Bescheid der Beklagten vom 28. Juni 1978 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Juni 1978 zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht (§ 1246 Reichsversicherungsordnung –RVO–).

Mit Ausnahme der Zeiten des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft war der 1922 geborene Kläger von 1937 bis August 1953 als Schlosserlehrling, Schlosser und Hilfsheizer versicherungspflichtig beschäftigt. Ab September 1953 war er bis zu seiner Pensionierung am 1. Oktober 1978 Lokomotivführer und Lokomotivbetriebsinspektor bei der Deutschen Bundesbahn im Beamtenverhältnis. Seinen Rentenantrag vom 22. Mai 1978 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Juni 1978 ab.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage des Klägers, mit der er Rente wegen Berufsunfähigkeit begehrt hatte, abgewiesen (Urteil vom 28. Mai 1979). Auch in der Berufungsinstanz, in der der Kläger in erster Linie beantragt hatte, die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu verurteilen, hatte er keinen Erfolg (Urteil vom 12. Mai 1980). Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe den Beruf des Schlossers ordnungsgemäß erlernt und bis zum Eintritt in das Beamtenverhältnis ausgeübt. Er genieße daher den Berufsschutz eines Facharbeiters. Als Schlosser könne er nicht mehr eingesetzt werden. Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit habe er jedoch nicht. Zur Ermittlung einer zumutbaren Verweisungstätigkeit halte der erkennende Senat des LSG die vom Bundessozialgericht (BSG) empfohlene Nachforschung in Tarifverträgen nach artverwandten Tätigkeiten für aussichtslos angesichts der glaubhaften Behauptung des Klägers, für solche Arbeiten brauche er, sofern er sie überhaupt nach seinem Leistungsvermögen noch verrichten könne, mangels hinreichender beruflicher Kenntnisse und Fähigkeiten eine mehr als dreimonatige Einarbeitungszeit. Der Kläger müsse sich jedoch verweisen lassen auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst, die vergütet würden nach Gruppe X der Anlage 1a zum Bundesangestelltentarif (BAG) oder nach § 7 Lohngruppe I Nr. 2 und II des für Rheinland-Pfalz abgeschlossenen Bezirkstarifvertrages zum Bundesmantelfarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II). Für den Kläger in Betracht kämen Hilfeleistungen bei der Postabfertigung, gelegentlicher Pförtnerdienst, Vervielfältigen von Schriftstücken auf mechanischem Weg, Einordnen von Karteiblättern, Ausschneiden und Aufkleben von Zeitungsnachrichten nach Anweisung und Herkunftsbezeichnung dieser Ausschnitte sowie das Suchen von Aktenstücken. Es handele sich um Tätigkeiten einfacher, aber nicht einfachster Art, die ohne einschlägige Vorkenntnisse nach weniger als dreimonatiger Einweisung und Einarbeitung verrichtet werden könnten. Ihr soziales Ansehen werde mitbestimmt durch die Sicherheit des Arbeitsplatzes, den Charakter dieser Stellen sowie die Möglichkeit einer Höhergruppierung nach Zeitablauf und Bewährung. Die intellektuellen Fähigkeiten des Klägers, seine psychische Verfassung und sein Gesundheitszustand im übrigen reichten aus, die genannten Verweisungstätigkeiten zu verrichten. Nicht mehr zuzumuten seien ihm Arbeiten unter Zeitdruck und ständiger nervlicher Anspannung, ferner Arbeiten, die körperliche Zwangshaltung erforderten, bei denen er Einwirkungen von Staub, Rauch oder Dämpfen ausgesetzt sei sowie solche, die im Freien oder an unfallgefährdeten Arbeitsplätzen verrichtet würden. Diese Leistungseinschränkungen seien für die Tätigkeiten im öffentlichen Dienst, auf die der Kläger verwiesen werden könne, ohne Bedeutung. Als unübliche Bedingung sei es auch nicht zu werten, daß dem Kläger Arbeitsunterbrechungen von wenigen Minuten zur Einnahme von Diätmahlzeiten oder Medikamenten möglich sein müßten.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 1246 Abs. 2 RVO. Seine Verweisung auf die vom LSG genannten Tätigkeiten hält er unter Berücksichtigung des ihm verbliebenen Leistungsvermögen im Erwerbsleben sowie seiner bisherigen Berufstätigkeit für unzulässig. Die angeführten Verweisungstätigkeiten höben sich nicht aus dem Kreis der einfachen ungelernten Arbeiten durch besondere Anforderungen deutlich hervor und seien nicht wegen ihrer Qualität tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe eingestuft. Außerdem weiche die angefochtene Entscheidung von den Urteilen des BSG vom 22. September 1977 und 28. Juni 1979 (BSGE 44, 288 und BSG in SozR 2200 § 1246 Nr. 45) ab. Die vom LSG festgestellte Einschränkung der Erwerbsfähigkeit lasse es nicht zu, die genannten Verweisungstätigkeiten in vollen Schichten zu verrichten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 12. Mai 1980 und das Urteil des SG Trier vom 28. Mai 1979 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. Juni 1978 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit ab Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, bei der Prüfung der Verweisbarkeit des Klägers habe sie unter Berücksichtigung seines Leistungsvermögens zunächst in dem für seinen bisherigen Beruf maßgebenden Lohntarifvertrag für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn nachgeforscht. Danach kämen folgende Verweisungsmöglichkeiten in Betracht; Revisor, Maß- und Qualitätsprüfer, Arbeitsprüfer, Ultraschallprüfer in Bahnbetriebswerken und Bundesbahnausbesserungswerken, Punktionskontrolleur, Wasserprüfer und Werkstattschreiber. Bei diesen Tätigkeiten handele es sich überwiegend um Arbeiten, die dem Kläger aufgrund der ärztlichen Feststellungen in vollen Schichten zuzumuten seien. Sie seien aufgrund der tariflichen Einstufungen in die Lohngruppen IV bis VI des Lohntarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn dem Leitberuf „angelernter Arbeiter” zuzuordnen. Im übrigen hält die Beklagte auch die Verweisung des LSG im angefochtenen Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG–).

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Er hat Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO ab 1. Juni 1978. Die erforderliche Wartezeit des Abs. 3 dieser Vorschrift hat er erfüllt.

Nach den unangegriffenen und für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG gehört die „bisherige Berufstätigkeit” des Klägers im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO zur Gruppe der Facharbeiter. Als solcher aber kann er bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht auf die im Berufungsurteil genannten einfachen Arbeiten im öffentlichen Dienst zumutbar verwiesen werden (vgl. Urteil des Senats vom 28. November 1980 – 5 RJ 50/80 – mwN). In der zitierten Entscheidung hat der Senat ua dargelegt, daß entgegen der Ansicht des LSG sich die Zumutbarkeit einer tariflich erfaßten Verweisungstätigkeit grundsätzlich nach der qualitativen Bedeutung und Wertbestimmung richtet, wie sie sich aus der tariflichen Einordnung ergibt. Diese darf nicht ohne weiteres durch „andere Qualitätsmerkmale” ersetzt werden.

Ein Facharbeiter kann nach ständiger Rechtsprechung des BSG im Rahmen des § 1246 Abs. 2 RVO außer auf andere Facharbeitertätigkeiten auf Tätigkeiten verwiesen werden, die zur Gruppe der „sonstigen Ausbildungsberufe” (Anlernberufe) gehören. Eine Verweisung auf ungelernte Arbeiten ist nur dann möglich, wenn diese infolge besonderer Qualitätsmerkmale wie angelernte Tätigkeiten eingestuft sind (vgl. BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 23 und 38 sowie Urteil vom 12. November 1980 – 1 RJ 104/79 – mwN). Die tarifliche Einstufung hat der Senat (SozB aaO Nr. 23) auch deshalb als wichtiges Indiz für die Beurteilung der Frage angesehen, ob es sich um eine gehobene ungelernte Tätigkeit mit einer entsprechenden betrieblichen Bedeutung handelt, um so die Gleichbehandlung vergleichbarer Versicherter zu erleichtern.

Wenn auch das LSG dieser Rechtsprechung des BSG nicht gefolgt ist, so hat es jedoch festgestellt, daß der Kläger Schlosserarbeiten nur noch weniger als in halben Schichten und „artverwandte” zumutbare Verweisungstätigkeiten nicht nach einer höchstens dreimonatigen Einarbeitungszeit verrichten kann. Diese Feststellungen des Berufungsgerichts sind für den Senat gemäß § 163 SGG bindend, denn sie sind von der Beklagten nicht mit zulässigen und begründeten Gegenrügen angegriffen worden. Der Senat mußte daher davon ausgehen, daß der Kläger weder seine „bisherige Berufstätigkeit” noch dieser artverwandte Tätigkeiten verrichten kann, die zur Gruppe der „sonstigen Ausbildungsberufe” gehören. Da der Kläger – so das LSG – „mangels hinreichender beruflicher Kenntnisse und Fähigkeiten” bereits für „artverwandte” Tätigkeiten eine mehr als dreimonatige Einarbeitungszeit benötigt, beinhaltet die Feststellung zugleich und um so mehr das Fehlen von berufs- und artfremden Verweisungstätigkeiten aus der Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe. Die von der Beklagten in der Revisionsinstanz angeführten Tätigkeiten sind nicht Gegenstand des angefochtenen Urteils. Zudem gehören sie – ausgehend von der „bisherigen Berufstätigkeit” des Klägers – zu den berufs- und artverwandten Arbeiten, die das LSG – von der Beklagten unangegriffen – ausgeschlossen bat.

Dem Rentenanspruch steht auch nicht eine Verweisung auf zumutbare ungelernte Tätigkeiten entgegen, die wegen ihrer Qualitätsmerkmale den „sonstigen Ausbildungsberufen” gleichgestellt sind. Das LSG hat aus dem Bereich der ungelernten Arbeiten nur die bereits erwähnten Tätigkeiten im öffentlichen Dienst in Erwägung gezogen, die aber nach der genannten Rechtsprechung des BSG unterhalb der Wertigkeit des „sonstigen Ausbildungsberufs” liegen. Damit ist der Sachverhalt hinreichend geklärt, denn auch der Senat vermag dem LSG keine zumutbaren Verweisungstätigkeiten zu benennen, die der Kläger bei seinen gesundheitlichen Verhältnissen sowie aufgrund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten nach einer Einarbeitung bis zu drei Monaten Dauer möglicherweise noch verrichten könnte.

In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, daß dem Kläger nach den Feststellungen des LSG Arbeitsunterbrechungen von wenigen Minuten Dauer zur Einnahme von Diätmahlzeiten oder Medikamenten möglich sein müssen. In seinen Entscheidungen vom 31. Juli 1975 und 26. Januar 1978 (5 RJ 203/73 und 5 RJ 106/77) hat der Senat dazu ausgeführt, auf zusätzliche, in § 12 Abs. 2 der Arbeitszeitordnung nicht vorgesehene Pausen bestehe kein Rechtsanspruch. Ein solcher Anspruch könne aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers allenfalls dann hergeleitet werden, wenn bereits ein Beschäftigungsverhältnis bestehe. Bewerbe sich der Arbeitnehmer um einen Arbeitsplatz, so könne der Arbeitgeber die Einräumung einer in der Arbeitszeitordnung nicht vorgesehenen zusätzlichen Ruhepause und damit die Einstellung des Bewerbers ablehnen.

Nach alledem steht dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Juni 1978 zu. Der Beginn dieser Rentenleistung entspricht dem in der Revisionsinstanz vom Kläger gestellten Antrag und folgt aus § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI925860

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