Leitsatz (amtlich)

Hat der Rentenversicherungsträger bei der Gewährung einer wiederaufgelebten Witwenrente (RVO § 1291 Abs 2) nicht geprüft, ob der von der Witwe anläßlich der Auflösung der zweiten Ehe erklärte Unterhaltsverzicht auf einem "verständigen" Grund beruht, so kann die vor der Entziehung der Witwenrente unterlassene Anhörung der Witwe nicht auf die Ausnahmevorschrift des SGB 1 § 34 Abs 2 Nr 5 gestützt werden.

 

Normenkette

SGB 1 § 34 Abs 1 Fassung: 1975-12-11; SGB 1 § 34 Abs 2 Nr 5 Fassung: 1975-12-11; SGB 10 § 24 Fassung: 1980-08-18; RVO § 1291 Abs 2 Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 08.03.1979; Aktenzeichen L 6 J 659/77)

SG Marburg (Entscheidung vom 08.06.1977; Aktenzeichen S 4 J 87/76)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten wiederaufgelebte Witwenrente nach § 1291 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die Klägerin war in erster Ehe mit dem im Krieg gefallenen Versicherten B. verheiratet. Ab 1959 erhielt sie Witwenrente. 1972 heiratete sie den Versicherten St. Aufgrund der Wiederheirat wurde ihr Witwenrentenanspruch nach ihrem ersten Ehemann abgefunden. Die zweite Ehe der Klägerin wurde Ende 1974 aus alleinigem Verschulden ihres Ehemannes geschieden. Im Rahmen des Scheidungsverfahrens verzichtete die Klägerin auf Unterhalt einschließlich des Notbedarfs. Das Scheidungsurteil wurde am 25. Februar 1975 rechtskräftig.

Mit Bescheid vom 6. Februar 1976 gewährte die Beklagte der Klägerin die wiederaufgelebte Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes mit Wirkung vom 1. März 1975. Hierbei ging die Beklagte davon aus, daß die Klägerin bereits nach dem Gesetz seit der Auflösung ihrer zweiten Ehe keinen Unterhaltsanspruch gehabt habe. Nachdem das eigene Einkommen der Klägerin aus eigener Tätigkeit, dann aus Arbeitslosengeld und schließlich aus Krankengeld weggefallen war, entzog die Beklagte durch Bescheid vom 16. August 1976 der Klägerin die Witwenrente. Zur Begründung führte sie an, daß aufgrund der Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse nunmehr ein monatlicher Unterhaltsanspruch anzurechnen sei, der die Höhe der wiederaufgelebten Witwenrente übersteige.

Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten aufgehoben, weil eine Änderung der Verhältnisse nicht eingetreten sei (Urteil vom 8. Juni 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 8. März 1979 die Berufung zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Nach § 34 Abs 1 des 1. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 1) sei vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in die Rechte eines Beteiligten eingreife, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach § 34 Abs 2 Nr 5 SGB 1 könne von der Anhörung abgesehen werden, wenn einkommensabhängige Leistungen den geänderten Verhältnissen angepaßt werden sollten. Im vorliegenden Fall sei der Anspruch der Klägerin auf wiederaufgelebte Witwenrente nicht von ihrem Einkommen abhängig gewesen, sondern von einem fiktiven Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem geschiedenen Ehemann. Die Klägerin sei daher vor Erlaß des Bescheides vom 16. August 1976 anzuhören gewesen. Da die Beklagte dies versäumt habe, sei der Bescheid bereits deshalb aufzuheben.

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 34 Abs 2 SGB 1. Sie ist der Auffassung, daß die Klägerin hier nicht anzuhören war.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil

des Sozialgerichts Marburg vom 8. Juni 1977

aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG den Bescheid der Beklagten, durch den sie die gemäß § 1291 Abs 2 RVO wiederaufgelebte Witwenrente der Klägerin entzogen hat, als rechtswidrig bezeichnet und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.

Nach § 34 Abs 1 SGB 1, der vom 1. Januar 1976 bis zum 31. Dezember 1980 galt (Art 2 § 23 SGB 1; Art 2 § 28 Nr 1, § 40 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - vom 1980-08-18, BGBl I S 1469 - SGB 10 -), ist vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in die Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. An dieser Rechtslage hat sich im Hinblick auf die seit 1. Januar 1981 geltende, gleichlautende Regelung in § 24 Abs 1 SGB 10 nichts geändert.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten greift insofern in die Rechte der Klägerin ein, als er die wiederaufgelebte Witwenrente entzieht. Die Klägerin ist vor Erteilung dieses Bescheides nicht gehört worden. Die Beklagte hat auch nicht vorher der Klägerin zu erkennen gegeben, daß sie aufgrund veränderter Verhältnisse eine Neufeststellung der wiederaufgelebten Witwenrente beabsichtige. Somit hatte die Klägerin keine Gelegenheit, sich zu den Tatsachen zu äußern, aus denen die Beklagte die Änderung der Verhältnisse ableitet.

Schon wegen dieses Verfahrensfehlers ist der angefochtene Bescheid gesetzwidrig. Er hätte allenfalls in einem Widerspruchsverfahren, also im Bereich der Verwaltung, geheilt werden können (Bundessozialgericht -BSG- in SozR 1200 § 34 Nr 1, 2 und 6). Auch aus § 42 des seit dem 1. Januar 1981 geltenden SGB 10 geht hervor, daß der Gesetzgeber zwar einen Verwaltungsakt nicht wegen bloßer Verfahrens- und Formfehler aufgehoben sehen will, daß er aber der Verletzung der Anhörungspflicht eine besondere Bedeutung beimißt. Ein Verwaltungsakt, der nicht nichtig ist, soll nicht deswegen aufgehoben werden, weil er unter Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist (Satz 1 der Vorschrift). Das gilt aber nicht, wenn die erforderliche Anhörung unterblieben oder nicht wirksam nachgeholt ist (Satz 2 aaO). Im gerichtlichen Verfahren kann dieser Mangel nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl SozR aaO) nicht mehr geheilt werden.

Von einer vorherigen Anhörung der Klägerin konnte auch nicht nach § 34 Abs 2 SGB 1 abgesehen werden. Insbesondere handelte es sich im vorliegenden Fall nicht um die Anpassung einer einkommensabhängigen Leistung an die geänderten Verhältnisse iS von § 34 Abs 2 Nr 5 SGB 1. Nach § 1291 Abs 2 RVO ist auf die wiederaufgelebte Witwenrente ein von der Witwe infolge der Auflösung der Ehe erworbener neuer Versorgungs- oder Unterhaltsanspruch anzurechnen, der zwar im Einzelfall "einkommensabhängig" sein kann. Hat eine wiederverheiratete Witwe bei der Scheidung ihrer zweiten Ehe auf Unterhalt verzichtet, so war nach der früheren Rechtsprechung des BSG (vgl SozR 2200 § 1291 Nr 8 mit weiteren Nachweisen) auf die wiederaufgelebte Witwenrente gleichwohl der "einkommensabhängige" Unterhaltsanspruch anzurechnen, der der Witwe ohne den Verzicht nach dem Ehegesetz (EheG) zugestanden hätte. Das gilt - im Hinblick auf den Wegfall der sog Verschuldensklausel durch die am 1. Januar 1973 in Kraft getretene Neufassung des § 1291 Abs 2 Satz 1 RVO durch das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 (BGBl I, 1965) - indes nicht in den Fällen, in denen die Voraussetzungen für die wiederaufgelebte Witwenrente nach dem 31. Dezember 1972 eingetreten sind und die Witwe auf die Unterhaltsleistungen aus objektiv verständigem Grund verzichtet hat (so übereinstimmend BSG-Urteile vom 1978-05-24 und 1979-11-15 in SozR 2200 § 1291 Nr 16 und Nr 19).

Im Rahmen der Prüfung, ob der Klägerin ohne den Verzicht gegen ihren geschiedenen Ehemann ein Unterhaltsanspruch zustehen würde, spielen zwar auch ihre Einkommensverhältnisse und die ihres geschiedenen Ehemannes eine Rolle (vgl § 58 EheG). Die hier von der Beklagten zu treffenden Feststellungen umfaßten jedoch erheblich mehr. Um entscheiden zu können, ob ein fiktiver Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen deren geschiedenen Ehemann anzurechnen ist, hätte die Beklagte ua feststellen müssen, ob die Klägerin verständige Gründe iS der genannten Entscheidungen des BSG hatte, auf ihren Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen Ehemann zu verzichten. Eine entsprechende Prüfung ist bei der Wiedergewährung der Witwenrente im vorliegenden Fall unterblieben. Vielmehr ist die Beklagte im Bescheid vom 6. Februar 1976 entgegen den in den genannten Entscheidungen des BSG vom 24. Mai 1978 und 15. November 1979 vertretenen Rechtsauffassungen davon ausgegangen, daß ein Unterhaltsverzicht grundsätzlich zur Anrechnung eines - fiktiven - Unterhaltsanspruchs auf die wiederaufgelebte Witwenrente führt. Der Klägerin muß deshalb nunmehr vor der beabsichtigten Rentenentziehung im Verwaltungsverfahren die Möglichkeit zur Darlegung gegeben werden, ob ein "verständiger Grund" für ihren Unterhaltsverzicht vorliegt. Insoweit ist die Beklagte - wie im Urteil des BSG vom 15. November 1979 aaO betont wird - verpflichtet, die Klägerin nach ihren Beweggründen für den Verzicht zu befragen. Vermag sie eine befriedigende und glaubhafte Erklärung für den abgegebenen Verzicht zu geben, so ist ihre Witwenrente keine einkommensabhängige Leistung iS des § 34 Abs 2 Nr 5 SGB 1. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß die Beklagte die unterlassene Anhörung der Klägerin auf diese Ausnahmevorschrift nicht stützen kann. Diese kann vielmehr nur dann zur Anwendung kommen, wenn die Entscheidung - anders als hier - allein von den Einkommensverhältnissen abhängt, die ihr im einzelnen bereits bekannt sind.

Im vorliegenden Falle ist es aber insbesondere unter Berücksichtigung des BSG-Urteils vom 15. November 1979 aaO naheliegend, daß die Klägerin in einem Anhörungsverfahren Tatsachen vorgetragen hätte, die der Beklagten Veranlassung hätten geben können, die wiederaufgelebte Witwenrente nicht zu entziehen. Unter diesen Umständen durfte die Beklagte auf eine Anhörung der Klägerin nicht verzichten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658592

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