Leitsatz (amtlich)

Das sogenannte Aufstockungsverbot steht einer nachträglichen Korrektur der Beitragsnachentrichtung nicht entgegen, wenn der Versicherte aufgrund eines den Herstellungsanspruch auslösenden fehlerhaften Verwaltungshandelns Beiträge zunächst in einer für ihn nachteiligen Weise nachentrichtet hatte.

 

Normenkette

AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; SGB 10 § 44 Fassung: 1980-08-18; SGB 1 § 16 Fassung: 1975-12-11; RVO § 1613

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.04.1984; Aktenzeichen L 11/An 172/83)

SG Landshut (Entscheidung vom 17.05.1983; Aktenzeichen S 5/An 41/82)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin berechtigt ist, nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) für die Zeit vom 1. Juli 1956 bis zum 30. April 1973 Beiträge in den Höchstklassen nachzuentrichten, obwohl sie für diesen Zeitraum bereits Beiträge der Klasse 100 nachentrichtet hat.

Die am 3. Juli 1912 geborene Klägerin bezog ab 1. Mai 1973 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die seit dem 1. August 1977 in Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres umgewandelt ist. Am 27. April 1973 (drei Tage nach ihrem Antrag auf Rente) beantragte sie vor dem Versicherungsamt der Stadt St. die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nach Art 2 § 49a AnVNG für insgesamt 201 Monate von 1956 bis 1973 in der Klasse 100 im Gesamtbetrag von 3.618,-- DM. Dieser Betrag ging am 30. April 1973 bei der Beklagten ein und wurde auf dem Konto der Klägerin verbucht. Im Januar 1974 bat die Klägerin zugleich mit einer Klage gegen den die Erwerbsunfähigkeitsrente bewilligenden Bescheid vom 7. Januar 1974, für die Zeit vom 1. Juli 1956 bis 30. April 1973 unter Berücksichtigung der bereits gezahlten Beiträge und einer Rentennachzahlung von 3.452,- DM höhere Beiträge im Gesamtbetrag von 43.200,-- DM anzurechnen. Den Differenzbetrag von 36.130,-- DM überwies sie auf das Konto der Beklagten. Mit Bescheid vom 16. Juli 1974 und Widerspruchsbescheid vom 2. September 1975 lehnte die Beklagte eine "nachträgliche Aufstockung der nachentrichteten Beiträge" ab und zahlte den Betrag von 36.130,-- DM zurück. Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts -SG- Landshut vom 8. Juni 1976; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts -LSG- vom 4. Juli 1978). Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wurde vom Senat aus formellen Gründen als unzulässig verworfen (Beschluß vom 29. November 1978 - 12 BK 38/78 -).

Mit ihrer gegen den (auf den Widerspruch gegen den Umwandlungsbescheid vom 9. August 1977 ergangenen) Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 27. Februar 1979 erhobenen Klage begehrte die Klägerin erneut die Nachentrichtung der angebotenen höheren Beiträge. Das SG Landshut wies diese Klage als unzulässig ab, weil über die Nachentrichtung bereits rechtskräftig entschieden sei (Urteil vom 18. März 1980). Im nachfolgenden Berufungsverfahren beantragte die Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 14. August 1981 unter Hinweis auf das Urteil des Senats vom 27. März 1980 - 12 RK 7/79 -, die Beklagte möge im Wege des § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) über die begehrte Aufstockung der Nachentrichtung entscheiden. Mit Bescheid vom 15. Dezember 1981 lehnte die Beklagte eine Berechtigung zur Aufstockung mit der Begründung ab, es hätten sich keine Anhaltspunkte ergeben, die den ursprünglichen Bescheid als rechtswidrig erscheinen lassen könnten. Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. April 1982; Urteil des SG Landshut vom 17. Mai 1983). Das Bayerische LSG hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 15. Dezember 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. April 1982 verurteilt, der Klägerin zu gestatten, für die Zeit zwischen dem 1. Juli 1956 und dem 30. April 1973 freiwillige Beiträge im Rahmen des Art 2 § 49a AnVNG bis zur Höchstgrenze unter Anrechnung bereits entrichteter Beiträge nachzuentrichten, und diese bei der Berechnung des Altersruhegeldes zu berücksichtigen. Das LSG hat den Bediensteten des Versicherungsamtes St., C., der seinerzeit bei der Antragstellung am 27. April 1973 mitgewirkt hatte, als Zeugen vernommen. Es ist zu dem Ergebnis gekommen, daß der Zeuge die Klägerin damals mangelhaft beraten habe und dies ursächlich dafür gewesen sei, daß die Klägerin einen für ihre Alterssicherung ungünstigen Nachentrichtungsantrag gestellt habe. Für dieses Fehlverhalten habe die Beklagte im Rahmen des Herstellungsanspruchs einzustehen. Da dieser Anspruch allein darauf gerichtet sei, einen Rechtszustand herzustellen, der bei ordnungsgemäßem, an der Verwirklichung des Gesetzes orientierten Verwaltungshandeln bestehen würde, er demnach lediglich ein Instrument zur Erreichung und Sicherung des Gesetzeszwecks sei, komme der Verlagerung von Teilen eines Verwaltungsverfahrens auf eine andere Behörde keine entscheidende Bedeutung zu.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt die Beklagte die Auffassung, daß sie für ein etwaiges Fehlverhalten des Versicherungsamtes St. nicht einzustehen habe. Die Ortsbehörden seien den Versicherungsträgern weder ein- bzw angegliedert gewesen noch hätten sie in deren Auftrag oder nach ihren Weisungen gehandelt. Die seinerzeit nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder dem Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) wahrzunehmenden Aufgaben hätten sie in eigener Zuständigkeit ausgeübt. Das Einstehenmüssen einer Behörde für das Verhalten einer anderen Behörde werde beim Herstellungsanspruch nur für den Fall bejaht, daß beide Behörden ein und demselben Träger öffentlicher Verwaltung angehörten. Die Klägerin könne mit dem Herstellungsanspruch aber selbst dann nicht durchdringen, wenn die Beklagte für ein Verschulden des Versicherungsamtes einzutreten hätte. Die Realisierung des Herstellungsanspruchs müsse sich im Rahmen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Problem der nachträglichen Aufstockung, Aufspaltung, Zusammenlegung oder Verschiebung bereits entrichteter Beiträge halten. Danach sei aber eine Aufstockung der Nachentrichtungssumme durch Entrichtung von Beiträgen in einer höheren Klasse grundsätzlich nicht mehr zulässig, wenn der Versicherte von seinem Recht auf Beitragsnachentrichtung bereits Gebrauch gemacht habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie macht geltend, die Bindung zwischen Versicherungsträgern und Versicherungsämtern sei zumindest ebenso eng wie zwischen Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern. Unter Fortführung der jüngeren Rechtsprechung des BSG habe der Rentenversicherungsträger für Fehler des Versicherungsamts einzutreten. Die Frage der Zulässigkeit der Aufstockung von Beiträgen stelle sich nicht. Streitig sei nicht die Aufstockung wirksam entrichteter Beiträge. Die Klägerin sei vielmehr im Rahmen des Herstellungsanspruchs so zu stellen, "als ob von vornherein keine Pannen bei der Beratung passiert wären".

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das LSG hat zutreffend einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch der Klägerin bejaht, der darauf gerichtet ist, anstelle der im April 1973 nachentrichteten Beiträge der Klasse 100 für den Zeitraum vom 1. Juli 1956 bis 30. April 1973 Beiträge in den Höchstklassen nachzuentrichten. Dabei ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, daß die Beklagte im Rahmen eines Herstellungsanspruchs nicht nur für das Fehlverhalten ihrer eigenen Bediensteten, sondern auch für Fehler des in das Verwaltungsverfahren eingeschalteten Versicherungsamtes einzustehen hat.

Daß sich - wie die Beklagte meint - das Einstehenmüssen einer Behörde für Fehler einer anderen Behörde auf die Fälle beschränkt, in denen die beiden Behörden demselben Träger öffentlicher Verwaltung angehören, entspricht nicht der neueren Rechtsprechung des BSG. Ein Herstellungsanspruch gegen die zur Entscheidung hierüber berufene Behörde kann auch gegeben sein, wenn die zu Nachteilen für den Versicherten führende Handlung oder Unterlassung einer anderen Behörde zuzurechnen ist (Urteil des erkennenden Senats vom 17. Dezember 1980 - 12 RK 34/80 - BSGE 51, 89 = SozR 2200 § 381 Nr 44). Im Anschluß an dieses Urteil hat der 11. Senat des BSG entschieden, daß ein Herstellungsanspruch gegen den Versicherungsträger auch in Betracht kommt, wenn ein in den Verwaltungsablauf eingeschaltetes Ordnungsamt einer Stadt Pflichten gegenüber dem Versicherten verletzt hat (Urteil vom 13. Dezember 1984 - 11 RA 68/83 - BSGE 57, 288 = SozR 1200 § 14 Nr 18). Das Versicherungsamt St. ist eine Behörde, die - was unter den Beteiligten nicht im Streit steht - zur Entgegennahme des Nachentrichtungsantrages der Klägerin zuständig und dabei durch Auskunft und Beratung in das Verwaltungsverfahren eingeschaltet war und somit Aufgaben der Angestelltenversicherung wahrnahm. Zwar bezog sich die die Aufgaben der Versicherungsämter regelnde Vorschrift des 1973 noch geltenden § 1613 RVO aF (hier iVm § 204 AVG) nach dem Wortlaut nur auf Leistungsanträge. Wie jedoch der 8. Senat des BSG zu der Nachfolgevorschrift des § 16 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1) entschieden hat, ist diese - im Wege der Lückenfüllung - entsprechend auch auf andere Anträge anzuwenden, die für die Stellung als Versicherter Bedeutung haben (BSG SozR 1200 § 16 Nr 8, S 11 ff, dort entschieden für eine gegenüber einer Gemeinde erfolgte Beitrittserklärung zur gesetzlichen Krankenversicherung). Im Anschluß hieran hat der erkennende Senat im Urteil vom 15. Dezember 1983 - 12 RK 37/82 - (DRV 1984, 337) ausgeführt, daß diese Auslegung des § 16 SGB 1 (§ 1613 RVO aF) auch der Praxis der Rentenversicherungsträger bei der Anwendung von Art 2 § 49a AnVNG und Art 2 § 51a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) entspreche und daher gleichermaßen für Nachentrichtungsanträge gelte. Da es auch schon vor Inkrafttreten des SGB 1 (1. Januar 1976) üblich war, Nachentrichtungsanträge auch bei den Versicherungsämtern zu stellen, sieht der Senat keine Veranlassung, § 1613 RVO aF enger als § 16 SGB 1 auszulegen.

Der von der Rechtsprechung entwickelte Herstellungsanspruch soll dazu dienen, Fehler im Verwaltungsablauf schon mit den der Verwaltung möglichen Mitteln (Amtshandlungen) auszugleichen und den Geschädigten nicht auf vor den ordentlichen Gerichten zu verfolgende, in der Regel verschuldensabhängige und oft im Ergebnis unbefriedigende Schadensersatzansprüche zu verweisen. Daher kann es nicht darauf ankommen, welche der in den Verwaltungsablauf eingeschalteten Stellen pflichtwidrig gehandelt hat, sofern nur der entstandene Nachteil durch eine Amtshandlung der zuständigen Verwaltungsstelle ausgleichbar ist (BSGE 57, 290).

Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht - von der Revision ungerügt und damit für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG) - festgestellt, daß der Zeuge C. als Bediensteter des Versicherungsamtes St. die Klägerin bei der Stellung ihres Nachentrichtungsantrages am 27. April 1973 fehlerhaft beraten hatte und daß dies ursächlich dafür gewesen war, daß die Klägerin statt der von ihr beabsichtigten höheren Nachentrichtung nur die Nachentrichtung in der für ihre Alterssicherung ungünstigen Mindestklasse beantragte. Damit sind die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für einen Herstellungsanspruch gegeben, sofern der der Klägerin durch das fehlerhafte Verwaltungshandeln entstandene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung der Beklagten ausgleichbar ist. Das trifft entgegen der Auffassung der Beklagten zu.

Das von der Rechtsprechung und bisher auch vom erkennenden Senat aus verschiedenen Regelungen des Gesetzes abgeleitete Verbot der Aufstockung bereits entrichteter Beiträge (vgl die Nachweise in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil des Senats vom 25. Oktober 1985 - 12 RK 42/85 -) greift nicht Platz, wenn sich die ursprüngliche Beitragsentrichtung aufgrund eines den Herstellungsanspruch auslösenden fehlerhaften Verwaltungshandelns als falsch und korrekturbedürftig herausstellt. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 29. Juni 1984 - 12 RK 64/82 - ausgeführt hat, kann aus den Urteilen zur Unzulässigkeit der Aufstockung nachentrichteter Beiträge nicht geschlossen werden, daß Veränderungen im Beitragsgefüge auch im Wege des Herstellungsanspruchs generell ausgeschlossen sind (zur Zulässigkeit der Umbuchung von Beiträgen im Falle eines Herstellungsanspruchs vgl das schon genannte Urteil des Senats vom 25. Oktober 1985). Das grundsätzliche Aufstockungsverbot setzt begrifflich nicht nur eine wirksam erfolgte, sondern auch eine wirksam bleibende Beitragsentrichtung voraus, zu der nicht eine nochmalige Beitragsentrichtung für dieselben Zeiten hinzukommen darf. Erweist sich dagegen die bereits vorgenommene Beitragsnachentrichtung als fehlerhaft und ist der Fehler nicht dem Verantwortungsbereich des Versicherten, sondern dem des Versicherungsträgers zuzurechnen, dann ist der Versicherte so zu stellen, als hätte er von vornherein die Nachentrichtung in der richtigen Weise beantragt. Die nachträgliche Entrichtung dieser Beiträge ist dann keine "Aufstockung" der früher entrichteten Beiträge, sondern eine nunmehr im richtigen Umfang nachgeholte Nachentrichtung, die an die Stelle der früheren Beitragsnachentrichtung tritt. Daß der bereits gezahlte Nachentrichtungsbetrag bei der nachgeholten Nachentrichtung zu berücksichtigen ist, hat nur die Bedeutung einer Verrechnung.

Die Beklagte hat sonach der Klägerin im Wege des Herstellungsanspruchs die Beitragsnachentrichtung in der nunmehr begehrten Höhe zu gestatten; auf die Bindung ihres früheren Bescheides vom 16. Juli 1974 kann sie sich nicht mehr berufen, nachdem die Klägerin dessen Überprüfung gemäß § 44 SGB 10 in der Verhandlung vor dem LSG am 14. August 1981 beantragt und die Beklagte darauf eine Überprüfung, wenn auch mit negativem Ergebnis, vorgenommen hatte (Bescheid vom 15. Dezember 1981 und Widerspruchsbescheid vom 15. April 1981).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 190

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