Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 15.01.1988)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Januar 1988 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) verpflichtet ist, die Umschulung des Klägers zum Krankenpfleger durch Unterhaltsgeld (Uhg) und Übernahme der Maßnahmekosten iS des § 45 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in voller Höhe zu fördern.

Der 1961 geborene Kläger war nach seiner Ausbildung zum Bäcker in verschiedenen Berufen tätig. Vom 1. Oktober 1984 bis September 1987 wurde er zum Krankenpfleger umgeschult und ist seit Oktober 1987 im ausbildenden Landeskrankenhaus beschäftigt.

Den im Juli 1984 gestellten Antrag auf Förderung der Umschulung lehnte die beklagte BA ab (Bescheid vom 10. Juli 1985, Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 1985).

Die Klage führte erst im Berufungsrechtszug zur Verurteilung der Beklagten, dem Kläger Uhg als Zuschuß zu gewähren und die Maßnahmekosten in voller Höhe zu tragen (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 26. Januar 1987; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 15. Januar 1988).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte, die Berufung des Klägers sei hinsichtlich der Maßnahmekosten unzulässig gewesen. Das LSG habe die Tätigkeit eines Krankenpflegers in der Psychiatrie iS des § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG auch zu Unrecht als Beruf angesehen und für diese Tätigkeit eine Nichtabdeckung des Bedarfs männlicher Krankenpfleger unter Überschreitung des Rechts auf freie Beweiswürdigung und unter Verletzung der Amtsermittlungspflicht festgestellt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG vom 15. Januar 1988 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 26. Januar 1987 hinsichtlich der betroffenen einmaligen Leistungen iS des § 144 Abs 1 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz zu verwerfen und im übrigen zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen.

1. Das LSG hat die Berufung des Klägers zu Recht in vollem Umfang als zulässig angesehen. Der Kläger hatte vor dem SG beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zu verurteilen, die Teilnahme an der Umschulung zum Krankenpfleger nach den Bestimmungen des AFG auch durch Gewährung von Unterhaltsgeld zu fördern. Zwischen den Beteiligten war lediglich streitig, ob die Bildungsmaßnahme als Umschulung in einen Mangelberuf iS des § 44 Abs 2 Satz 2 AFG zu fördern war. Anhaltspunkte dafür, daß die sich aus einem solchen Förderungsanspruch ergebenden Einzelansprüche nach Grund oder Höhe streitig werden, sind nicht ersichtlich. Unter diesen Voraussetzungen hat der erkennende Senat eine Klage auf Feststellung der „Förderungsfähigkeit” der Maßnahme bejaht. Er hat eine solche Feststellungsklage nach § 53 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht nur solange als zulässig angesehen, als die streitige Bildungsmaßnahme noch nicht durchgeführt ist, sondern auch nach Abschluß der Maßnahme (BSG Urteil vom 20. Juni 1985 = SozR 4460 § 5 Nr 3). Die Entscheidung des 8. Senats zur Klage auf Feststellung der Familienhilfeberechtigung vom 22. März 1988 (SozR 2200 § 205 Nr 65) steht dem nicht entgegen, da dort ausdrücklich offenbleibt, ob der zeitliche Abschluß des Rechtsverhältnisses vor der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz zum Übergang auf die Leistungsklage zwingt. Im übrigen war die streitige Ausbildung bei Einlegung der Berufung noch nicht abgeschlossen. Die vom Kläger vor dem SG und dem LSG gestellten Anträge sind iS einer solchen Feststellungsklage auszulegen.

Der Berufungsausschließungsgrund des § 144 SGG greift bei einer solchen Feststellungsklage nur ein, wenn sich aus der Grundberechtigung ausschließlich nicht berufungsfähige Einzelansprüche ergeben, wie der erkennende Senat in dem angeführten Urteil vom 20. Juni 1985 schon entschieden hat. Der 7. Senat des BSG hat allerdings angenommen, daß auch dann, wenn ohne Kennzeichnung der einzelnen Ansprüche Verurteilung zur Förderung der Teilnahme an einer beruflichen Bildungsmaßnahme dem Grunde nach begehrt werde, die Berufung hinsichtlich der Sachkosten nach § 45 AFG für jeden Anspruch gesondert zu prüfen sei (Urteil vom 17. Februar 1981 = SozR 1500 § 144 Nr 16). Dem vermag der Senat nur zuzustimmen, soweit ausnahmsweise über Einzelansprüche auch dem Grunde nach zu entscheiden ist. Ob der erkennende Senat im angeführten Urteil vom 20. Juni 1985 von dem Urteil des 7. Senats vom 8. Oktober 1981 abgewichen ist, ist ohne Belang, da der erkennende Senat damals für Fragen der beruflichen Bildung allein zuständig war. Auf die vom 7. Senat im Urteil vom 26. April 1989 – 7 RAr 20/88 – im Falle eines Antragstellers, der zunächst hinsichtlich einzelner Maßnahmekosten eine bezifferte Leistungsklage erhoben hatte und erst vor dem LSG zur Feststellungsklage übergegangen war, zur Zulässigkeit der Feststellungsklage geäußerten Auffassung ist hier nicht näher einzugehen, da ein solcher Sachverhalt nicht vorliegt. Der Kläger hatte die Sachkosten in beiden Vorinstanzen nicht beziffert. Es kann daher offenbleiben, ob eine Feststellungsklage dann unzulässig ist, wenn der Kläger in einem früheren Abschnitt des Prozesses einzelne Kosten beziffert hatte, wie das der 7. Senat entschieden hat.

2. Der Klageanspruch ist nach § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG idF des 5. AFG-Änderungsgesetzes vom 23. Juli 1979 (BGBl I S 1189) -aF- begründet. Die Aufhebung dieser Vorschrift durch Gesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2343) läßt den streitigen Anspruch unberührt. Nach dieser Vorschrift ist Anspruchsvoraussetzung, daß der Antragsteller einen Beruf ergreifen will, in dem ein Mangel an Arbeitskräften auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt besteht oder in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Von einem Mangelberuf in diesem Sinne ist regelmäßig dann auszugehen, wenn dem Angebot an freien Stellen für eine bestimmte Beschäftigung eine so geringe Nachfrage nach solchen Stellen auf Arbeitnehmerseite gegenübersteht, daß der Bedarf in dem entsprechenden Beschäftigungszweig nicht in der für eine ausgeglichene Arbeitsmarktsituation erforderlichen Weise gedeckt werden kann (BSGE 41, 1, 4 f = SozR 4100 § 36 Nr 11).

Nach den Feststellungen des LSG stellt sich der angestrebte Beruf vom Beginn der Maßnahme her gesehen auf dem regionalen Arbeitsmarkt und im Bundesgebiet als Mangelberuf dar. Ist der Antragsteller, wie im vorliegenden Fall, im gesamten Bundesgebiet verfügbar, so genügt die Feststellung, daß im Bundesgebiet die offenen Stellen überwiegen, ohne daß es auf deren Lage ankommt. Entsprechend hat das BSG bei Anwendung des § 112 Abs 7 AFG hinsichtlich der in Frage kommenden Beschäftigungen auf den Arbeitsmarkt im Bundesgebiet einschließlich Berlin (West) abgehoben (SozR 4100 § 112 Nr 42). Nur wenn die Verfügbarkeit des Antragstellers auf einen Teil des Bundesgebiets beschränkt ist, bedarf es der Feststellung, daß auf diesem Teilgebiet die Anzahl der offenen Stellen überwiegt.

Die Beklagte rügt zu Unrecht als Verletzung des § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG, daß das LSG bei der Prüfung, ob der Kläger einen Mangelberuf iS dieser Vorschrift habe ergreifen wollen, ausschließlich auf die Tätigkeit eines Krankenpflegers in der Psychiatrie abgestellt habe. Bei der Beurteilung, ob ein Mangelberuf vorliegt, ist von den Verhältnissen auszugehen, wie sie sich auf dem für den Antragsteller in Betracht kommenden Arbeitsmarkt darstellen (BT-Drucks 8/2624). Entsprechend der arbeitsmarktpolitischen Zielsetzung der Vorschrift kommt es bei der Beurteilung, ob Berufsbereiche als selbständiger Beruf zu beurteilen sind, weniger auf die berufliche Ausbildung als auf die Verkehrsanschauung des Arbeitsmarktes an. Erfolgt in der Praxis für Teilbereiche eines Berufes eine Spezialisierung, die sich auf den Arbeitsmarkt auswirkt, so ist das unabhängig von der Frage zu berücksichtigen, ob und ab wann dies einen Niederschlag in der Ausbildungsordnung findet. Soweit der Arbeitsmarkt für bestimmte Bereiche eines nach der Ausbildung einheitlichen Berufs Sonderentwicklungen aufweist, verdeutlicht dies, daß eine Ausgleichsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt trotz der einheitlichen Ausbildung nicht vorliegt, so daß für die Frage des Mangelberufs von einem eigenständigen Beruf auszugehen ist. Das LSG hat hier festgestellt, daß der Arbeitsmarkt für den Tätigkeitsbereich eines Krankenpflegers in der Psychiatrie anders zu beurteilen ist als in der Krankenpflege allgemein. Der Haupteinwand der Beklagten, es sei nicht von der Tätigkeit eines Krankenpflegers in der Psychiatrie auszugehen, zielt gerade darauf ab, einem Mangel in diesem Teilbereich nicht mit der Anwendung der hier streitigen Vorschrift zu begegnen.

Die Beklagte kann auch nicht mit dem Einwand durchdringen, bei der Abgrenzung des Mangelberufs dürfe jedenfalls nicht ein Geschlechtsunterschied gemacht werden. Dabei kann der Senat unentschieden lassen, ob jede unterschiedliche Entwicklung des Arbeitsmarktes für Männer und Frauen maßgebend ist, etwa wenn Teilzeitarbeit nur für Frauen angeboten wird. Auf dem Gebiet der Krankenpflege erfordert jedenfalls in der Psychiatrie der Arbeitseinsatz eine sehr weitgehende Berücksichtigung des Geschlechts der Patienten und des Pflegepersonals. Eine dem Rechnung tragende differenzierte Regelung des Arbeitseinsatzes verstößt daher nicht gegen Art 3 Abs 3 Grundgesetz (GG). Die bei der Arbeitseinteilung notwendige Berücksichtigung von Unterschieden im Geschlecht rechtfertigt dann aber auch schon eine entsprechende Personalauswahl.

3. Die Angriffe der Beklagten gegen die Feststellung des LSG, daß bei Beginn der Maßnahme 1984 im Bereich der Psychiatrie der Bedarf an männlichen Krankenpflegern nicht gedeckt werden konnte, sind darauf gerichtet, die Beweiswürdigung des LSG durch eine eigene Beweiswürdigung zu ersetzen. Den Anforderungen an eine Prozeßrüge genügen sie jedoch nicht.

Die Beklagte meint, das Schreiben des Bundesverbandes für Krankenpflege vom 22. Dezember 1987 trage nicht das vom LSG gefundene Ergebnis. Dort sei mit keinem Wort von einer Nichtdeckung des Bedarfs männlicher Krankenpfleger die Rede. Damit ist der Inhalt des Schreibens nicht dargelegt und auch nicht, daß dessen Auslegung durch das LSG gegen Denkgesetze oder gegen Erfahrungssätze verstößt oder sonst das Recht der freien Beweiswürdigung überschreitet. Die vom LSG unter Auswertung der Statistik gewonnene Erkenntnis, daß im Berufsbereich Krankenpflege die Zahl der männlichen Arbeitslosen geringer als die Zahl der weiblichen Arbeitslosen ist, läßt nämlich in Verbindung mit der genannten Auskunft über „8 % offene Stellen in der Psychiatrie” die Schlußfolgerung als „denkbar” zu (vgl BSG SozR 1500 § 164 Nr 31), daß bei den männlichen Krankenpflegern in der Psychiatrie ein ungedeckter Bedarf bestand.

Soweit die Beklagte eine Verletzung des § 103 SGG hinsichtlich der Arbeitsmarktlage für den Bereich Krankenpfleger der Psychiatrie rügt, fehlt die Darlegung, zu welcher konkreten Maßnahme sich das LSG hätte gedrängt fühlen müssen und welches Ergebnis eine solche Aufklärung gehabt hätte (BSG SozR Nr 14 zu § 103 SGG; Nr 28 zu § 164 SGG; ähnlich BVerwG NJW 1989, 539). Auch ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen das LSG nicht davon ausgehen durfte, daß die Beklagte als die für den Arbeitsmarkt sachkundige Stelle etwa vorhandene Aufklärungsmöglichkeiten bezeichnen werde. Die Beklagte hat zusammen mit dem Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG zuletzt hilfsweise beantragt, „weitere Ermittlungen dazu, ob im Bereich der Psychiatrie offene Stellen für Krankenpfleger besetzt werden können”. Dies durfte das LSG dahin verstehen, daß konkrete Ermittlungsmaßnahmen auch von der Beklagten nicht vorgeschlagen werden konnten. Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172823

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