Leitsatz (amtlich)

Bei jeder Art der ungerechtfertigten Aufgabe einer Arbeitsstelle (AVAVG § 80 Abs 1 S 1), also bei der fristlosen wie bei der fristgemäßen, ist das Arbeitslosengeld auf Zeit zu versagen (Sperrfrist).

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein wichtiger Grund zur Arbeitsaufgabe liegt vor, wenn unter Berücksichtigung sämtlicher Interessen und Umstände einer der Vertragsparteien die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses und die Einbehaltung der entsprechenden Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann und ihr deshalb das Recht zur fristlosen Aufkündigung des Arbeitsverhältnisses zugebilligt werden muß.

Neben dem wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung eines Arbeitsverhältnisses iS des Arbeitsrechts sind jedoch auch Gründe denkbar, die als wichtig iS von AVAVG § 80 anerkannt werden müssen, weil sie unter Abwägung der Belange beider Vertragsparteien und nach verständigem Ermessen dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auf die Dauer unzumutbar machen, ohne daß sie ihm unbedingt gleichzeitig das Recht zur fristlosen Kündigung gewähren.

 

Normenkette

AVAVG § 80 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-04-03, § 81 Fassung: 1957-04-03

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Februar 1964 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen

 

Gründe

Die 1934 geborene Klägerin war bis zum 30. September 1961 als Buchhalterin und Bürokraft bei einem Steuerberater in Bad T beschäftigt. Sie hatte diese Stelle wegen bevorstehender Heirat und Wohnungswechsels nach Fürstenfeldbruck am 15. August 1961 gekündigt. Nach ihrem Umzug meldete sie sich am 2. Oktober 1961 arbeitslos. Ihrem Antrag auf Arbeitslosengeld (Alg) wurde dem Grunde nach stattgegeben, jedoch gleichzeitig eine Sperrfrist von 12 Wochentagen gegen sie verhängt (Bescheid vom 10. Oktober 1961), weil sie ihr letztes Arbeitsverhältnis ohne wichtigen oder berechtigten Grund aufgegeben habe. Die Eheschließung fand am 21. Oktober 1961 (laut Tatbestand des Landessozialgerichts - LSG -: am 20. Oktober 1961) statt.

Der Widerspruch der Klägerin gegen die Versagung des Alg auf Zeit blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 1962). Auf ihre Klage hin hob das Sozialgericht (SG) die Sperrfristverfügung auf (Urteil vom 16. Mai 1962). Die Berufung der beklagten Bundesanstalt hiergegen wurde vom LSG zurückgewiesen (Urteil vom 26. Februar 1964). Zwar habe der Klägerin ein "berechtigter" Grund im Sinne des § 78 Abs. 1 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) nicht zur Seite gestanden, doch habe sie sich auf einen für sie wichtigen Grund im Sinne des § 80 AVAVG stützen dürfen. Damit entfalle aber die Befugnis der Beklagten, ihr eine Sperrfrist wegen vorsätzlicher Aufgabe der Arbeitsstelle aufzuerlegen. Was unter einem wichtigen Grund zur Arbeitsaufgabe zu verstehen sei, werde im AVAVG nicht näher bestimmt. In Übereinstimmung mit den Grundsätzlichen Entscheidungen des Reichsversicherungsamts (RVA) Nrn. 3676 und 3717 zu dem entsprechenden § 93 AVAVG aF sei dieser nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Vorschriften zu beurteilen, vorausgesetzt es handele sich um die Aufgabe eines Arbeitsverhältnisses ohne Einhaltung der gesetzlichen oder vertraglichen Kündigungsfrist. Da das AVAVG die Auferlegung der Sperrfrist jedoch nicht auf die fristlose Aufgabe des Arbeitsverhältnisses ohne wichtigen Grund beschränke, dürfe auch die fristgemäße Kündigung eines Arbeitsverhältnisses nicht zur Verhängung einer Sperrfrist führen, wenn sie aus wichtigem Grunde erfolge. Es entspräche weder dem Wortlaut noch dem Sinne des § 80 Abs. 1 AVAVG, der die versicherungsrechtlichen Folgen einer Sperrfrist nur bei verschuldeter Arbeitslosigkeit eintreten lasse, wolle man den Begriff "wichtiger Grund" lediglich nach den engeren, teilweise kasuistischen Vorschriften des Arbeitsrechts über den wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung eines Arbeitsverhältnisses auslegen. Vielmehr gebe es Gründe, bei denen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitnehmer auf die Dauer nicht zuzumuten sei, ohne daß ihm deshalb auch die Einhaltung der gesetzlichen oder vertraglichen Kündigungsfrist unzumutbar wäre. In diesem Falle bestehe ein wichtiger Grund zwar nicht zur fristlosen Kündigung im Sinne der arbeitsrechtlichen Vorschriften, aber zur fristgemäßen Aufgabe des Arbeitsverhältnisses. Ein solcher wichtiger Grund liege vor, wenn eine Arbeitnehmerin nach auswärts heirate und deshalb ihrer Verpflichtung zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft dadurch nachkomme, daß sie das Arbeitsverhältnis beende. Das sei bei der Klägerin der Fall, auch wenn die Eheschließung selbst erst einige Zeit später stattgefunden habe.

Revision wurde zugelassen.

Die Beklagte legte Revision ein und beantragte,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des SG München vom 16. Mai 1962 die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie rügt Verletzung von § 80 AVAVG. Der Begriff "wichtiger Grund" sei im AVAVG zwar nicht näher definiert. Nach der ständigen Rechtsprechung des RVA, die den einschlägigen Materialien zufolge durch die "Große Novelle" zum AVAVG von 1957 weder berührt noch als ergänzungs- oder erweiterungsbedürftig angesehen worden sei, müsse hierunter allgemein der im Arbeitsrecht geläufige Begriff des wichtigen Grundes für eine fristlose Kündigung verstanden werden. Die bevorstehende Heirat und der Zuzug der Klägerin zu ihrem Ehemann stelle jedoch einen solchen wichtigen Grund im Sinne des Arbeitsrechts und damit des § 80 AVAVG für die Aufgabe der Arbeitsstelle nicht dar. Ihr sei es vielmehr durchaus zuzumuten gewesen, das Arbeitsverhältnis erst mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zu beenden, wie es tatsächlich auch geschehen sei. Die von ihr vertretene Auslegung des Begriffs "wichtiger Grund" sei auch verfassungskonform und verstoße insbesondere nicht gegen Art. 6 des Grundgesetzes (GG). Die Versagung des Alg für eine zeitlich begrenzte Dauer bewirke einen gewissen Schutz der Versichertengemeinschaft vor der Manipulierung des versicherten Risikos durch den einzelnen Versicherten, und stelle somit eine Maßnahme dar, die jeder Versicherung eigentümlich sei. Sie richte sich weder gegen die Eheschließung selbst noch greife sie unmittelbar oder mittelbar in die von Art. 6 GG geschützten Rechtsgüter ein. Diese grundgesetzliche Vorschrift verbiete im übrigen nicht, daß an den Tatbestand der Eheschließung Rechtsfolgen mit gewissen wirtschaftlichen Auswirkungen geknüpft würden, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 17. Januar 1957 (1 BvL 4/54) zu § 28 des Einkommensteuergesetzes (EStG) festgestellt habe. Schließlich sei die Auffassung des LSG, daß der wichtige Grund in § 80 AVAVG zumindest in Fällen vorliegender Art weiter als im Sinne der früheren Rechtsprechung des RVA auszulegen sei, um deswillen bedenklich, weil mit gleichem Recht auch ein Ehemann seine auswärtige Beschäftigung aufgeben oder eine solche von vornherein ablehnen dürfe, ohne daß gegen ihn eine Sperrfrist verhängt werden könne. Diese Folge würde den zwischenbezirklichen Arbeitskräfteausgleich und die entsprechende Vermittlung weitgehend unmöglich machen. Alsdann könne dem Gebot des § 36 AVAVG nicht mehr ausreichend Rechnung getragen werden. Selbst bei weitester Auslegung des § 80 AVAVG müsse eine Abwägung zwischen den Interessen des Einzelnen und jenen der Versichertengemeinschaft erfolgen. Sie erfordere, daß der Einzelne im Interesse der Versichertengemeinschaft rechtzeitig alles unternommen habe, um den Versicherungsfall nicht eintreten zu lassen. Diesem Gebot sei die Klägerin offensichtlich nicht nachgekommen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten; Erklärungen zur Sache wurden von ihrer Seite nicht abgegeben.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig und begründet.

Streitig ist vorliegend allein die Befugnis der Beklagten, der Klägerin das Alg für 12 Tage wegen Aufgabe ihrer Arbeitsstelle zu versagen (Sperrfrist). Nach § 80 Abs. 1 AVAVG ist das Alg für 24 Tage - mit zulässiger Abkürzung bis auf 12 oder mit Verlängerung bis zu 48 Arbeitstagen gemäß § 81 AVAVG - unter anderem zu versagen, wenn der Arbeitslose seine Arbeitsstelle ohne wichtigen oder ohne berechtigten Grund aufgegeben hat. Was der Gesetzgeber unter einem "berechtigten" Grund verstanden wissen will, ergibt sich eindeutig aus der Verweisung auf § 78 Abs. 2 AVAVG. Dort sind - wie der erkennende Senat bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung zum einschlägigen Fragenkreis ausgeführt hat (BSG 21, 205 ff) - die "berechtigten Gründe" zur Arbeitsablehnung - hier zur Arbeitsaufgabe - unter den Nummern 1 bis 6 abschließend und erschöpfend geregelt (vgl. Draeger/Buchwitz/Schönefelder, AVAVG Anm. 8 zu § 80 und Anm. 17 zu § 78). Das Berufungsgericht hat in seinem angefochtenen Urteil unbestritten und zutreffend festgestellt, daß der Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen ein "berechtigter" Grund im Sinne des § 80 Abs. 1 i. V. m. § 78 Abs. 2 AVAVG bei ihrer Arbeitsaufgabe in Bad Tölz nicht zur Seite gestanden hat. Seine diesbezüglichen tatsächlichen Feststellungen sind für das Bundessozialgericht (BSG) bindend (§ 163 SGG). Somit erübrigt sich eine nähere Prüfung der in § 78 Abs. 2 AVAVG aufgeführten "berechtigten Gründe", von denen im Falle der Klägerin ohnehin höchstens Nr. 5 in Betracht gekommen wäre.

Was unter den Begriff des "wichtigen Grundes" in § 80 Abs. 1 AVAVG zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber ebensowenig wie früher in dem dieser Vorschrift entsprechenden § 93 AVAVG aF näher bestimmt, sondern es lediglich bei der Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs belassen. Er hat sich auch darüber nicht erklärt, ob er ihn ähnlich oder entsprechend ausgelegt wissen will wie den gleichlautenden Begriff auf anderen Rechtsgebieten, vornehmlich im Arbeits- oder Zivilrecht. Der Begriff "wichtiger Grund" ist also, wie die Beklagte zutreffend vermerkt, nach den allgemeinen Grundsätzen und Regeln der Auslegung mit einem konkreten Inhalt auszufüllen (vgl. BSG 10, 51 ff). Das hatte bereits das RVA in jahrzehntelanger ständiger Rechtsprechung getan. Es ging davon aus, daß zum einen die Frage, was als wichtiger Grund im Sinne des § 80 (93 aF) AVAVG zu gelten habe, öffentlich-rechtlicher Natur sei (GE Nr. 4272, AN 1932, 45) und sie zum anderen in Anlehnung an die allgemeinen arbeits- oder dienstrechtlichen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), des Handelsgesetzbuches (HGB), der Gewerbeordnung (GewO), der vorläufigen Landesarbeitsordnung oder unter Umständen auch des Landesrechts zu beurteilen sei (GE Nr. 3678 und Nr. 3717 in AN 1930, 101 und 193; GE Nr. 4272 und Nr. 4327 in AN 1932, 45 und 102). Ein wichtiger Grund zur Arbeitsaufgabe in diesem Sinne liegt danach vor, wenn unter Berücksichtigung sämtlicher Interessen und Umstände einer der Vertragsparteien die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses und die Einhaltung der entsprechenden Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann und ihr deshalb die fristlose Aufkündigung des Arbeitsverhältnisses zugebilligt werden muß. Das RVA stützte diese Auslegung hauptsächlich auf eine Begründung, die 1927 zu § 56 des Entw. eines Gesetzes über Arbeitslosenversicherung vor dem Deutschen Reichstag gegeben wurde (vgl. Verhandlungen des Reichstages, 3. Wahlperiode, Bd. 413, S. 89 zu § 56). Die Rechtsprechung des RVA, die auch im Schrifttum allgemein Anerkennung gefunden hatte, hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) für das Arbeitsvertragsrecht fortgeführt. Es erachtet einen wichtigen Grund im Sinne der einschlägigen Gesetze immer dann für gegeben, wenn Umstände eingetreten sind, die nach verständigem Ermessen dem einen oder anderen Teil des Arbeitsverhältnisses dessen Fortsetzung nicht mehr zumutbar erscheinen lassen, da sonst das Interesse des Kündigenden in unbilliger Weise geschädigt würde (vgl. BAG in AP 4, 5, 6, 13 zu § 626 BGB). Ob ein wichtiger Kündigungsgrund vorliegt, ist Tatfrage. Dabei ist der gesamte Sachverhalt zu untersuchen, und zwar unter Interessenabwägung. Wird eine unbillige Interessenschädigung festgestellt, so ist der Tatbestand des wichtigen Grundes erfüllt. Der gesamte Sachverhalt, nicht allein der zur Begründung der Kündigung angeführte Einzelumstand, unterliegt der Beurteilung.

Allerdings hatte das RVA in seiner Rechtsprechung, soweit erkennbar, niemals herausgestellt oder entscheidend darauf abgehoben, daß § 93 AVAVG aF (wie jetzt § 80 AVAVG nF) seinem Sinn und Zweck nach - als Schutz der Versichertengemeinschaft vor unberechtigter Manipulierung des Versicherungsfalles durch Einzelne - grundsätzlich alle Fälle der Arbeitsaufgabe erfaßt, also sowohl denjenigen der fristlosen wie auch jenen einer fristgemäßen Aufgabe der Arbeitsstelle. Es sind hierbei durchaus Gründe denkbar, die so wichtig sind, daß sie zwar nicht eine fristlose Kündigung, doch aber die Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter Einhaltung der jeweiligen Kündigungsfrist rechtfertigen, weil seine Fortsetzung auf die Dauer für einen Beteiligten unzumutbar ist. Immerhin hat in dieser Richtung das BAG, jedenfalls was die Aufhebung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber anbelangt, bereits entschieden, daß eine fristgemäße Kündigung keinen Verzicht auf die fristlose Kündigung aus wichtigem Grunde enthält (BAG in NJW 1955, 606).

Die vom RVA wie vom BAG entwickelten Grundsätze und Voraussetzungen für die Beurteilung des "wichtigen Grundes" hält der erkennende Senat bei der Anwendung des § 80 Abs. 1 Satz 1 AVAVG auch jetzt noch für zutreffend. Sie sind sachgerecht und gesetzesmäßig (BSG 21, 207).

Der gegenwärtig zu entscheidende Fall gibt keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung des Senats abzuweichen. Dies um so weniger, als § 80 Abs. 1 AVAVG die Versichertengemeinschaft vor Manipulierung des Versicherungsfalles bei jeder Art der Aufgabe der Arbeitsstelle schützen soll, also der fristlosen ebenso wie der fristgemäßen (vgl. BT-Drucks. Nr. 1274, II. Wahlperiode, S. 82, 83 u. 123). Die Zweckbestimmung des § 80 Abs. 1 AVAVG - der ohnehin nur einen zeitlich begrenzten Schutz der Versichertengemeinschaft vor unrechtmäßig herbeigeführten Versicherungsfällen enthält - gebietet nicht, daß einzig dann von der Verhängung einer Sperrfrist (Versagung der Leistung auf Zeit) abzusehen ist, wenn der Arbeitslose einen Grund zur fristlosen Kündigung seines Arbeitsplatzes hat, daß er dagegen in den Fällen fristgerechter Lösung des Arbeitsverhältnisses ohne Grund zur fristlosen (außerordentlichen) Kündigung stets mit einer Sperrfrist getroffen werden muß. Jedenfalls zwingt die Fassung des § 80 Abs. 1 AVAVG nicht zu einer derartig einengenden Auslegung, weil sie den "wichtigen" oder den "berechtigten" Grund ohne Einschränkung und ohne zusätzliche Bedingungen als Entschuldigung für jede Art der Arbeitsaufgabe gelten läßt. Schon vom Wortlaut her sind deshalb beide Fälle nicht abweichend oder unterschiedlich zu behandeln.

Weiterhin ist der Auffassung der Beklagten nicht zu folgen, daß die Entstehungsgeschichte des ursprünglichen § 56 AVAVG und die hieran anknüpfende Rechtsprechung des RVA zu § 93 AVAVG aF einerseits sowie das völlige Schweigen des Gesetzgebers über den Inhalt des Begriffs "wichtiger Grund" bei der Schaffung des § 80 AVAVG nF andererseits der oben dargelegten Rechtsansicht des Senats widersprechen und zu einer Auslegung des streitigen Begriffs ausschließlich im Sinn der früheren Entscheidungen des RVA - weil angeblich vom Gesetzgeber des § 80 Abs. 1 AVAVG nF so gewollt - zwingen. Die Beklagte übersieht, daß nach herrschender Auffassung über die Auslegung von Gesetzestexten allein der in der gesetzlichen Vorschrift selbst zum Ausdruck kommende "objektivierte Wille" des Gesetzgebers maßgeblich ist, so wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, nicht aber die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder die Auffassung von Behörden, die für die Ausführung des Gesetzes zuständig sind. Die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift hat ebenfalls nur insoweit Bedeutung, als sie darin selbst erkennbaren Niederschlag gefunden hat (BVerfG 1, 312; BSG 6, 255; 9, 160). Der Wortlaut von § 80 Abs. 1 AVAVG nF indessen läßt ebenso wie seine Stellung im Aufbau des Gesetzes, also innerhalb dessen gesamter Systematik, einen Willen des Gesetzgebers in der von der Beklagten vermuteten Richtung nicht erkennen. Nach alledem stehen weder rechtliche noch sachliche Argumente dem Standpunkt des Senats entgegen, daß neben dem wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung eines Arbeitsverhältnisses im Sinne des Arbeitsrechts durchaus im Einzelfall auch Gründe denkbar sind, die als "wichtig" im Sinne von § 80 Abs. 1 AVAVG anerkannt werden müssen, weil sie unter Abwägung der Belange beider Vertragsparteien und nach verständigem Ermessen dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auf die Dauer unzumutbar machen, ohne daß sie ihm unbedingt gleichzeitig das Recht zur fristlosen Kündigung gewähren.

In dem vorbezeichneten Urteil des erkennenden Senats (BSG 21, 205 ff) ist ferner entschieden, daß die Eheschließung und der Zuzug zum Ehegatten für sich allein nicht als "absoluter" wichtiger Grund gilt, daß hierbei aber im Einzelfall das Hinzutreten besonderer Umstände einen wichtigen Grund im Sinne des § 80 Abs. 1 Satz 1 AVAVG schaffen kann. Ob solche vorliegen, ist Tatfrage und muß jeweils des näheren geklärt werden. Ebenso kann nach dieser Entscheidung - je nach Lage des Falles - von einem Arbeitnehmer mit Heiratsabsicht erwartet werden, daß er sich rechtzeitig, also schon vor oder bei Kündigung des alten Beschäftigungsverhältnisses, um einen Anschlußarbeitsplatz an dem neuen Aufenthaltsort bemüht und das für ihn Zumutbare dazu beiträgt, den Versicherungsfall nicht eintreten zu lassen. Hierdurch beweist er zugleich seine ernstliche Arbeitsbereitschaft für die Zukunft. Erfahrungsgemäß bereitet es den Dienststellen der beklagten Bundesanstalt - namentlich was den Beruf der Klägerin anbetrifft - derzeit in aller Regel keine Schwierigkeiten, geeignete Arbeitsstellen zu beschaffen oder Arbeitsangebote nachzuweisen.

Diese Grundsätze, die für Männer und Frauen im Recht der Arbeitslosenversicherung gleichermaßen Gültigkeit haben (Art. 3 Abs. 2 GG), sind bei einer fristgemäßen Kündigung des Arbeitsverhältnisses ebenfalls anzuwenden. Der vorstehend gekennzeichnete Beurteilungsrahmen, der für die Prüfung des "wichtigen Grundes" (einschließlich der dabei erforderlichen Interessenabwägung) maßgebend ist, steht im Einklang mit dem Leitgedanken des § 36 AVAVG, daß die Vermittlung in Arbeit den Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenhilfe vorgeht. Hierbei finden die persönlichen Bindungen und sozialen Verhältnisse der in die Ehe eintretenden oder verheirateten Frauen und ihre daraus erwachsenden häuslichen oder familiären Pflichten hinreichend Berücksichtigung (§ 39 und 76 AVAVG). Durch die Anwendung des § 80 Abs. 1 AVAVG nach vorstehender Maßgabe werden Ehe und Familie in ihren durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Bestand und Wesensinhalt nicht gefährdet oder beeinträchtigt. Insbesondere wird auch das Recht und die Pflicht zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 1353 Satz 1 BGB) nicht ausgeschlossen. Keine Vorschrift der Arbeitslosenversicherung verwehrt es dem Arbeitnehmer, seine Arbeitsstelle aufzugeben, weil er heiraten oder im Zusammenhang damit den Wohnsitz wechseln will. Verursacht dieser Entschluß Arbeitslosigkeit, so wird der Arbeitnehmer von den zulässigerweise an die Auslösung des Versicherungsfalles geknüpften gesetzlichen Folgen (hier: zeitliche Beschränkung des Leistungsanspruchs) allerdings nur befreit, falls ein "wichtiger Grund" der vorstehend gekennzeichneten Art sein Verhalten rechtfertigt (vgl. auch BVerfG vom 17.1.1957 - 1 BvL 4/54 zu § 28 EStG; BSG 3, 298, 301).

Im vorliegenden Fall hat das LSG zwar in den Tatbestand aufgenommen, daß die Klägerin "nach ordentlicher Kündigung" ihre Stelle aufgegeben habe. Es hat jedoch keine Feststellungen darüber getroffen, ob bei ihr - außer der geplanten, aber noch rund drei Wochen ausstehenden Heirat - noch besondere Umstände hinzutreten, die im dargelegten Sinne einen "wichtigen Grund" bilden. Ein solcher wäre bei der Klägerin möglicherweise etwa dann anzuerkennen, wenn ihr allein, falls der Ehepartner dazu völlig außerstande war, in den Wochen vor der eigentlichen Eheschließung die Bemühungen um die Beschaffung der auswärtigen Wohnung und des notwendigen Hausrates oblagen oder wenn sie sonst außergewöhnliche Schwierigkeiten sachlicher wie persönlicher Art zur Begründung des ehelichen Hausstandes innerhalb dieser Zeit bewältigen mußte. Das LSG hat des weiteren nichts darüber ermittelt, ob sich die Klägerin rechtzeitig, also vor oder bei Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses in Bad Tölz, um einen Anschlußarbeitsplatz in Fürstenfeldbruck bemühte. Diese Feststellung ist wegen der gesetzlichen Voraussetzung der ernstlichen Arbeitsbereitschaft bedeutsam, wenn auch im übrigen die Verfügbarkeit der Klägerin nach dem 2. Oktober 1961 nicht im Streit befangen und deswegen nicht weiter zu untersuchen war.

Aus beiden Gründen muß daher die Sache unter Aufhebung des bisherigen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 und 4 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI927547

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