Orientierungssatz

Anwendung des Art 2 § 42 ArVNG:

1. Für die Anwartschaftserhaltung zum 1. Januar 1957 iS des Art 2 § 42 ArVNG können nur diejenigen Beiträge berücksichtigt werden, die tatsächlich vor dem 1. Januar 1957 entrichtet worden sind (vgl BSG 1959-07-01 4 RJ 249/58 = BSGE 10, 139).

2. Die Nachfrage nach Beitragsmarken bei der Post stellt keine Bereiterklärung zur Entrichtung von Beiträgen iS des § 1444 Abs 1 Nr 2 RVO aF dar (vgl BSG 1961-11-23 12/3 RJ 136/60 = BSGE 15, 267).

3. Der Rentenversicherungsträger hat weder die Verantwortung dafür zu tragen, daß die Postämter jederzeit Beitragsmarken vorrätig haben, noch haftet er für ein etwaiges Verschulden der Post, wenn diese die Beitragsmarken nicht vorrätig hat.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 42; RVO § 1444 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1937-12-21

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.02.1961)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Februar 1961 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Streitig ist, ob dem Versicherten die sog. Vergleichsrente nach Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zusteht.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger auf seinen Antrag mit Bescheid vom 2. Dezember 1958 die Erwerbsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 1. April 1958 an in Höhe von 34,60 DM monatlich. Sie lehnte die Berechnung der Rente gemäß Art. 2 § 42 ArVNG nach den vor dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften mit der Begründung ab, die für die Jahre 1955 und 1956 entrichteten Beiträge seien erst im Jahre 1957 entrichtet worden, so daß die Anwartschaft zum 1. Januar 1957 nicht erhalten gewesen sei, auch nicht nach den Vorschriften über die sog. Halbdeckung.

Der Kläger hatte im Dezember 1956 vergeblich versucht, Beitragsmarken bei der Postanstalt in B. zu kaufen; diese hatte erst am 31. Dezember 1956 wieder Beitragsmarken vorrätig.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte durch Urteil vom 31. Oktober 1960 verurteilt, dem Kläger die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Berücksichtigung des Art. 2 § 42 ArVNG vom 1. April 1958 an zu gewähren.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 22. Februar 1961 das Urteil des SG aufgehoben, die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt. Er hat im wesentlichen ausgeführt: Da das Berufungsgericht angenommen habe, für Schadenersatzansprüche seien die allgemeinen Gerichte und nicht die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig, hätte es anregen müssen, daß er einen Antrag auf Verweisung der Sache an das zuständige Gericht der allgemeinen Gerichtsbarkeit stelle. Da die Nachentrichtung von Beiträgen bis zum Ablauf einer Zahlperiode möglich sei, sei die Beklagte verpflichtet, sämtliche Maßnahmen zu ergreifen, um dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit zu geben, bis zum Ablauf dieses Zeitpunkts die Beiträge zu entrichten. Da die Beklagte sich zur Beitragsentrichtung der Bundespost bediene, müsse sie auch dafür sorgen, daß die Bundespost die Markenwerte vorrätig habe. Wenn Markenvorräte nicht vorhanden seien, müsse dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit gegeben werden, durch Erklärung gegenüber der Verkaufsstelle seine Anwartschaft zu erhalten. Die Beklagte sei hinsichtlich seiner Beiträge in Annahmeverzug geraten. Es verstoße deshalb gegen Treu und Glauben, wenn sie Zahlungen nach dem 1. Januar 1957 nicht mehr gegen sich gelten lassen wolle. Der Beklagten wolle er nicht zumuten, eine Rentenzahlung wegen Verschuldens ihrer Organe oder Hilfspersonen auszuführen, sondern er verlange lediglich, daß ihm der Umstand, daß die Werte nicht vorrätig gewesen seien, nicht zur Last gelegt werde. - Die Beklagte wäre zudem verpflichtet gewesen, die beteiligten Bevölkerungskreise darüber aufzuklären, welche Bedeutung die Entrichtung dieser Marken bis zum 31. Dezember 1956 für die Berechnung der Renten habe. - Das Fehlen von Vorschriften über die Wirkung von Pflichtwidrigkeiten der Beitragsstellen gegenüber der versicherungspflichtigen Bevölkerung beweise, daß Pflichtwidrigkeiten dieser Stellen zu Lasten der Versicherungsanstalt gingen. Auch daraus müsse entnommen werden, daß die Beklagte dafür einzutreten habe, daß die Post im Dezember 1956 keine Marken mehr vorrätig gehabt habe.

Der Kläger hat während des Revisionsverfahrens eidesstattliche Erklärungen von Zeugen beigebracht, die zum Inhalt haben, daß er während der angegebenen Zeiten in verschiedenen Betrieben gearbeitet habe. Er meint, daß unter zusätzlicher Berücksichtigung dieser Zeiten die Halbdeckung zum 1. Januar 1957 erreicht sei.

Er beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Bescheides der Beklagten vom 2. Dezember 1958 die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Berücksichtigung des Art. 2 § 42 ArVNG vom 1. April 1958 an zu gewähren,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen zurückzuverweisen und der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Die Beklagte beantragt,

Die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Aus der Auffassung des Berufungsgerichts, daß zur Entscheidung über Schadenersatzansprüche die allgemeinen Gerichte zuständig seien, könne nicht gefolgert werden, daß das Berufungsgericht die Anregung hätte geben müssen, einen Verweisungsantrag zu stellen, zumal der Kläger in der mündlichen Verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten gewesen sei. Der Kläger habe zudem ausdrücklich einen Rentenantrag gestellt, und nur über diesen habe die Vorinstanz zu entscheiden gehabt. Im übrigen aber setze eine Schadensersatzklage vor den ordentlichen Gerichten voraus, daß ein Schaden überhaupt entstanden sei. Dazu müsse aber vorab rechtskräftig festgestellt werden, daß der Kläger einen Anspruch aus der gesetzlichen Rentenversicherung nicht habe. Das sei bisher aber nicht der Fall. - Die in der Revisionsbegründung aufgestellte Konstruktion einer Haftung ihrerseits für die Handlungen der Post sei unrichtig. Die Deutsche Bundespost handle nicht in ihrem - der Beklagten - Auftrag, sondern kraft eigenen, durch das Gesetz gegebenen Rechts. Sie könne nicht dafür verantwortlich gemacht werden, daß gegen Ende des Jahres 1956 das für den Kläger nächstgelegene Postamt keine Beitragsmarken mehr vorrätig gehabt habe. Eine wirksame Bereiterklärung zur Entrichtung der Beiträge liege hier ebenfalls nicht vor. Sie - die Beklagte - sei auch nicht zu einer persönlichen Aufklärung des Klägers verpflichtet gewesen, sondern nur zu einer allgemeinen Aufklärung der versicherten Bevölkerung. Im Dezember 1956 habe sie aber eine auf Art. 2 § 42 ArVNG gerichtete Aufklärung überhaupt noch nicht geben können, weil diese Vorschrift noch nicht verkündet gewesen sei. Die neu angetretenen Beweise über weitere Beitragsentrichtungen könnten, abgesehen davon, daß sie mit den eigenen Angaben des Klägers nicht übereinstimmten, im Revisionsverfahren nicht mehr erhoben werden. Denn im Revisionsverfahren sei eine Beweiserhebung und -würdigung grundsätzlich ausgeschlossen.

Die zulässige Revision hatte keinen Erfolg.

Zu Recht hat das Berufungsgericht den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit bejaht, da es sich bei dem Rechtsstreit um eine öffentlich-rechtliche Rechtsstreitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialversicherung handelt. Denn der Kläger hat Anspruch auf Gewährung einer höheren Sozialversicherungsrente erhoben; er hat diesen Anspruch auch auf eine sozialversicherungsrechtliche Vorschrift, nämlich auf Art. 2 § 42 ArVNG, und nicht etwa auf Schadensersatzvorschriften des bürgerlichen Rechts gestützt. Ein bürgerlich-rechtlicher Schadensersatzanspruch ist also überhaupt nicht erhoben. Es kam daher auch eine Verweisung an die Gerichte der allgemeinen Gerichtsbarkeit nicht in Betracht, so daß das Berufungsgericht schon aus diesem Grunde nicht verpflichtet war, die Anregung zu erteilen, einen Verweisungsantrag zu stellen.

Ebenfalls zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, daß dem Kläger kein Anspruch auf die nach Art. 2 § 42 ArVNG zu berechnende höhere Rente zusteht. Denn es mangelt schon an der Voraussetzung dieser Vorschrift, daß zum 1. Januar 1957 die Anwartschaft aus den vor diesem Zeitpunkt entrichteten Beiträgen erhalten ist. Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht erforderlich, daß die Wartezeit aus allen vor dem 1. Januar 1957 entrichteten Beiträgen, aus denen die Anwartschaft erhalten war, erfüllt ist, sondern es genügt, wenn auch nur aus einem Beitrag die Anwartschaft erhalten war (SozR SozVers ArVNG Art. 2 § 42 Aa 2 Nr. 3). Aber es können hierbei nur die Beiträge berücksichtigt werden, die tatsächlich vor dem 1. Januar 1957 entrichtet worden sind (BSG 10, 139). Da für den Kläger in den Jahren 1955 und 1956 keine Beiträge für diese Jahre entrichtet worden sind, die für diese Zeiträume bestimmten Beiträge vielmehr erst nach dem 31. Dezember 1956 entrichtet worden sind, war die Anwartschaft aus allen vor dem 1. Januar 1957 entrichteten Beiträgen im Sinne des Art. 2 § 42 ArVNG nach § 1264 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF erloschen.

Der Kläger beruft sich nun darauf, daß er noch im Dezember 1956 für die Jahre 1955 und 1956 bestimmte Beiträge habe entrichten wollen und daß dies nur deshalb nicht möglich gewesen sei, weil das Postamt in B. keine Beitragsmarken mehr vorrätig gehabt habe. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann dies aber nicht dazu führen, daß diese Beiträge als rechtzeitig im Sinne des Art. 2 § 42 ArVNG entrichtet angesehen werden können. Es kann darin insbesondere keine Bereiterklärung zur Entrichtung von Beiträgen im Sinne des § 1444 Abs. 1 Nr. 2 RVO aF gegenüber einer zuständigen Stelle erblickt werden. Denn das Postamt ist keine solche Stelle im Sinne des § 1444 Abs. 1 RVO aF (BSG 15, 267). Dagegen hätte der Kläger sich - notfalls telegrafisch - der Beklagten gegenüber auch noch am 31. Dezember 1956 zur Entrichtung dieser Beiträge wirksam bereit erklären können. Die Beklagte ist nicht, wie der Kläger meint, in Annahmeverzug geraten.

Hiervon kann schon deswegen nicht gesprochen werden, weil der Kläger der Beklagten selbst gegenüber jedenfalls die Entrichtung dieser Beiträge nicht angeboten hat.

Auch kann die unverschuldete verspätete Entrichtung dieser Beiträge nicht etwa durch eine entsprechende Anwendung des § 1418 Abs. 2 RVO zu einer Verlängerung dieser Frist über den 31. Dezember 1956 hinaus führen; denn § 1418 Abs. 2 RVO gilt nur für Pflichtbeiträge (SozR SozVers ArVNG Art. 2 § 42 Aa 21 Nr. 13 und Aa 26 Nr. 18). Auf die Gründe dieser Entscheidungen wird im einzelnen verwiesen.

Die Post ist auch keine Erfüllungsgehilfin der Beklagten, sondern übt die ihr gesetzlich übertragenen Aufgaben auf dem Gebiet der Sozialversicherung in eigener Zuständigkeit und Verantwortung aus. Die Beklagte hat daher weder die Verantwortung dafür zu tragen, daß die Postämter jederzeit Beitragsmarken vorrätig haben, noch haftet sie für ein etwaiges Verschulden der Post, wenn diese die Beitragsmarken nicht vorrätig hat. Sie kann unter keinem Gesichtspunkt hierfür verantwortlich gemacht werden. Es wäre ein Fehlschluß, aus dem Fehlen von Haftungsvorschriften, wie der Kläger meint, zu schließen, daß die Beklagte für ein vorliegendes Verschulden der Post haften müßte. Mangels solcher Vorschriften haftet sie, da die Post nicht Erfüllungsgehilfin ist, eben nicht.

Wieweit die allgemeine Aufklärungspflicht der Versicherungsträger geht, bedarf hier keiner Erörterung, denn jedenfalls konnte die Beklagte im Dezember 1956 eine Aufklärung über die Bedeutung der Entrichtung von Beiträgen vor dem 1. Januar 1957 für die Berechnung der Rente den Versicherten nicht geben, weil das ArVNG zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht beschlossen und verkündet war.

Ob dem Kläger ein bürgerlich-rechtlicher Schadensersatzanspruch gegenüber der Beklagten und der Post zusteht, konnte nicht geprüft werden, weil hierfür die allgemeinen Gerichte zuständig sind.

Auch die Halbdeckung war zum 1. Januar 1957 nach § 1265 RVO aF nicht erhalten. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts sind nur 1008 Wochenbeiträge entrichtet worden, obwohl, wie das Berufungsgericht zutreffend berechnet hat, 1040 Beitragswochen zur Erhaltung der Halbdeckung hätten entrichtet sein müssen. Zwar behauptet der Kläger in seinem Schriftsatz vom 4. Februar 1964, es seien noch weitere Beiträge entrichtet worden. Er übersieht hierbei jedoch, daß das Revisionsgericht nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an die Feststellungen des Berufungsgerichts gebunden ist, wenn diese nicht mit Erfolg angegriffen werden. Ob man in der Behauptung des Klägers, es seien für ihn weitere als die bisher anerkannten Beiträge entrichtet worden, überhaupt eine substantiierte Rüge des Inhalts sehen könnte, die Amtsermittlung und die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts seien hinsichtlich der Feststellung der entrichteten Beiträge fehlerhaft gewesen, kann dahingestellt bleiben. Denn selbst wenn es sich um eine solche Rüge handeln würde, wäre sie nicht in der Frist des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG erhoben, weil sie erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist beim BSG eingegangen ist. Daher kann sie nicht berücksichtigt werden, und der Senat mußte davon ausgehen, daß nur 1008 Wochenbeiträge entrichtet worden sind.

Da sich das angefochtene Urteil somit als zutreffend erwies, mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2375273

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