Leitsatz (amtlich)

Ein angelernter Handwerker steht bei Anwendung der RKG §§ 46, RVO 1246 einem gelernten Handwerker gleich, falls er vollwertig die Tätigkeit eines gelernten Handwerkers verrichtet hat. Dies ist anzunehmen, wenn er langjährig wie ein gelernter Handwerker beschäftigt und entlohnt worden ist.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts in Gelsenkirchen vom 23. Januar 1961 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß dem Kläger die Rente vom 1. Mai 1958 bis zum 31. August 1960 zusteht.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der am 4. September 1900 geborene Kläger war seit seinem 14. Lebensjahr - mit Unterbrechungen - pflichtversichert beschäftigt, und zwar zunächst im wesentlichen außerhalb des Bergbaus als Kellner, Nieter, Schweißer, Heizer, Hilfsarbeiter, Bremser, Abbrucharbeiter und Maschinist. Später war er im wesentlichen im Bergbau pflichtversichert beschäftigt, und zwar von Oktober 1927 bis Dezember 1938 als angelernter Grubenhandwerker, von Januar 1939 bis Februar 1945 als gelernter Grubenhandwerker, von September 1948 bis August 1957 als gelernter Handwerker über Tage, von August 1957 bis September 1958 als Wächter und von Oktober 1958 bis September 1959 als Kauenwärter. Für diese Tätigkeiten sind Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter und - für 226 Monate - Beiträge zur Knappschaftsversicherung entrichtet worden.

Der Kläger hat zunächst vom 8. November 1954 an Knappschaftsrente a.R. bezogen, die mit Wirkung vom 31. Januar 1956 wieder entzogen worden ist. Auf einen erneuten Antrag ist ihm durch Bescheid vom 12. März 1958 rückwirkend vom 1. März 1957 an Bergmannsrente gewährt worden.

Am 7. Mai 1958 hat der Kläger die Gewährung der Gesamtleistung aus der knappschaftlichen Rentenversicherung und der Arbeiterrentenversicherung wegen Berufsunfähigkeit beantragt. Dieser Antrag ist durch Bescheid der Beklagten vom 29. September 1959 mit der Begründung abgelehnt worden, daß der Kläger, ausgehend von dem Hauptberuf eines Schmiedes, nicht berufsunfähig sei, weil er noch in der Lage sei, die ihm zumutbaren Arbeiten eines Magazinarbeiters, Markenausgebers, Lampenstubenarbeiters u.ä. zu verrichten. Der hiergegen eingelegte Widerspruch ist durch Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 1959 zurückgewiesen worden. Hiergegen richtet sich die Klage. Während des Verfahrens vor dem Sozialgericht hat die Beklagte dem Kläger durch bindend gewordenen Bescheid vom 23. November 1960 vom 1. September 1960 an das vorgezogene Altersruhegeld als Gesamtleistung aus der knappschaftlichen Rentenversicherung und der Rentenversicherung der Arbeiter gewährt. Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 23. Januar 1961 die Beklagte - unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 29. September 1959 und 15. Dezember 1959 - verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Mai 1958 bis zum 31. August 1960 die Gesamtleistung aus der knappschaftlichen Rentenversicherung und der Rentenversicherung der Arbeiter wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren; es hat die Berufung zugelassen. Das Sozialgericht ist von der Tätigkeit eines Handwerkers als Hauptberuf ausgegangen und hat festgestellt, daß der Kläger schon seit 1957 vor allem wegen seines Anfallsleidens höchstens noch in der Lage sei, Arbeiten der Lohngruppen IV und V über Tage, wie zB die eines Kauenwärters, Markenausgebers, Wächters, Pförtners, zu verrichten. Es ist der Auffassung, daß die Verrichtung dieser Arbeiten dem Kläger nicht zumutbar sei, da mit deren Verrichtung ein wesentlicher sozialer Abstieg verbunden sei.

Gegen dieses ihr am 3. März 1961 zugestellte Urteil hat die Beklagte durch Schriftsatz vom 27. März 1961, beim Bundessozialgericht eingegangen am 29. März 1961, unter Stellung eines Revisionsantrages und unter Beifügung einer Zustimmungserklärung des Klägers nach § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Sprungrevision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 19. April 1961, beim Bundessozialgericht eingegangen am 21. April 1961, begründet. Sie rügt die unrichtige Anwendung der §§ 46 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG), 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Da der Kläger weder eine Schlosser- noch eine Schmiedelehre durchlaufen habe, könne, obwohl er zuletzt als gelernter Schlosser bzw. gelernter Schmied beschäftigt und entlohnt worden sei, als Hauptberuf nur die Tätigkeit eines angelernten Handwerkers genommen werden. Ein solcher könne aber noch auf die Tätigkeiten der Lohngruppe IV über Tage verwiesen werden, da für ihn damit ein wesentlicher sozialer Abstieg nicht verbunden sei.

Sie beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts in Gelsenkirchen vom 23. Januar 1961 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält die Revision für unbegründet. Er ist der Auffassung, daß sein Hauptberuf, obwohl er keine Lehre durchlaufen habe, der eines gelernten Handwerkers sei; denn er sei als solcher beschäftigt und entlohnt worden. Aus dem Umstand, daß er diese Tätigkeit längere Zeit ausgeübt habe, gehe hervor, daß er sie vollwertig verrichtet habe. Sein soziales Ansehen habe sich nicht von dem eines Handwerkers, der eine Lehre durchlaufen habe, unterschieden. Die Verrichtung von Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V über Tage seien ihm nicht zumutbar, da diese ein wesentlich geringeres soziales Ansehen genössen als die eines gelernten Handwerkers.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft. Die Voraussetzungen des § 161 Abs. 1 SGG sind erfüllt, da das sozialgerichtliche Urteil nach § 150 SGG mit der Berufung anfechtbar ist. Denn diese wäre, da sie nur Rente für eine bereits abgelaufene Zeit betreffen würde, nach § 146 SGG unstatthaft, ist aber vom Sozialgericht zugelassen worden. Der Kläger hat auch sein Einverständnis mit der Übergehung des Berufungsverfahrens erklärt. Die Revision konnte jedoch keinen Erfolg haben.

Zu Recht hat das Sozialgericht die Voraussetzungen der §§ 46 RKG, 1246 RVO als erfüllt angesehen. Denn die Wartezeit ist, wie auch von keiner Seite bestritten wird, erfüllt, und der Kläger ist berufsunfähig.

Ohne Bedenken durfte das Sozialgericht davon ausgehen, daß die Tätigkeit eines gelernten Handwerkers als Hauptberuf des Klägers anzusehen ist. Der Kläger hat zwar im Laufe seines Arbeitslebens so viele Berufe ausgeübt, daß man zunächst geneigt sein könnte, ihn als eine fluktuierende Arbeitskraft anzusehen. Doch ist er während der letzten Zeit seines Arbeitslebens, vom 29. Oktober 1937 bis zum 18. März 1957, mit nur verhältnismäßig kleinen Unterbrechungen Handwerker gewesen. Da somit sein Berufsbild wenigstens während dieses letzten Teils seines Arbeitslebens konstant geblieben ist, trug der erkennende Senat keine Bedenken, den während dieser Zeit, also etwa 20 Jahre lang ausgeübten Beruf eines Handwerkers im Bergbau als Hauptberuf anzusehen. Zwar war der Kläger innerhalb dieser Zeit teilweise als Schmied und teilweise als Schlosser tätig. Diesem Umstand war aber im Rahmen dieser Überlegungen keine entscheidende Bedeutung zuzumessen, da die Bezahlung und das soziale Ansehen beider Berufe gleich sind. Allerdings war der Kläger bis 1946 Grubenhandwerker und von 1948 bis 1957 Handwerker über Tage. Aber auch diesem Umstand brauchte hier keine Bedeutung beigemessen zu werden, weil das Ergebnis hiervon nicht berührt wird. Denn selbst wenn man von der Tätigkeit eines Handwerkers über Tage ausgeht, ist der Kläger berufsunfähig. Entscheidend allein war, ob man von dem Beruf eines gelernten oder eines angelernten Handwerkers auszugehen hatte. Denn der gelernte Handwerker wird in Lohngruppe I und der angelernte in Lohngruppe III der Lohnordnung für den Steinkohlenbergbau der Ruhr (über bzw. unter Tage) geführt. Während der gelernte Handwerker eine Lehre durchlaufen hat, ist der angelernte Handwerker lediglich für seinen Beruf angelernt worden. Die Tätigkeitsmerkmale beider Berufe unterscheiden sich insofern, als der angelernte Handwerker meist einseitig, d.h. mit gleichartigen und zudem mit einfacheren Handwerkerarbeiten beschäftigt wird während der gelernte Handwerker mit allen vorkommenden Arbeiten seines Fachgebiets betraut wird. Für die Hauer alter Art, d.h. die Hauer, welche ihren Beruf zu einer Zeit ergriffen haben, als es noch keine Lehrlingsausbildung für den Hauerberuf gab, die aber durch praktische Ausübung der Bergmannstätigkeit die damals allein übliche Berufsentwicklung vom Schlepper im Schichtlohn über den Schlepper im Gedinge und Lehrhauer zum Hauer durchlaufen haben und denselben Lohn erhalten wie ein Hauer mit Lehrlingsausbildung, hat der Senat in seinem Urteil vom 18. Januar 1962 in Sachen Vogt ./. Ruhrknappschaft (5 RKn 43/61) bereits entschieden, daß diese den gelernten Hauern gleichzustellen sind, wenn sie die Hauerarbeit vollwertig verrichtet haben, und daß dies dann anzunehmen ist, wenn sie diese Tätigkeit langjährig ausgeübt haben. Das gleiche aber muß bei angelernten Handwerkern gelten, und zwar auch dann, wenn ihre Anlernung zu einer Zeit erfolgte, als der entsprechende Beruf bereits als Lehrberuf anerkannt war. Ein Handwerker, der zwar keine Lehre durchlaufen hat, der aber für seinen Beruf angelernt ist, muß somit, wenn er die Arbeit eines gelernten Handwerkers vollwertig verrichtet hat - und dies ist anzunehmen, wenn er sie langjährig ausgeübt hat und wie ein gelernter Handwerker entlohnt worden ist - dem gelernten Handwerker bei Anwendung der §§ 46 RKG, 1246 RV gleichgestellt werden. § 29 des Manteltarifvertrages für die Arbeiter im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau von 1953, idF von 1959/1960, schreibt auch ausdrücklich vor, daß ein angelernter Handwerker in einem anerkannten Lehrberuf wie ein gelernter Arbeiter zu entlohnen ist, wenn er allen Anforderungen genügt, die im Betrieb an den gelernten Handwerker gestellt werden. Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger vor. Er hat die Arbeit eines gelernten Handwerkers, nachdem er vorher schon längere Zeit angelernter Handwerker gewesen war, von 1959 bis 1945, von 1948 bis 1954 und von 1956 bis 1957, also etwa 13 Jahre lang ausgeübt und ist während dieser Zeit wie ein gelernter Handwerker entlohnt worden. Es mag Fälle geben, in welchen ein Versicherter, obwohl er nur die Kenntnisse und Fähigkeiten eines angelernten Handwerkers hat und auch nur eine dementsprechende Tätigkeit verrichtet, aus anderen Gründen, etwa um ihn an den Betrieb zu binden, als gelernter Handwerker entlohnt wird. Diese Fälle wären gegebenenfalls anders zu beurteilen. Aber es liegt kein Anhalt dafür vor, daß hier ein solcher Ausnahmefall gegeben ist.

Da der Kläger mit den Tätigkeiten, die er noch zu verrichten in der Lage ist, mindestens die Hälfte dessen verdient, was ein gelernter Handwerker als die für ihn nach § 46 Abs. 2 Satz 1 RKG, § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO maßgebende Vergleichsperson verdient, kam es, wie das Sozialgericht nicht verkannt hat, allein darauf an, ob dem Kläger, vom Hauptberuf eines gelernten Handwerkers ausgehend, die Verrichtung dieser Tätigkeiten zumutbar im Sinne der §§ 46 Abs. 2 Satz 2 RKG, 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO ist. Dies war mit dem Sozialgericht zu verneinen. Die Tätigkeiten eines Kauenwärters, Materialausgebers, Wächters, Pförtners u.ä., Tätigkeiten, bei denen der Kläger sich bei Auftreten eines Anfalls nicht in Gefahr bringt, sind, gleichgültig ob sie im Bergbau oder außerhalb des Bergbaus verrichtet werden, nur einfache Hilfsarbeiten, deren Verrichtung für einen gelernten Handwerker einen wesentlichen sozialen Abstieg bedeuten würde. Diese Auffassung entspricht der bisherigen Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichts zu § 1246 Abs. 2 RVO. Der Umstand, daß der Kläger im Bergbau beschäftigt war, ist hierbei ohne Belang. Die Revision der Beklagten war somit zurückzuweisen. Da das Sozialgericht im Tenor seines Urteils vergessen hatte, die Jahreszahl des Rentenbeginns festzulegen, war eine entsprechende Klarstellung erforderlich.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 41

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