Entscheidungsstichwort (Thema)

Wahlfeststellung. Sozialrecht

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Bedeutung der Regeln über eine Wahlfeststellung im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Orientierungssatz

Wäre der geltend gemachte Anspruch bei Feststellung jeder von zwei erörterten Möglichkeiten gegeben, so kann er nicht als unbegründet abgelehnt werden, nur weil beide Leistungstatbestände gleichwertig nebeneinander möglich sind. Vielmehr ist dann nach den - auch im Sozialrecht anwendbaren (vgl BSG 30.8.1960 8 RV 245/58 = BSGE 13, 51, 53) - Regeln der sogenannten Wahlfeststellung zu verfahren (vgl BGH 30.9.1954 III ZR 134/54 = BGHZ 14, 363, 364). Sie führen zur Zuerkennung des geltend gemachten Anspruchs, wenn jede in Betracht kommende Tatbestandsvariante zur gleichen Leistung führen muß (vgl BSG 2.2.1977 9 RV 26/76).

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 19.12.1984; Aktenzeichen L 2 Ua 2076/82)

SG Ulm (Entscheidung vom 20.10.1982; Aktenzeichen S 9 U 1058/81)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger wegen der Folgen eines im Juni 1942 erlittenen Unfalles Anspruch auf Heilbehandlung und Verletztenrente hat. Sozialgericht -SG- (Urteil vom 20. Oktober 1982) und Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 19. Dezember 1984) haben dies verneint. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der damals 15-jährige Kläger verunglückte beim Turmspringen und verlor als Folge des Unfalles das rechte Auge. Er war seinerzeit Schüler der Heimschule G. Durch Bescheid vom 29. Juli 1981 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, der Unfall habe sich während des Schul-(Sport-)Unterrichts ereignet und nicht während des Dienstes in der Hitlerjugend (HJ); der Kläger sei als Schüler nicht versichert gewesen.

Im Urteil des SG ist ausgeführt, daß die tatsächlichen Umstände und das Verhalten des Klägers gegen seine Behauptung, er sei beim Dienst in der HJ verunglückt, sprächen; Versicherungsschutz für Schüler habe damals nicht bestanden.

Das LSG hat nicht festzustellen vermocht, ob sich der Unfall während des Schulunterrichts, des HJ-Dienstes oder in der privaten Freizeit ereignete. In keinem Fall sei der Kläger versichert gewesen.

Im Revisionsverfahren vertritt der Kläger die Auffassung, die Heimschule G. sei eine "Institution der vormilitärischen Ausbildung" gewesen, so daß er gemäß § 541 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF gegen Unfall versichert gewesen sei. Er beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach dem zuletzt in erster Instanz gestellten Antrag des Revisionsklägers zu erkennen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen rechtfertigen den geltend gemachten Anspruch nicht.

Das LSG hat trotz umfangreicher Beweisaufnahme nicht festzustellen vermocht, ob der Kläger während des Schulunterrichts oder während des HJ-Dienstes verunglückte; es hat weiterhin nicht völlig ausgeschlossen, daß sich der Unfall im privaten Bereich des Klägers ereignete (Seiten 10 und 12/13). In bezug auf diese Feststellungen des LSG sind zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht, so daß der Senat an sie gebunden ist (§ 163 SGG). Wegen dieses Umstandes fehlen, wie noch darzulegen ist, dem Senat die Voraussetzungen für die Erörterung der Frage, ob Versicherungsschutz für den Fall bestanden hätte, daß der Kläger während des Dienstes in der HJ verunglückte. Dies ergibt sich aus folgendem:

Ebenso wie heute § 548 Abs 1 RVO definierte auch die im Unfallzeitpunkt geltende Vorschrift (§ 542 RVO aF) einen Arbeitsunfall als einen Unfall, welchen ein Versicherter bei den im Gesetz genannten Tätigkeiten erleidet. Die im Gesetz genannte Tätigkeit, welche den Versicherungsschutz auslöst, muß mit einem der Gewißheit nahekommendem Grad der Wahrscheinlichkeit feststehen; die gewöhnliche Wahrscheinlichkeit reicht nicht aus (BSGE 45, 285, 286/287; zuletzt BSGE 58, 80, 82 mwN). Das LSG hat mit der erforderlichen an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit weder festzustellen vermocht, daß der Kläger als Schüler noch daß er im HJ-Dienst verunglückte. Dies bedeutet, daß - Schul- und HJ-Dienst jeweils für sich betrachtet - für keine der beiden erörterten Alternativen die Voraussetzung einer versicherungsrechtlich geschützten Tätigkeit als Ursache des Unfalles feststellbar ist. Dennoch folgt allein hieraus noch nicht, daß das Begehren des Klägers unbegründet ist. Ergibt sich nämlich, daß der geltend gemachte Anspruch bei Feststellung jeder der beiden nicht privaten vom LSG erörterten Möglichkeiten gegeben wäre, so kann er nicht als unbegründet abgelehnt werden, nur weil beide Leistungstatbestände gleichwertig nebeneinander möglich sind. Vielmehr ist dann nach den - auch im Sozialrecht anwendbaren (BSGE 13, 51, 53) - Regeln der sogenannten Wahlfeststellung zu verfahren (vgl BGHZ 14, 363, 364). Sie führen zur Zuerkennung des geltend gemachten Anspruchs, wenn jede in Betracht kommende Tatbestandsvariante zur gleichen Leistung führen muß (BSG aaO; BSGE 26, 22, 25; BSG Urteil vom 27. Januar 1966 - 10/11 RV 816/63 - und vom 2. Februar 1977 - 9a RV 26/76 -); dh die begehrte Leistung würde dem Kläger nur zustehen, wenn für beide vom LSG für gleich gut möglich erachteten Alternativen, nämlich sowohl für den Schulunterricht als auch für den HJ-Dienst, Versicherungsschutz gegeben gewesen wäre. Das war jedoch nicht der Fall, so daß die Klage mit Recht abgewiesen worden ist.

Die Beteiligten gehen mit SG und LSG zutreffend davon aus, daß Schüler während des Besuchs allgemeinbildender Schulen bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I S 237) gegen Unfall in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht versichert waren. Der Unfall des Klägers führt daher, hätte es sich dabei um einen Schulunfall gehandelt, nicht zu dem geltend gemachten Anspruch. Die dargelegten Regeln der sogenannten Wahlfeststellung sind aus diesem Grunde hier nicht anzuwenden mit der Folge, daß die andere mögliche Alternative - ein Unfall während des HJ-Dienstes - aus den dargelegten Gründen nicht zur Gewährung der erstrebten Leistung führen kann. Es ist daher unerheblich, ob in gleichem Maße auch die Möglichkeit, der Kläger sei bei einem privaten Badeunfall zu Schaden gekommen, gegeben ist.

Die Revision war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665417

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