Entscheidungsstichwort (Thema)

Schülerunfall. organisatorischer Verantwortungsbereich. Arbeitsgerät

 

Orientierungssatz

1. Für den Unfallversicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO ist nicht entscheidend, ob der Schüler einer von dem Schulbesuch ausgehenden Gefahr erlegen ist, sondern vielmehr, ob die zum Unfall führende Handlung dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule oder vielmehr dem privaten (häuslichen) Bereich des Schülers zuzurechnen ist. Dabei kann der unfallrechtliche Schutzbereich der Schule auch außerhalb des eigentlichen Schulunterrichts liegen (vgl BSG 13.12.1984 2 RU 33/83 = SozR 2200 § 549 Nr 9).

2. Wird eine im Chemieunterricht der Schule gefertigte Fackel zur privaten Nutzung im häuslichen Bereich aufbewahrt, dann handelt es sich nicht um eine mit dem Schulbesuch zusammenhängende Verwahrung von Arbeitsgeräten, weil keinerlei sachliche Verflechtung mehr mit dem Schulbesuch und schulischen Belangen gegeben ist.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b, § 548 Abs 1 S 1, § 549

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 12.07.1984; Aktenzeichen L 3 U 44/83)

SG Berlin (Entscheidung vom 27.04.1983; Aktenzeichen S 67 U 158/82)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Arbeitsunfall (Schülerunfall) erlitten hat und ihm für die Dauer etwa eines Jahres Verletztenrente zusteht. Das Sozialgericht (SG; Urteil vom 27. April 1983) hat dies angenommen, während das Landessozialgericht (LSG; Urteil vom 12. Juli 1984) den geltend gemachten Anspruch mit der Begründung verneint hat, er habe am 21. Dezember 1980 keinen Arbeitsunfall - Schülerunfall - erlitten.

Am Vortage, dem letzten Schultag vor den Weihnachtsferien, fertigten der Kläger und seine Mitschüler im Chemieunterricht eine sog bengalische Fackel an, welche zu Sylvester - nach erfolgter Trocknung - als Feuerwerk abgebrannt werden sollte. Bei der unbeabsichtigten explosionsartigen Entzündung der Fackel zu Hause erlitt der Kläger Brandverletzungen am Gesicht und an den Armen. In dem gegen den Chemielehrer eingeleiteten Strafverfahren wurde vorläufig von der Klageerhebung abgesehen (§ 153a Strafprozeßordnung -StPO-) und ihm auferlegt, eine Geldzahlung an den Kläger zu leisten.

Der Beklagte lehnte die Gewährung von Leistungen mit der Begründung ab, daß die Mitnahme und das Aufbewahren der Fackel weder als eine schulische Veranstaltung noch als Verwahrung von Arbeitsgerät anzusehen sei, so daß der Kläger keinen Arbeitsunfall erlitten habe (Bescheid vom 25. März 1982).

In dem Urteil des SG heißt es, die Explosion habe sich "rein zufällig" zu Hause ereignet; die Schadensursache sei während des Unterrichts "gesetzt" worden. Demgegenüber ist das LSG zu der Überzeugung gekommen, daß der Unfall sich außerhalb des organisatorischen Verantwortungsbereichs der Schule, und damit außerhalb des Schutzes der gesetzlichen Unfallversicherung, ereignet habe. Auf die Verantwortung sowie die Schuld für den Unfall komme es ebensowenig an wie auf den Ursachenzusammenhang zwischen dem Schulunterricht und dem Unfall. Die Fackel war nach der Auffassung des LSG kein Arbeitsgerät iSv § 549 Reichsversicherungsordnung (RVO). Das LSG hat die Revision zugelassen.

Nach Meinung der Revision bezieht sich der Schutz der Schülerunfallversicherung - § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO - auf alle Gefahren, welche von Schuleinrichtungen ausgehen. Im vorliegenden Falle sei die schulische Tätigkeit zu Hause durch das Aufbewahren und das beabsichtigte Abbrennen der Fackel zu Sylvester "fortgesetzt" worden, so daß der Schulunterricht sozusagen in den häuslichen Bereich verlagert worden sei. Die Explosion habe sich dagegen nicht bei der selbständigen Verrichtung von Hausaufgaben ereignet, sondern sozusagen während des Schulunterrichts, nämlich in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Schulbesuch, welcher nach außerhalb verlagert gewesen sei. Darüber hinaus habe der Kläger für die Dauer des im Unfallzeitpunkt noch nicht abgeschlossenen Trocknungsvorganges Arbeitsgerät verwahrt und sei dabei verunglückt.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Juli 1984 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. April 1983 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für richtig.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat mit überzeugenden Gründen entschieden, daß der Kläger am 21. Dezember 1980 keinen Arbeitsunfall erlitt.

Gemäß § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO stehen Schüler während des Besuchs allgemeinbildender Schulen unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Erleiden sie im Zusammenhang damit einen Unfall, handelt es sich um einen Arbeitsunfall (§ 548 Abs 1 RVO). Die vom Kläger begehrte Verletztenrente setzt das Vorliegen eines solchen Arbeitsunfalles voraus.

Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO erfordert nicht lediglich eine kausale Beziehung zwischen dem Schulbesuch und dem Unfall. Mit dem gesetzlichen Erfordernis, der Unfall müsse sich bei dem Schulbesuch ereignet haben, ist vielmehr eine innere bzw sachliche Verknüpfung verlangt, welche nur gegeben ist, wenn der Schüler im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule verunglückt (BSGE 35, 207, 211; 41, 149, 151; 44, 94, 97 und 100; 51, 257, 259; 55, 141, 143; BSG SozR 2200 § 539 Nrn 53, 54, 96, 102; § 549 Nr 9; § 550 Nr 54; USK 79208, 8226; ferner Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 483n ff; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 539 Rz 25; Gitter in Sozialgesetzbuch - Sozialversicherung - Gesamtkommentar, § 539 Anm 48). Hierauf hat das LSG seine Entscheidung zutreffend abgestellt. Soweit der Kläger dagegen den Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO darauf gestützt sehen will, daß der Versicherte sich im sog Gefahrenbereich von Schülereinrichtungen befindet, läßt er den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule außer Betracht und setzt an seine Stelle eine besondere Art von Betriebsbann, welcher dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung fremd ist. Nach alledem ist nicht entscheidend, ob der Kläger einer von dem Schulbesuch ausgehenden Gefahr erlegen ist, sondern vielmehr, ob die zum Unfall führende Handlung dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule oder vielmehr dem privaten (häuslichen) Bereich des Schülers zuzurechnen ist. Dabei ist allerdings von dem erkennenden Senat stets darauf hingewiesen worden, daß der unfallrechtliche Schutzbereich der Schule auch außerhalb des eigentlichen Schulunterrichts liegen kann (BSGE 51, 257, 259; BSG SozR 2200 § 539 Nr 102, § 549 Nr 9). Letzteres nimmt der Kläger hier zu Unrecht an.

Der Kläger meint, der Chemieunterricht sei zu Hause fortgesetzt worden, weil die im Unterricht hergestellte Fackel im häuslichen Bereich trocknen und verwendet werden sollte. Dem widersprechen die Feststellungen des LSG, an welche der Senat gebunden ist (§ 163 SGG), und die auch von den Beteiligten für zutreffend gehalten werden. Danach erfolgte die Herstellung der Fackel einerseits zur Auflockerung des Unterrichts unmittelbar vor Ferienbeginn, und andererseits sollte das Sylvesterfeuerwerk der Schüler durch die selbstgefertigte Fackel auf besonders eigentümliche Weise bereichert werden. Damit stand spätestens mit dem Bewahren der Fackel im persönlichen Bereich des jeweiligen Schülers deren sachgerechte Nutzung in seiner ausschließlichen Entscheidung, ohne daß von Seiten der Schule insoweit Weisungen erteilt worden wären oder auch nur ein Interesse daran bestanden hätte, daß die Fackel in einer schulischen Belangen dienenden Weise abgebrannt würde. Insoweit unterscheidet sich die Rechtslage im vorliegenden Falle wesentlich von der in den Urteilen des Senats vom 31. März 1981 (BSGE 51, 257), 30. August 1984 (SozR 2200 § 539 Nr 102) und 13. Dezember 1984 (SozR 2200 § 549 Nr 9). Während es im zu entscheidenden Falle um die Nutzung eines im Unterricht hergestellten Gegenstandes zum selbstbestimmten Gebrauch im persönlichen Lebensbereich des Schülers ging, hat der Senat in den genannten Entscheidungen den Versicherungsschutz bejaht, weil die Unfälle sich bei der Erneuerung bzw bei der Beförderung eines Arbeitsgeräts und bei der Befolgung schulischer Anweisungen ereigneten, welche zum Zwecke der Gestaltung des bevorstehenden Schulunterrichts erteilt worden waren. Dies rechtfertigte die Annahme eines schulischen Organisationsbereichs. Demgegenüber wurde die Fackel hier gerade aus diesem Bereich hinaus gegeben, um im nichtschulischen Raum ohne Verfolgung schulischer Zwecke benutzt zu werden.

Damit scheidet auch ein Versicherungsschutz nach § 549 RVO aus. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob die Fackel ein Arbeitsgerät im Sinne dieser Vorschrift war, weil jedenfalls die weiteren Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht vorliegen. Versicherungsschutz besteht danach nur bei einer mit dem Schulbesuch zusammenhängenden Verwahrung von Arbeitsgeräten. An diesem inneren Zusammenhang fehlte es jedoch hier, weil keinerlei sachliche Verflechtung mehr mit dem Schulbesuch und schulischen Belangen gegeben war; denn die Fackel wurde zur privaten Nutzung im häuslichen Bereich aufbewahrt; irgendwelche schulischen Belange waren insoweit nicht mehr betroffen.

Die Revision war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665442

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