Orientierungssatz

Das oberschlesische Gebiet ist nicht Ausland. Die unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiete sind nicht als Ausland anzusehen, da über ihr Schicksal noch nicht entschieden ist; sie stehen zwar unter polnischer Verwaltung, sind aber nicht Teile des polnischen Staates.

 

Normenkette

RVO § 615 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1925-07-14

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Juni 1960 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger bezog wegen eines 1939 auf der Grube I bei G im H erlittenen Arbeitsunfalls eine Rente von zuletzt 20 v. H. Diese wurde ihm bis zum Ende des Krieges auf ein Sparkonto in Hi/O seinem damaligen Wohnort, überwiesen. Nachdem er 1946 aus der Kriegsgefangenschaft nach Staffel/Krs. Limburg a. d. Lahn entlassen worden war, bat er die Beklagte um Weiterzahlung seiner Rente. Die Beklagte teilte mit, daß nach einer Anordnung der Militärregierung vom 16. Januar 1946 Renten unter 25 v. H. nicht mehr gewährt würden.

Der Kläger war sodann Ende Februar/Anfang März 1946 wieder in seine Heimat Hi/O zurückgekehrt und wurde im März 1958 zusammen mit seiner Ehefrau in die Bundesrepublik ausgesiedelt. Er beantragte noch im März 1958 bei der Beklagten die Weitergewährung seiner Rente. Diesem Antrag gab die Beklagte durch Bescheid vom 29. Mai 1958 mit Wirkung vom 19. März 1958 an statt. Daraufhin beantragte der Kläger die Weitergewährung der Rente auch für die Zeit von 1946 bis März 1958. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 14. Juni 1958 ab, weil der Rentenanspruch während des Aufenthalts in den unter polnischer Verwaltung stehenden Gebieten geruht habe und ein solcher auch nicht auf Grund des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes gegeben sei; es habe dem Kläger freigestanden, seine Rentenansprüche für die Zeit seines Aufenthaltes in O bei den damals zuständigen polnischen Versicherungsträgern geltend zu machen. Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte zur Zahlung der Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H. für die Zeit vom 19. März 1954 bis 18. März 1958; es ließ die Berufung zu.

Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten zurück. Zur Begründung führte es aus, die Rente habe nicht nach § 615 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF geruht, da die vorläufig unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiete nicht als Ausland anzusehen seien. § 615 RVO aF sei auch nicht analog anzuwenden. In Polen könne der Kläger für die Dauer seines Aufenthalts in O nicht als gleichberechtigt mit den dort wohnhaften polnischen Versicherten angesehen werden; denn eine Übernahme der Entschädigungspflicht durch den polnischen Versicherungsträger sei nur in den Fällen erfolgt, in denen sich der Unfall innerhalb der jetzt unter polnischer Verwaltung stehenden Ostgebiete ereignet habe. Eine Mitteilung bezüglich seines Aufenthalts in Oberschlesien an die Beklagte sei auch ohne Bedeutung gewesen, weil die Berufsgenossenschaften der Bundesrepublik keine Unfallrente an anspruchsberechtigte deutsche Staatsangehörige in den unter polnischer Verwaltung stehenden Gebieten unmittelbar zur Auszahlung gebracht hätten. Das Recht auf die Rente sei auch wieder aufgelebt, weil der Kläger während des Aufenthalts in Oberschlesien tatsächlich verhindert gewesen sei, die ihm gemäß § 615 RVO aF obliegende Anzeigepflicht zu erfüllen. Er könne daher auch für die Vergangenheit die Leistung verlangen, soweit diese nicht verjährt sei. Die Beklagte sei mithin verpflichtet, an den Kläger vom 19. März 1954 bis 18. März 1958 eine Unfallrente zu gewähren. Revision wurde zugelassen.

Die Beklagte legte gegen das Urteil Revision ein. Sie rügt fehlerhafte Anwendung materiellen Rechts und trägt vor, das Urteil stütze zu Unrecht die Nichtanwendung des Wohnsitzgrundsatzes auf mangelhafte Gleichberechtigung des Klägers gegenüber den übrigen Versicherten in O. Die am Wohnsitz des Klägers geltenden Rechtsvorschriften müßten so lange auf ihn Anwendung finden, als er in das dort bestehende Sozialversicherungssystem eingeordnet sei. Für diesen Zeitraum richteten sich die Ansprüche gegen die nach den dort geltenden sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften, wobei es unerheblich sei, ob der Kläger im Einzelfall die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung erfüllt habe. Die Geltung des Wohnsitzprinzips werde durch das vom LSG erwähnte Schreiben des polnischen Arbeits- und Sozialministeriums vom 23. Februar 1960 bestätigt. Zumindest müßte aber § 615 Abs. 1 Nr. 2 RVO analog auf diesen Fall angewandt werden.

Vorsorglich rügt die Beklagte auch mangelnde Sachaufklärung. Das LSG habe klären müssen, ob der Kläger von dem in Hindenburg/Oberschlesien geltenden sozialrechtlichen System gleichberechtigt mit den übrigen dort wohnhaften Versicherten erfaßt gewesen sei, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob er tatsächlich im Einzelfall Leistungen erhalten habe. Insbesondere fehle eine Aufklärung dahingehend, ob ein deutscher Staatsangehöriger in den unter polnischer Verwaltung befindlichen deutschen Ostgebieten einen Rechtsanspruch gegenüber dem polnischen Versicherungsträger besitze. Schließlich sei die Nichtzahlung der Rente auch gemäß § 611 RVO gerechtfertigt; denn wenn eine Rente, gleichgültig aus welchen Gründen, weggefallen sei, so sei eine Wiederbewilligung nur auf Antrag möglich.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Niedersachsen vom 22. Juni 1960 und des SG Gießen vom 26. August 1959 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig und begründet.

Zunächst ist die Beklagte zu Unrecht der Auffassung, ihre Mitteilung von 1946, die Rente könne auf Grund einer Anordnung der Militärregierung nicht gezahlt werden, sei eine Rentenentziehung, so daß nach § 611 RVO aF ein neuer Antrag erforderlich gewesen sei und infolgedessen die Rente für die Vergangenheit nicht bewilligt werden könne. Die Mitteilung bedeutet nur, daß die Rente damals nicht ausgezahlt werden durfte, nicht aber, daß der Anspruch als solcher entzogen werde; vielmehr wurde dieser durch die Mitteilung nicht berührt (vgl. BSG 6 S. 245). Da mithin keine förmliche Entziehung erfolgt ist, lebte der Anspruch ohne weiteres wieder auf, sobald die betreffende Anordnung wieder aufgehoben wurde, und zwar von diesem Zeitpunkt an.

Die Beklagte kann auch nicht geltend machen, die Rente des Klägers habe gemäß § 615 Abs. 1 Nr. 2 RVO aF während des Aufenthalts in O geruht, weil der Kläger während seines Aufenthaltes "im Ausland" es unterlassen habe, der Beklagten seinen Aufenthalt mitzuteilen. Das oberschlesische Gebiet, in dem der Kläger damals wohnte, ist nicht Ausland. Wie das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 23. Oktober 1958 (BSG 8, 195) in einer Rentenversicherungssache ausgeführt hat, sind die unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiete nicht als Ausland anzusehen, da über ihr Schicksal noch nicht entschieden ist; sie stehen zwar unter polnischer Verwaltung, sind aber nicht Teile des polnischen Staates. Das gleiche muß für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung gelten. Eine Anwendung des § 615 RVO aF würde aber zunächst voraussetzen, daß der Betreffende sich im Ausland aufhält. Ob § 615 Abs. 1 Nr. 2 RVO aF auf derartige Fälle wenigstens entsprechend anzuwenden wäre, mag dahinstehen. Selbst wenn man dies bejahen wollte, hat der Kläger ohne Verschulden die vorgeschriebene Mitteilung unterlassen, wie das LSG, von der Revision nicht angegriffen und damit für das BSG bindend, festgestellt hat (§ 163 SGG); denn er wußte in der damaligen Zeit nicht, welcher Versicherungsträger in der Bundesrepublik überhaupt zuständig war. Dabei muß noch berücksichtigt werden, daß die Beklagte ihm 1946 mitgeteilt hatte, Renten könnten nicht gezahlt werden; er hatte daher keinen Anlaß, sich an die Beklagte zu wenden, insbesondere nachdem er von der Beklagten überhaupt keine Rente bezog. Auch wenn also eine entsprechende Anwendung des § 615 Abs. 1 Nr. 2 RVO in Betracht kommen sollte, wäre der Anspruch auf die Rente nicht ausgeschlossen; er würde vielmehr wieder aufleben, weil der Kläger die Mitteilung über seinen Aufenthalt ohne Verschulden unterlassen hätte.

Die Ansprüche des Klägers richten sich auch nicht nach Fremdrentenrecht, da nach diesen Vorschriften nur Leistungen vom Zuzug in den Geltungsbereich des Gesetzes an gefordert werden können (§ 17 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes). Es muß aber weiter noch geprüft werden, ob die Ansprüche des Klägers etwa nach anderen Vorschriften ausgeschlossen sind.

Das BSG hat wiederholt für das Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung entschieden, daß keine Ansprüche für solche Zeiten bestehen, in denen der Betreffende in der sowjetischen Besatzungszone gewohnt hat und von dem dortigen Sozialversicherungssystem erfaßt war; es genügt dabei, wenn er den dortigen Versicherten gleichgestellt war und einen klagbaren Anspruch gegen den dortigen Versicherungsträger hatte, ohne daß es darauf ankommt, ob im Einzelfall die Voraussetzung für eine Leistungsgewährung im Wohngebiet erfüllt war oder nicht, desgleichen auch nicht, ob tatsächlich Leistungen gewährt wurden oder nicht (Urteil des Senats vom 20. September 1956, BSG 3, 286). Es wird auch auf das Urteil des 2. Senats vom 29. Januar 1960 (BSG 11, 271) für die gesetzliche Unfallversicherung verwiesen, wonach ein Versicherungsträger der Bundesrepublik zur Weitergewährung einer bindend zuerkannten Unfallrente jedenfalls nicht für die Zeit verpflichtet ist, während welcher der Versicherte in der sowjetischen Besatzungszone wohnt und dort wegen seiner in der Hauptsache auf einem Unfall beruhenden Invalidität eine Invalidenrente, daneben aber keine Unfallrente bezieht. Es wird ferner auf das Urteil des 2. Senats vom 29. Juni 1962 (BSG 17, 144) Bezug genommen, wonach während des Aufenthalts in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) vor der Übersiedlung in das Bundesgebiet auch dann kein Anspruch auf Rentenzahlung aus der gesetzlichen Unfallversicherung besteht, wenn der Betreffende durch eine Inhaftierung gehindert war, die SBZ zu verlassen.

Grundsätzlich ist die Beklagte als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung verpflichtet, für einen in ihrem Bereich erlittenen Arbeitsunfall Entschädigung zu leisten, auch wenn der Versicherte sich außerhalb des Geltungsbereichs der RVO aufhält. Jedoch müssen die vorgenannten, im wesentlichen für die SBZ herausgearbeiteten Rechtsgrundsätze nach Auffassung des Senats in gewissem eingeschränktem Umfange auch für die polnisch besetzten deutschen Gebiete gelten.

Es muß dann aber verlangt werden, daß die in Oberschlesien nunmehr zuständigen polnischen Versicherungsträger für die dort wohnenden Deutschen die Ansprüche übernommen haben, und zwar nicht nur bezüglich der in Oberschlesien erlittenen Unfälle, sondern auch bezüglich der Unfälle, die sich in dem jetzt zur Bundesrepublik gehörenden Teile des Deutschen Reiches ereignet haben. Dieser Personenkreis muß also wie die dort lebenden Polen einen Rechtsanspruch wegen der genannten Unfälle haben, mithin insoweit der dortigen Bevölkerung gleichgestellt sein. Dabei darf nun nicht verlangt werden, daß jeder Unfall, der nach deutschem Recht entschädigungspflichtig war, auch dort eine Rentenzahlung auslöst; vielmehr genügt es, wenn die Regelung in großen Zügen übereinstimmt. Vor allem aber müssen die Deutschen wegen der genannten Unfälle einen Rechtsanspruch auf gleiche Leistung wie die Polen haben. Es ist nicht ausreichend, daß etwa aus Billigkeitsgründen Leistungen, unter Umständen in geringerer Höhe als an die Polen, gewährt werden.

Das LSG ist auch im wesentlichen von dieser Rechtslage ausgegangen. Es fehlen jedoch für die von ihm gezogene Schlußfolgerung, der Kläger sei rechtlich nicht gleichgestellt gewesen, die entsprechenden ausreichenden Feststellungen, wie die Beklagte mit Recht rügt. Aus dem Schreiben des polnischen Arbeits- und Sozialministeriums vom 23. Februar 1960 an die Ehefrau eines Versicherten ist nur zu ersehen, daß sie die Mindestrente erhalten hat, nicht jedoch, dies sei nur darauf zurückzuführen, daß der Mann kein Pole war; die geringe Höhe der Rente kann auch auf anderen Gründen beruhen. Wenn das LSG weiter ausführt, daß nur solche Renten von den polnischen Versicherungsträgern übernommen worden seien, bei denen sich der Unfall in den jetzt unter polnischer Verwaltung stehenden Gebieten ereignet habe, so ist nicht ersichtlich, auf welchen Ermittlungen diese Schlußfolgerung beruht, insbesondere ob die dem LSG bekannten Fälle so zahlreich waren, daß sich diese Rechtsfolgerung eindeutig ziehen läßt und die Möglichkeit von Einzelfällen auszuschließen ist. Die Erklärung des Klägers vor dem SG, ein polnischer Rechtsanwalt habe ihn belehrt, er könne für diesen Unfall keine Rente erhalten, weil sich der Unfall nicht in den unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten ereignet habe, spricht für die Auffassung des LSG. Die Auskunft kann aber auch unrichtig sein, insbesondere nachdem der Kläger nicht versucht hat, irgendwelche Ansprüche geltend zu machen. Es ist also noch nicht geklärt, ob der Kläger von dem in Oberschlesien geltenden Sozialversicherungssystem gleichberechtigt erfaßt war.

Die in Betracht kommenden polnischen Rechtsnormen sind dem Senat nicht bekannt, der deutsche Richter ist aber verpflichtet, fremde Rechtsnormen zu erforschen (RJW 1934, 835, BGH NJW 1961, 410). Ist, wie hier, ausländisches Recht in der Revisionsinstanz anzuwenden, ohne daß dieses Recht bekannt ist, so steht es in der Wahl der Revisionsgerichte, dieses Recht selber festzustellen oder zu seiner Erforschung den Rechtsstreit an die Tatsacheninstanz zurückzuverweisen (vgl. Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze § 293 Anm. D I; ebenso Urteil des 4. Senats vom 25. Juni 1964 - 4 RJ 434/61 -). Von der letztgenannten Möglichkeit macht der Senat Gebrauch, einmal, um den Beteiligten Gelegenheit zu geben, an der Erforschung des in Frage kommenden Rechts selbst mitzuwirken, zum andern aber auch, weil die bisherigen Versuche des Senats, dieses Recht zu ermitteln, kein Ergebnis gehabt haben und es offenbar auch noch auf tatsächliche Umstände ankommt, die bisher noch nicht geklärt sind.

Das Urteil des LSG muß daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380261

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