Entscheidungsstichwort (Thema)

Selbständiger Verfügungssatz. Bindungswirkung

 

Orientierungssatz

Der bescheidmäßige Ausspruch, dem Anspruch auf Hinterbliebenenrente könne nicht entsprochen werden, ist nicht der einzige der formellen und materiellen Bindung zugängliche Verfügungssatz des Bescheides. Der weitere selbständige Verfügungssatz, der frühere Ehemann der Klägerin sei an den Folgen des Arbeitsunfalls gestorben, kann nach seinem Erklärungsinhalt und nach dem Erklärungswillen der Beklagten nicht als "vorgezogener Teil der Begründung" für die Ablehnung der Rente angesehen werden. Mit dem Zugang des Bescheides an die Klägerin ist die im Bescheid getroffene Feststellung, daß der frühere Ehemann der Klägerin an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorben ist, für die Beklagte in der Sache bindend geworden (vgl BSG 1976-01-27 8 RU 138/75).

 

Normenkette

SGG § 55 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03, § 77 Fassung: 1953-09-03; RVO § 592 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 30.04.1975; Aktenzeichen L 2 Ua 830/72)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 21.01.1972; Aktenzeichen S 11 U 867/68)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. April 1975 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin als frühere Ehefrau des am 6. Oktober 1967 verstorbenen Magazinarbeiters ... (M.) Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente nach § 592 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.

Die Ehe der Klägerin mit M. wurde 1963 aus dem Verschulden des Mannes geschieden. Eine Unterhaltsvereinbarung kam zwischen den Eheleuten nicht zustande. M. verpflichtete sich 1964 durch gerichtlichen Vergleich, an die vier jüngeren der sechs aus der Ehe hervorgegangenen Kinder monatlich insgesamt zunächst 210,- DM, vom 1. Juli 1965 an 240,- DM zu zahlen. Dieser Verpflichtung kam er nicht regelmäßig nach. Die Klägerin nahm eine Ganztagsbeschäftigung an und verdiente im letzten Jahr vor dem Tod des M. durchschnittlich brutto 512,- DM im Monat; in demselben Zeitraum betrug der Durchschnittsverdienst des M. als Magazinarbeiter monatlich brutto 662,- DM.

Am 6. Oktober 1967 fiel M. auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte ohne erkennbare äußere Einwirkung auf ebener trockener Straße vom Fahrrad und zog sich dabei schwere Kopfverletzungen zu, an deren Folgen er noch an der Unfallstelle starb. Eine Blutprobe ergab Nüchternwerte. Aufgrund einer am 20. November 1967 durchgeführten Sektion nahm Professor Dr. ... (...) an, M. habe beim Radfahren wahrscheinlich eine akute Coronarinsuffizienz erlitten, die zu einer Mangeldurchblutung des Gehirns und dadurch zum Sturz vom Fahrrad geführt habe; es hätten schwere stenosierende arteriosklerotische Veränderungen der Coronararterien vorgelegen.

Den vier zur Zeit des tödlichen Unfalls noch nicht 18 Jahre alten Kindern gewährte die Beklagte Waisenrenten (Bescheid vom 9. Januar 1968). Die Gewährung einer Hinterbliebenenrente an die Klägerin lehnte sie jedoch durch Bescheid vom 22. April 1968 ab. In diesem Bescheid ist ausgeführt, der im Betrieb der französischen Vertragsmacht Freiburg beschäftigt gewesene M. sei am 6. Oktober 1967 an den Folgen des an demselben Tag erlittenen Arbeitsunfalls gestorben. Dem Antrag der Klägerin auf eine Hinterbliebenenrente nach § 592 RVO könne nicht entsprochen werden. In der sich anschließenden Begründung wird auf die Ermittlungen Bezug genommen, nach denen M. zur Zeit seines Todes an die Klägerin keinen Unterhalt zu leisten hatte und auch tatsächlich während des letzten Jahres vor dem Tode keinen Unterhalt geleistet habe.

Das Sozialgericht (SG) hat aus denselben Gründen die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. Januar 1972). Das Landessozialgericht (LSG) hat - nach Beweiserhebung über die Einkommensverhältnisse des M. - durch Urteil vom 30. April 1975 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: M. sei an den Folgen eines Unfalls gestorben, der aufgrund einer inneren Ursache eingetreten sei und daher nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehe. M. habe an einer Arteriosklerose insbesondere der Herzkranzarterien gelitten. Diese habe immer wieder zu erheblichen Durchblutungsstörungen am Herzmuskel geführt. Wahrscheinlich sei M. vom Fahrrad gestürzt, weil er während der Fahrt eine Coronarinsuffizienz erlitten habe und dadurch eine Mangeldurchblutung des Gehirns eingetreten sei. Besondere Straßenverhältnisse, die zu dem Sturz beigetragen haben könnten, und auch besonders gefahrbringende Umstände, bei denen ein aus innerer Ursache eintretender Unfall als Arbeitsunfall anerkannt werden könne, seien nicht ersichtlich. M. hätte keine schwerere Verletzung erlitten, wenn er zu Fuß gegangen wäre. Eine andere Entscheidung rechtfertige sich auch nicht aus den Ausführungen im Bescheid der Beklagten, daß M. an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorben sei. Insoweit handele es sich nicht um ein Anerkenntnis oder um eine zulässige Feststellung. Anerkannt werden könnten nach § 101 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nur Ansprüche, nicht jedoch einzelne Anspruchsvoraussetzungen. Nach § 55 Abs 1 Nr 1 SGG könne nur das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses festgestellt werden. Die Beklagte habe keine Feststellung über das Bestehen eines Rechtsverhältnisses oder über den Kausalzusammenhang zwischen Tod und Arbeitsunfall iS des § 55 Abs 1 Nr 1 und 3 SGG getroffen, weil der Verfügungssatz des angefochtenen Bescheides nur laute, dem Antrag auf Hinterbliebenenrente könne nicht entsprochen werden, während es sich bei den weiteren Ausführungen lediglich um einen vorgezogenen Teil der Begründung für die Entscheidung handele.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie trägt vor: Der Tod ihres früheren Ehemannes sei entgegen der Auffassung des LSG auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen. Die Coronarinsuffizienz sei für sich allein nicht die Ursache des Todes gewesen. M. sei, um zur Arbeitsstätte zu kommen, auf das Fahrrad angewiesen gewesen. Die Benutzung des Fahrrades auf dem Weg zur Arbeitsstätte sei als ein betriebsbezogener gefahrerhöhender Umstand anzusehen. Die Folgen eines Sturzes vom Fahrrad seien in der Regel schwerer als beim Sturz eines Fußgängers. M. sei ihr auch gem. §§ 58 Abs 1, 59 Abs 1 des Ehegesetzes (EheG) zur Unterhaltsleistung verpflichtet gewesen; denn sie sei unterhaltsbedürftig und M. unterhaltsleistungsfähig gewesen. Sie habe kein eigenes Vermögen gehabt, sei kränklich und überdies durch die Versorgung ihres großen Haushalts mit vier minderjährigen Kindern neben einer Ganztagsarbeit überfordert gewesen. Die aus der Not heraus aufgenommene Erwerbstätigkeit sei für sie und ihre Kinder unzumutbar gewesen. Ihr geschiedener Ehemann sei auch ohne weiteres in der Lage gewesen, höhere Unterhaltsleistungen zu erbringen. Er habe sich teilweise beträchtliche Nebeneinnahmen durch Schwarzarbeit verschafft.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. April 1968 zu verurteilen, ihr aus Anlaß des Todes ihres geschiedenen Ehemannes Hans M. vom 5. Februar 1968 an Rente gemäß § 592 RVO zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).

Die Revision der Klägerin hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Entgegen der Auffassung des LSG hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 22. April 1968 - bindend - anerkannt, daß der frühere Ehemann der Klägerin an den Folgen eines Arbeitsunfalles gestorben ist. Der bescheidmäßige Ausspruch, dem Anspruch auf Hinterbliebenenrente könne nicht entsprochen werden, ist nicht der einzige der formellen und materiellen Bindung zugängliche Verfügungssatz des Bescheides. Die Feststellung, daß der frühere Ehemann der Klägerin am 6. Oktober 1967 an den Folgen des an demselben Tag erlittenen Arbeitsunfalls gestorben ist, enthält vielmehr einen weiteren, selbständigen Verfügungssatz. Mit dieser Feststellung hat die Beklagte anerkannt und auch tatsächlich anerkennen wollen, daß die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalles vorgelegen haben und der Tod in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfallereignis gestanden hat. Folgerichtig hat die Beklagte im Bescheid die Ablehnung der Hinterbliebenenrente auch lediglich damit begründet, der frühere Ehemann der Klägerin habe im letzten Jahr vor dem Unfall weder Unterhalt gezahlt, noch sei er zu Unterhaltsleistungen verpflichtet gewesen (vgl § 592 RVO). Der Ausspruch, der frühere Ehemann der Klägerin sei an den Folgen des Arbeitsunfalls gestorben, kann somit nach seinem Erklärungsinhalt und nach dem Erklärungswillen der Beklagten nicht als "vorgezogener Teil der Begründung" für die Ablehnung der Rente angesehen werden, wie das LSG gemeint hat. Der selbständige Verfügungssatz enthält entgegen der Ansicht des LSG nicht die Feststellung eines bloßen Tatbestandsmerkmals. Die Feststellung, daß der Tod die Folge eines Arbeitsunfalls ist, kann nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG Gegenstand einer Klage sein. Es steht deshalb grundsätzlich auch nichts einer entsprechenden Feststellung im Bescheid des Versicherungsträgers entgegen. Mit dem Zugang des Bescheides an die Klägerin ist hiernach die im Bescheid getroffene Feststellung, daß der frühere Ehemann der Klägerin an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorben ist, für die Beklagte in der Sache bindend geworden (§ 77 SGG; vgl auch BSGE 24, 162, 164 ff und Urteil des 8. Senats des BSG vom 27. Januar 1976 - 8 RU 138/75 -).

Ob der Klägerin eine Hinterbliebenenrente zusteht, hängt somit nur davon ab, ob M. ihr zur Zeit seines Todes Unterhalt zu leisten hatte oder wenigstens während des letzten Jahres vor seinem Tode geleistet hat (§ 592 Abs 1 Satz 1 RVO).

Das LSG hat - von seiner erst im Laufe des Berufungsverfahrens eingenommenen Rechtsauffassung ausgehend - die Ermittlungen über die für den Anspruch nach § 592 RVO entscheidungserheblichen Umstände nicht abgeschlossen. Im Urteil sind insoweit keine hinreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen. Insbesondere fehlen Feststellungen darüber, welcher Betrag im maßgeblichen Zeitraum dem geschiedenen Ehemann der Klägerin neben anderen vorrangigen oder gleichrangigen Verpflichtungen noch für eine etwaige Unterhaltsleistung an die Klägerin zur Verfügung stand und in welchem Umfang die Klägerin - unter Außerachtlassung etwaiger durch unzumutbare Erwerbstätigkeit erzielter Einkünfte - unterhaltsbedürftig war.

Da das Bundessozialgericht mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen in der Sache nicht entscheiden kann, mußte der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, damit die nötigen Feststellungen nachgeholt werden können (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655894

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