Leitsatz (amtlich)

Ein Gerüstbauvorarbeiter, der nur noch Hilfsarbeitertätigkeiten und ähnliche Arbeiten verrichten kann, ist berufsunfähig.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. November 1969 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit zusteht.

Der Kläger, der von 1927 bis 1945 verschiedene Tätigkeiten außerhalb des Bergbaus ausübte, war im Bergbau von 1945 bis 1951 Gleisbauarbeiter und Kesselreiniger. Anschließend war er außerhalb des Bergbaus Gerüstbauer und von Dezember 1961 bis Februar 1964 Gerüstbauvorarbeiter. Diese Tätigkeit gab er aus gesundheitlichen Gründen auf.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag des Klägers vom 2.Juni 1966 mit Bescheid vom 24. November 1966 ab, weil der Kläger nach dem eingeholten Gutachten noch in der Lage sei, als Magazinarbeiter, Markenausgeber, Motorenwärter, Telefonist, Lampenstubenarbeiter, Bote, Pförtner und Wächter zu arbeiten. Er sei daher weder berufsunfähig noch vermindert bergmännisch berufsfähig. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 14. November 1967 abgewiesen, nachdem es eine Auskunft des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen und einen ärztlichen Befundbericht eingeholt hatte. Das Landessozialgericht (LSG) hat eine Auskunft der Firma T und einen Befundbericht des Dr. R eingeholt. Außerdem hat es zu den Tätigkeiten eines Gerüstbauers und Gerüstbauvorarbeiters einen Sachverständigen gehört. Das LSG hat mit Urteil vom 27. November 1969 das Urteil des SG geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Juni 1966 an zu gewähren. Das LSG hat angenommen, es sei von der Tätigkeit eines Gerüstbauvorarbeiters auszugehen, denn diese Tätigkeit habe der Kläger aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. Sie sei der Tätigkeit eines Facharbeiters gleichzustellen. Zwar handele es sich nicht um einen anerkannten Lehr- oder Anlernberuf. Schon die Tätigkeit eines Gerüstbauers erfordere eine Anlernzeit von zwei Jahren. Diese Ausbildung sei der eines anerkannten Anlernberufes vergleichbar. Der Kläger habe als Gerüstbauvorarbeiter darüber hinausgehende Kenntnisse und Fähigkeiten. Er habe eine Kolonne von vier bis sechs Gerüstbauern beaufsichtigt und sei für die Herbeischaffung des notwendigen Materials verantwortlich gewesen, für das er Maß und Mengen selbständig festgestellt habe. Auch ein Lohnvergleich mit anderen Facharbeitern spreche dafür, schon den Gerüstbauer dem Facharbeiter gleichzustellen. Jedenfalls aber sei der Gerüstbauvorarbeiter in die höchste Gruppe der Arbeiterberufe einzuordnen. Die für den Kläger gesundheitlich noch in Betracht kommenden Arbeiten als Magazinarbeiter, Markenausgeber, Motorenwärter, Telefonist, Lampenstubenarbeiter, Bote, Pförtner und Wächter seien für ihn sozial nicht zumutbar. Der Kläger sei daher berufsunfähig.

Die Beklagte rügt mit der vom LSG zugelassenen Revision eine Verletzung der §§ 46 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG), 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Beklagte ist der Ansicht, weder der Gerüstbauer noch der Gerüstbauvorarbeiter sei in die Gruppe der Lehrberufe einzuordnen. Die Tätigkeit eines Gerüstbauers sei eine ungelernte Tätigkeit. Daran ändere die Höhe des erzielten Lohnes nichts. Der Kläger habe als Gerüstbauvorarbeiter also nur ungelernte Arbeiter beaufsichtigt. Damit stehe er aber in der sozialen Skala nur unwesentlich über diesen. Er habe insbesondere keine besondere Ausbildung. Um aus der Masse gleichartiger Arbeiter als Vorarbeiter herausgehoben zu werden, komme es in erster Linie auf allgemeine menschliche Qualitäten an, insbesondere darauf, daß es der Vorarbeiter verstehe, sich gegenüber den ihm unterstellten Arbeitern durchzusetzen. Der Kläger könne lediglich auf solche Tätigkeiten nicht verwiesen werden, die zu den sozial am geringsten zu bewertenden zählen. Die Fähigkeit zur Verrichtung der im Ablehnungsbescheid genannten Tätigkeiten schließe Berufsunfähigkeit aus.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Duisburg vom 14. November 1967 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig.

II

Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg; denn das LSG hat die Beklagte mit Recht verurteilt, dem Kläger die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Juni 1966 an zu gewähren. Der Kläger ist berufsunfähig im Sinne der §§ 46 RKG, 1246 RVO.

Das LSG ist bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit zutreffend von der Tätigkeit eines Gerüstbauvorarbeiters ausgegangen. Auch die Beklagte verkennt nicht, daß dies der bisherige Beruf des Klägers ist. Der Kläger hat sich von den früher verrichteten Tätigkeiten gelöst, so daß sie als Ausgangspunkt für die Prüfung der Berufsunfähigkeit ausscheiden. Die Tätigkeit eines Gerüstbauvorarbeiters aber hat der Kläger nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG, an die der Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden ist, aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen, so daß sie für die Prüfung der Berufsunfähigkeit maßgebend ist.

Dem LSG ist auch darin zuzustimmen, daß die Tätigkeit eines Gerüstbauvorarbeiters hinsichtlich der Zumutbarkeit der Verweisungstätigkeiten mindestens der Tätigkeit eines Facharbeiters gleichzustellen ist. Zwar handelt es sich nicht um einen Lehr- oder anerkannten Anlernberuf. Der Senat hat aber bereits mehrfach entschieden, daß eine Tätigkeit, die nicht zu den Lehr- oder anerkannten Anlernberufen gehört, ebenso wie diese bewertet werden kann, wenn die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten gleichwertige Bedeutung haben (vgl. SozR Nrn 25, 26 zu § 46 RKG, 80 zu § 1246 RVO). Bei der Gruppe der Vorarbeitertätigkeiten wird man die Frage nicht generell beantworten können, ob die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten denen eines Lehr- oder anerkannten Anlernberufes gleichzubewerten sind. Soweit der Vorarbeiter solche Tätigkeiten zu beaufsichtigen hat, die selbst zu den Lehr- oder anerkannten Anlernberufen gehören, wird man seine Kenntnisse und Fähigkeiten jedenfalls nicht geringer bewerten können als die der beaufsichtigenden Arbeiter. Schwierigkeiten macht die Einordnung solcher Vorarbeiter, die nicht zu den Lehr- oder anerkannten Anlernberufen gehörige Tätigkeiten beaufsichtigen. Das Merkmal der Aufsichtsführung genügt allein noch nicht, um den erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten gleiche Bedeutung mit den Lehr- und anerkannten Anlernberufen zuzuerkennen. Es gibt solche Vorarbeitertätigkeiten, die sich nur unwesentlich von den beaufsichtigten reinen Hilfsarbeiten unterscheiden, weil das Hauptgewicht dieser Tätigkeit im Mit- und Vormachen liegt und die Aufsicht nur relativ geringe Bedeutung hat. Dieser Art war die Tätigkeit des Klägers aber nicht. Er hat keine reinen Hilfsarbeiten beaufsichtigt, sondern Tätigkeiten, zu deren Verrichtung eine Mindestberufserfahrung von zwei Jahren erforderlich ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob in diesen zwei Jahren Kenntnisse und Fähigkeiten erlangt werden, die denen eines Facharbeiters gleichzubewerten sind. Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, so ist doch zu berücksichtigen, daß der Gerüstbauvorarbeiter Kenntnisse und Fähigkeiten haben muß, die über die eines Gerüstbauers hinausgehen. Es ist keineswegs so wie die Beklagte meint, daß jeder Gerüstbauer die Tätigkeit eines Gerüstbauvorarbeiters ohne weiteres verrichten kann, wenn er nur über die menschlichen Qualitäten verfügt und insbesondere sich gegenüber den ihm unterstellten Arbeitern durchzusetzen vermag. Der Gerüstbauvorarbeiter benötigt nach den Feststellungen des LSG über die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Gerüstbauers hinaus zusätzliche Kenntnisse und Fähigkeiten, die in einer Zeit von zwei Jahren erworben werden. Die gesamte Berufsentwicklung bis zum Gerüstbauvorarbeiter beträgt also vier Jahre. Der Gerüstbauvorarbeiter muß nicht nur die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Gerüstbauers haben, die in zwei Jahren erworben werden können, sondern er muß sich in weiteren zwei Jahren zusätzliche Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen; dazu gehören insbesondere die Führung und der Einsatz einer Kolonne, die Überwachung der ordnungsgemäßen Ausführung von Gerüstarbeiten, das Lesen von Zeichnungen, die Ermittlung des für ein Gerüst erforderlichen Materials, das Aufmaß der vorkommenden Gerüste, die Führung von Arbeitsbelegen, die Kenntnis der Gewichte von Gerüstmaterialien, die Ausbildung für erste Hilfe. Schon die Dauer der erforderlichen Berufsentwicklung spricht dafür, daß die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Gerüstbauvorarbeiters denen eines Facharbeiters gleichzubewerten sind. Das wird dadurch bestätigt, daß der Tariflohn eines Gerüstbauvorarbeiters nicht unerheblich über dem Tariflohn anderer Facharbeiter liegt. Damit mögen zwar nicht ausschließlich die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten eines Gerüstbauvorarbeiters honoriert werden, sondern zum Teil auch die Gefährlichkeit und Schwere des Berufes. Da aber der Tariflohn einiger anderer Facharbeiter (z.B. eines Hauers), die ebenfalls eine schwere und gefährliche Arbeit verrichten, noch unter dem Lohn eines Gerüstbauvorarbeiters liegt, bleibt die Höhe des Lohnes doch ein wichtiges Indiz dafür, daß der Gerüstbauvorarbeiter in den Augen der Umwelt und für seinen Betrieb mindestens die gleiche Bedeutung hat wie der gelernte Facharbeiter.

Geht man aber davon aus, daß die Tätigkeit eines Gerüstbauvorarbeiters der eines Facharbeiters gleichzubewerten ist, so kann der Kläger nicht auf die Tätigkeiten verwiesen werden, zu deren Verrichtung er gesundheitlich nur noch in der Lage ist. Es handelt sich dabei ausschließlich um solche Tätigkeiten, die keine besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen und die sich auch nicht durch besondere Anforderungen an das Verantwortungsbewußtsein, die Zuverlässigkeit und geistige Wendigkeit von den reinen Hilfsarbeitertätigkeiten unterscheiden. Diese Tätigkeiten sind dem Kläger nach den §§ 46 RKG, 1246 RVO nicht zumutbar. Der Kläger ist also berufsunfähig.

Die danach unbegründete Revision der Beklagten muß zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 231

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