Leitsatz (amtlich)

Hat der Versicherungsträger in einem bindend gewordenen Bescheid über die (Wieder-) Herstellung der Versicherungsunterlagen (VuVO § 11) eine Zeit als Ersatzzeit nach RVO § 1251 eingetragen, obwohl sie richtigerweise als Ersatzzeit nur für die Erfüllung der Wartezeit nach ArVNG Art 2 § 9 rechnet (Krankheitszeit vor dem 1938-01-01) so ist er an die im (Wieder-)Herstellungsbescheid getroffene rechtliche Einordnung auch bei der späteren Rentenfestsetzung gebunden.

 

Normenkette

RVO § 1251 Fassung: 1965-06-09; ArVNG Art. 2 § 9 Fassung: 1957-02-23; VuVO § 11 Fassung: 1960-03-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 31. Oktober 1968 und des Sozialgerichts Hamburg vom 19. September 1967 aufgehoben sowie der Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 1966 geändert.

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger das Altersruhegeld unter Berücksichtigung von 49 Versicherungsjahren zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

I

Streitig ist, ob für die Berechnung des Altersruhegeldes eine dreiwöchige Krankheitszeit des Klägers im Jahre 1927 als Ersatzzeit bei der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre zu berücksichtigen ist (§ 1258 Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Die Beklagte hatte diese Zeit in zwei Bescheiden über den Versicherungsverlauf vom 6. August und 16. Dezember 1964 als Ersatzzeit nach § 1251 RVO bezeichnet und als solche auch bei dem vom März 1966 an gewährten Altersruhegeld angerechnet (Bescheid vom 27. Juni 1966).

Mit der Klage begehrte der Kläger ein höheres Altersruhegeld unter Berücksichtigung einer weiteren Beschäftigungszeit im Januar 1943. Die Beklagte erkannte diese Zeit an und erteilte am 20. Dezember 1966 dem Kläger einen neuen Bescheid, der gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Rechtsstreits wurde. Dieser Bescheid wich jedoch hinsichtlich der Anzahl der Versicherungsjahre und der Rentenhöhe von dem angefochtenen Bescheid nicht ab, weil die Beklagte die streitige Ersatzzeit nunmehr als solche nach Art. 2 § 9 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) angesehen und nicht mehr bei der Berechnung der Versicherungsjahre berücksichtigt hatte. Der Kläger hält dieses Vorgehen für rechtswidrig. Die Ersatzzeit gemäß § 1251 RVO sei bereits bindend anerkannt gewesen.

Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) begründete seine Auffassung damit, daß die streitige Zeit keine Ersatzzeit im Sinne von § 1251 RVO sei und nur entsprechend Art. 2 § 9 ArVNG Berücksichtigung finden könne. Der erste Bescheid über die Gewährung des Altersruhegeldes stehe dem nicht entgegen, da die Berechnungsfaktoren nicht die Bindungswirkung des Verfügungssatzes teilten. Auch der im Erneuerungsverfahren ergangene Bescheid binde die Beklagte nicht in der Wertung der Ersatzzeit im Hinblick auf die Rentenberechnung; denn er diene nur dem Nachweis der Tatsachen, die sich sonst aus den Versicherungsunterlagen ergäben; es handle sich jedoch nicht um die bindende Anerkennung von Berechnungsfaktoren (Urteil vom 31. Oktober 1968).

Mit der zugelassenen Revision begehrt der Kläger weiterhin die Anrechnung der dreiwöchigen Ersatzzeit, was für ihn zu einer Erhöhung der Versicherungszeit um ein halbes Jahr führen würde. Er meint, der Bescheid über den Versicherungsverlauf stelle hinsichtlich der Wertung der Krankheitszeit als Ersatzzeit ein echtes Anerkenntnis dar, das die Beklagte nicht mehr ändern könne.

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 19. September 1967 sowie der Bescheide der Beklagten vom 27. Juni 1966 und 20. Dezember 1966 die Beklagte zu verurteilen, ihm ein höheres Altersruhegeld unter Berücksichtigung eines weiteren halben Versicherungsjahres zu gewähren.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.

Sie hält die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts für zutreffend. Auch könne der Bescheid über den Versicherungsverlauf keine weitergehenden Rechtswirkungen haben als die Versicherungsunterlagen selbst. Die in den Versicherungskarten üblicherweise enthaltenen Tatsachen seien aber lediglich die Grundlage für die nach Eintritt des Versicherungsfalles erfolgende Berechnung der Leistung.

II

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet.

Das LSG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß es entscheidend darauf ankomme, ob die von der Beklagten in den Bescheiden vom 6. August und 16. Dezember 1964 sowie vom 27. Juni 1966 irrtümlich als Ersatzzeit im Sinne von § 1251 RVO qualifizierte Zeit der Krankheit vom 14. Februar bis 6. März 1927 kraft der Bindungswirkung der Bescheide der Berechnung des Altersruhegeldes unabänderlich zugrunde zu legen ist. Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, wenn das LSG diese Zeit als Ausfallzeit im Sinne von § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO einordnet, die wegen der höheren, bereits angerechneten pauschalen Ausfallzeit (Art. 2 § 14 ArVNG) keinen Einfluß auf die Anzahl der Versicherungsjahre hat. Dem LSG kann jedoch nicht gefolgt werden, soweit es das Urteil darauf stützt, daß es der Beklagten unbenommen war, diese Zeit nachträglich als sog. unvollständige Ersatzzeit im Sinne von Art. 2 § 9 ArVNG zu behandeln.

Dieses Vorgehen widerspricht dem Inhalt der Bescheide vom 6. August und 16. Dezember 1964. Die Bescheide verweisen in ihren Erklärungen für die Abkürzung EZ eindeutig auf § 1251 RVO, also auf die echten Ersatzzeiten nach der RVO. Das ist vor allem im Hinblick auf § 1258 Abs. 1 RVO wesentlich, weil Ersatzzeiten dieser Art nicht nur für die Erfüllung der Wartezeit angerechnet werden, sondern als Versicherungszeit in die Rentenberechnung eingehen. Art. 2 § 9 ArVNG bezieht sich dagegen auf die Ersatzzeiten alten Rechts, die allein für die Erfüllung der Wartezeit von Bedeutung waren (§§ 1263, 1264 RVO in der bis zum 31.12.1937 geltenden Fassung). Diese Vorschrift wird dann bedeutsam, wenn die Wartezeit nur mittels solcher unechter Ersatzzeiten erfüllt ist. Dies trifft hier nicht zu. Wenn die Erläuterungen der Bescheide unter den beispielhaft angeführten Ersatzzeiten auch auf "volle Krankheitswochen vor dem 1.1.1938" verweisen, so stehen sie damit in Widerspruch zur Definition der Ersatzzeit mittels alleiniger Bezugnahme auf die Vorschrift des § 1251 RVO. Überdies sind vor dem 1. Januar 1938 liegende Krankheitszeiten auch als echte Ersatzzeiten, nämlich "anschließende Krankheitszeiten" im Sinne von § 1251 RVO, denkbar. Die Beklagte muß sich daher von der Definition "EZ = Ersatzzeit (§ 1251 RVO)" in den Erläuterungen der beiden Bescheide über den Versicherungsverlauf festhalten lassen. Dies um so mehr, als in der Anlage 2 zum zweiten Rentenbescheid vom 20. Dezember 1966 - nachdem die Beklagte ihren Fehler erkannt hatte - die dreiwöchige Krankheitszeit im Jahre 1927 erstmals als "EZ 2/9 = Nur auf die Wartezeit anrechenbare Ersatzzeit" bezeichnet wird. Gerade daraus erhellt, daß es sich bei der ursprünglichen Zuordnung der Krankheitszeit in den Bescheiden über den Versicherungsverlauf als Ersatzzeit nicht um einen bloßen Schreibfehler, sondern um einen Rechtsfehler handelt.

Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, folgt die Bindung nicht bereits daraus, daß die Beklagte noch in der Anlage 3 zu dem das Altersruhegeld bewilligenden ersten Bescheid vom 27. Juni 1966 den streitigen Zeitraum als Ersatzzeit im Sinne von § 1251 RVO aufführte und erst im späteren Bescheid vom 20. Dezember 1966 die Richtigstellung erfolgte. Denn die Berechnungsfaktoren und rechtlichen Erwägungen nehmen an der Bindungswirkung eines Rentenbescheides nicht teil (vgl. BSG in SozR Nr. 13, 24, 58 zu § 77 SGG und SozR Nr. 6 zu § 1254 RVO).

Anders ist aber die Rechtslage hinsichtlich der im Erneuerungsverfahren ergangenen Bescheide vom 6. August und 16. Dezember 1964. Sie binden die Beklagte insoweit, als sie darin den Zeitraum vom 14. Februar bis 6. März 1927 als Ersatzzeit nach § 1251 RVO eingetragen hat. Es besteht nämlich ein Unterschied zwischen den Fällen, in denen bei Feststellung einer Rente Zeiten nicht richtig berücksichtigt werden, und den Fällen, in denen - wie hier - der Rentengewährung die Wiederherstellung der Versicherungsunterlagen außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens nach § 11 der Versicherungsunterlagen-Verordnung vom 3. März 1960 (VuVO) vorausgegangen ist. In dem das Wiederherstellungsverfahren abschließenden Bescheid wird der Nachweis über die entrichteten Beiträge sowie über Ersatz- und Ausfallzeiten erbracht (§§ 1411, 1412 RVO). Es handelt sich um feststellende Verwaltungsakte, mit denen der Versicherungsträger gesetzliche Tatbestandsmerkmale einer künftigen Leistungsgewährung ausnahmsweise im voraus feststellt. In diesen Fällen ist der Gegenstand des Verwaltungsakts die Rekonstruktion des Versicherungsverlaufs; die einzelnen Eintragungen sind nicht bloßes Berechnungsmerkmal. Anders als beim Rentenbescheid betrifft somit der der Bindungswirkung fähige Verfügungssatz des Wiederherstellungsbescheides gerade die in ihm aufgeführten Versicherungszeiten. Die Bindung bezieht sich daher sowohl auf die anerkannten Versicherungszeiten als z. B. auch auf die dabei etwa vorgenommene Einstufung in Leistungsgruppen (ebenso Urteil des 1. Senats des BSG vom 30.9.1969 - 1 RA 227/68).

An die falsche rechtliche Beurteilung der Krankheitszeit als Ersatzzeit im Sinne von § 1251 RVO ist somit die Beklagte, nachdem die Wiederherstellungsbescheide formell unanfechtbar geworden sind, gebunden (§ 77 SGG), soweit nicht unter den besonderen Voraussetzungen des § 1744 RVO eine neue Prüfung vorgenommen werden kann. Das bestätigt auch der später angefügte Absatz 3 von § 11 VuVO, der die Bindungswirkung sogar auf Dritte erstreckt, die eigene Bindung des den Feststellungsbescheid erlassenden Versicherungsträgers also voraussetzt. Entgegen der Ansicht der Revision bedarf es für dieses Ergebnis allerdings nicht der Annahme eines materiell-rechtlichen Anerkenntnisses der Beklagten; denn für ein solches ist im Rahmen von § 11 VuVO kein Raum. Die Beklagte hat insoweit keinen Entscheidungsspielraum, eine selbständige Verpflichtung zu begründen. Die Bindung der Beklagten an die einmal getroffene rechtliche Einordnung der Krankheitszeit ist allein formeller Art und folgt aus § 77 SGG (so auch das Urteil des 1. Senats aaO). Es dient der Rechtssicherheit, daß das Verfahren zur Wiederherstellung der Versicherungsunterlagen nicht als reines Beweissicherungsverfahren, sondern als förmliches Verwaltungsfeststellungsverfahren ausgestaltet ist, das durch einen - nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist bestandskräftigen - Verwaltungsakt abgeschlossen wird. Der Versicherte soll durch den Verwaltungsakt eine Rechtsposition erhalten, auf Grund der er darauf vertrauen kann, daß im Leistungsfall seine im Bescheid wiederhergestellten Versicherungszeiten angerechnet werden.

Diesem Vertrauensschutz wird im Hinblick auf die von den Versicherungsträgern derzeit angestrebte integrierte Datenverarbeitung in Zukunft sogar noch größere Bedeutung zukommen (vgl. hierzu die Angestelltenversicherung 1970, S. 212; Der Kompaß 1970, S. 281). Ziel der vorgesehenen maschinellen Datenspeicherung wird es sein, die Ansprüche für die Versicherten in Form von regelmäßigen Kontoauszügen sichtbar zu machen. Der Versicherte soll wissen, welche Zeiten für ihn erfaßt worden sind und welche Ansprüche und sogar welche Rentenhöhe er zur Zeit der Übersendung des Kontoauszuges bereits erreicht hat. Dieser Zweck kann jedoch nur erreicht werden, wenn sich der Versicherte auf die Richtigkeit des Inhalts des Kontoauszuges verlassen kann, dieser mithin für die Beteiligten verbindlich ist.

Das aus der Bindungswirkung der beiden Feststellungsbescheide aus dem Jahre 1964 folgende Ergebnis wird schließlich auch nicht durch den Hinweis entkräftet, daß diese Bescheide keine weitergehenden Rechtswirkungen haben können als die Versicherungsunterlagen selbst. Es ist zwar richtig, daß die Bindung bei den die Versicherungszeiten wiederherstellenden Bescheiden nur in demselben Maße eintreten kann, wie sie für die Eintragungen in den Versicherungskarten gilt. Insoweit hat das LSG zwar zutreffend auf die gleichartige Funktion des Bescheids über den Versicherungsverlauf und der Eintragung in die Originalunterlagen verwiesen. Die Wirkung dieser Eintragungen beschränkt sich jedoch nicht auf den "Nachweis von Tatsachen". Das gilt insbesondere dann nicht, wenn der Versicherungsträger Ersatzzeiten eingetragen hat. Denn die Eintragung einer solchen Zeit setzt bereits eine rechtliche Wertung von Tatsachen voraus und ermöglicht dem Versicherten, schon vor Eintritt des Versicherungsfalls Klarheit über seine versicherungsrechtliche Stellung zu erhalten. Das Bundessozialgericht hat daher in seiner Entscheidung vom 8. Juli 1970 - 11 RA 164/67 - auch die Eintragung einer Ersatzzeit durch den Versicherungsträger in eine Versicherungskarte als feststellenden Verwaltungsakt gewertet, damit bereits vor Eintritt des Versicherungsfalles der Rechtscharakter einer Zeit als Ersatzzeit verbindlich geklärt werden kann.

Da somit die in den beiden Feststellungsbescheiden aufgeführte zusätzliche Ersatzzeit von drei Wochen in die dem letzten Rentenbescheid vom 20. Dezember 1966 zugrunde gelegte Rentenberechnung einzubeziehen ist, erhöht sich die Anzahl der anrechenbaren Versicherungsjahre von 48,5 auf 49 Jahre (§ 1258 Abs. 3 RVO). Mit dieser Maßgabe ist - unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG - die Beklagte zu verpflichten, den Rentenbescheid zu ändern (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 110

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