Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 09.03.1960)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. März 1960 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin und den Beigeladenen Ott und Gloning die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin hat den Beigeladenen Fritz G… im Jahre 1954 und den Beigeladenen Josef O… im Jahre 1955 als Schreiner beschäftigt und untertariflich entlohnt. Die Beiträge zur Sozialversicherung hat sie nach dem tatsächlich gezahlten Lohn entrichtet.

Die beklagte Krankenkasse verlangte von der Klägerin mit Bescheid vom 27. Februar 1956 die Nachentrichtung des Unterschiedsbetrages zwischen den entrichteten Beiträgen und den Beiträgen, die bei tariflicher Lohnzahlung zu leisten gewesen wären. Mit dem Widerspruch machte die Klägerin geltend, das Finanzamt habe die Entrichtung der Lohnsteuer nach dem tatsächlich gezahlten Lohn gutgeheißen. Der Widerspruch wurde mit der Begründung zurückgewiesen, nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (RVA) sei der Arbeitgeber zur Beitragsentrichtung unter Zugrundelegung des Entgelts verpflichtet, auf das der Arbeitnehmer – unter Berücksichtigung des maßgebenden Tarifvertrags – Anspruch habe (Bescheid vom 31. Juli 1956).

Das Sozialgericht (SG) hat die auf Aufhebung der Beitragsnachforderung gerichtete Klage mit Urteil vom 12. September 1957 abgewiesen. Nach Auffassung des SG kommt es für die Beitragsbemessung bei untertariflicher Entlohnung auf den geschuldeten Tariflohn an.

Mit der Berufung machte die Klägerin geltend, nach dem Gemeinsamen Erlaß des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers vom 10. September 1944 (AN 1944, 281) – Gem. Erlaß 1944 – seien die Beiträge zur Sozialversicherung grundsätzlich von dem Betrage zu berechnen, der für die Berechnung der Lohnsteuer maßgebend sei. Da aber die Lohnsteuer nur von den Bezügen berechnet werde, die dem Arbeitnehmer zugeflossen seien, könnten auch nur nach diesem Betrage die Beiträge bemessen werden.

Das Landessozialgericht (LSG) ist dieser Auffassung beigetreten und hat antragsgemäß das Urteil des SG und den Beitragsbescheid der beklagten Krankenkasse aufgehoben; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 9. März 1960).

Gegen dieses Urteil hat die beklagte Krankenkasse Revision eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 12. September 1957 zurückzuweisen.

Sie führte aus: Auch wenn der Gem. Erlaß 1944 der Beitragsbemessung zugrunde gelegt werde, sei bei untertariflicher Entlohnung der geschuldete Tariflohn maßgebend. Ein Verzicht des Arbeitnehmers auf nicht ausgezahlten, aber geschuldeten Lohn ändere nichts daran, daß Lohnsteuer für den vollen geschuldeten Lohnbetrag zu entrichten sei. Das gleiche müsse für die Beiträge zur Sozialversicherung gelten. Im übrigen sei die Sozialgerichtsbarkeit nicht an Entscheidungen der Finanzbehörden gebunden.

Die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) hat sich den Ausführungen der beklagten Krankenkasse angeschlossen.

Hingegen teilt die beigeladene Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) den Standpunkt des LSG. Sie weist ergänzend darauf hin, daß die in der Revisionsbegründung zitierten Entscheidungen des Reichsfinanzhofs überholt seien (vgl. Urt. des Obersten Finanzgerichts vom 9. März 1948 – Amtsbl. d. Bay. Finanzmin. 1948, 125 –). Auch der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) habe mit Erlaß vom 2. April 1955 (Das Beitragsrecht S. 310) die Auffassung vertreten, Beiträge zur Sozialversicherung seien bei untertariflicher Entlohnung nur vom ausgezahlten Entgelt zu entrichten.

Die Klägerin und die Beigeladenen G.… und O.… haben sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der beklagten Krankenkasse ist nicht begründet.

Zutreffend ist das LSG bei der Beurteilung der Frage, ob die Klägerin die Beiträge zur Sozialversicherung für die Beigeladenen G.… und O.… nach dem tatsächlich gezahlten oder nach dem geschuldeten Lohn – unter Berücksichtigung des maßgebenden Tarifvertrags – zu entrichten hat, von dem Gem. Erlaß des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers vom 10. September 1944 betr. die weitere Vereinfachung des Lohnabzugs (AN 1944, 281) – Gem. Erlaß 1944 – ausgegangen. Dieser Erlaß ist geltendes Recht (BSG 6, 47, 51; vgl. auch BSG 16, 91, 94). Zum Zweck einer möglichst einfachen Berechnung der auf das Arbeitsverhältnis bezogenen Beiträge und Steuern sind hiernach die Beiträge zur Sozialversicherung grundsätzlich von dem Betrage zu berechnen, der für die Berechnung der Lohnsteuer maßgebend ist (Abschn. I Satz des Gem. Erlasses 1944). Daß diese Regelung nur “grundsätzlich” gilt, macht sie nicht etwa zur bloß programmatischen Erklärung, sondern verweist auf die in Abschn. I Satz 2 des Erlasses 1944 aufgeführten Ausnahmen (vgl. die schon angeführte Entscheidung in BSG 6, 53 ff). Um jeden Zweifel auszuräumen, bestimmt der Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 24. Oktober 1944 (AN 1944, 302) in Abs. 1, 1. Halbs. überdies noch ausdrücklich, daß Lohnbezüge, die nach dem Gem. Erlaß 1944 bei der Berechnung der Beiträge zur Sozialversicherung außer Ansatz bleiben, nicht als Entgelt im Sinne der Sozialversicherung anzusehen sind. Nach dem “Untergang des eigenständigen Entgeltsbegriffs der Sozialversicherung” (so zutreffend v. Altrock, Die Sozialgerichtsbarkeit 1960, 33) können somit die Rechtsgrundsätze, die zum Entgeltungsbegriff des § 160 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entwickelt worden sind, grundsätzlich nicht mehr angewandt werden. Das gilt insbesondere von dem in der ständigen Rechtsprechung des RVA für alle Gebiete des Sozialversicherungsrechts festgehaltenen Grundsatz, daß für die Berechnung der Beiträge nicht der tatsächlich gezahlte Lohn, sondern der Lohn maßgebend ist, auf dessen Zahlung der Versicherte bei Fälligkeit des Beitrags einen Anspruch hatte (vgl. Grunds. Entsch. Nr. 5193, AN 1938, 193, 194; vgl. auch Grunds. Entsch. Nr. 3948, AN 1931, 34 und Grunds. Entsch. Nr. 5017, AN 1936, 275). Die Frage der Beitragspflicht bei untertariflicher Entlohnung kann vielmehr nach Inkrafttreten des Gem. Erlasses 1944 nur danach beurteilt werden, welcher Entgelt für die Berechnung der Lohnsteuer maßgebend ist.

Da es sich im vorliegenden Fall um Beiträge für 1954 und 1955 handelt, ist auf das für diese Zeiträume geltende Lohnsteuerrecht zurückzugreifen, d.h. auf das Einkommensteuergesetz – EStG – idF der Bekanntmachung vom 15. September 1953 (BGBl. 1953 I 1355) i.V.m. der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung idF vom 10. November 1953 – LStDV 1954 – (BGBl. 1953 I 1524) sowie auf das EStG idF der Bekanntmachung vom 21. Dezember 1954 (BGBl. 1954 I 441) i.V.m. der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung idF vom 27. August 1955 – LStDV 1955 – (BGBl. 1955 I 542). Die genannten Vorschriften stimmen in den hier maßgebenden Teilen überein; es wird daher im folgendem nur das jüngere Recht – d.h. EStG idF vom 21. Dezember 1954 und die LStDV 1955 – zitiert. Die Lohnsteuer ist eine Sonderform der Einkommensteuer (vgl. § 38 Abs. 1 Satz 1 EStG). Von den Einkunftsarten, die einkommensteuerpflichtig sind (§ 2 Abs. 3 EStG), erfaßt die Lohnsteuer nur die “Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit” (§ 38 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 Nr. 4 EStG); diese sind durch § 8 Abs. 1 EStG dahin gekennzeichnet, daß es sich um in Geld oder Geldeswert bestehende Güter handeln muß, die dem Steuerpflichtigen “zufließen”. Auf diese Vorschriften zurückgreifend und sie auf den Sonderfall der Lohnsteuer anwendend, bestimmt daher § 2 Abs. 1 Satz 1 LStDV 1955, daß Arbeitslohn alle Einnahmen sind, die dem Arbeitnehmer aus dem Dienstverhältnis oder einem früheren Dienstverhältnis zufließen (vgl. auch § 11 Abs. 1 Satz 1 EStG).

Ob ein lohnsteuerpflichtiger Arbeitslohn vorliegt, hängt somit entscheidend vom Merkmal des “Zufließens” ab. Wie allgemein im Steuerrecht anerkannt wird, ist dieser Begriff wirtschaftlich bestimmt und unabhängig von dem der Fälligkeit. Ein Zufließem in diesem Sinne liegt vor, wenn und sobald die Einnahme in bar oder in geldwerten Gütern so in die Vermögenssphäre des Gläubigers gelangt ist, daß er darüber verfügen kann, ohne daß es darauf ankommt, auf welchen Zeitraum sich der zugeflossene Betrag bezieht (so Graß/Höfer/Lenski/Böttcher/Kramer, Großkommentar zum EStG, Stand: November 1963, § 11 Anm. 2b, ähnlich Blümich/Falk, EStG 8. Aufl. § 11 Anm. 2a; Reichsfinanzhof in RFH 24, 272, 276; RStBl. 1935, 697, 698; RStBl. 1942, 77). Außer dem klaren Fall der Zahlung eines geschuldeten Betrages können somit auch andere Rechtshandlungen als Zahlungsgeschäfte – wie Gutschriften, Verrechnungen u.ä. – den Tatbestand des “Zufließens” i.S.d. Lohnsteuerrechts erfüllen, sofern damit dem Berechtigten eine wirtschaftliche Verfügungsmacht über den in bar oder in geldwerten Gütern überwiesenen Betrag eingeräumt wird (vgl. Bundesfinanzhof in BStBl. III 1953, 170). In solchen Fällen kann es nach den Umständen des Einzelfalles schwierig sein zu entscheiden, ob eine Einnahme dem Steuerpflichtigen schon zugeflossen ist (vgl. die Entscheidung des erkennenden Senats vom 28. April 1964 in BSG 21, 48 = SozR RVO § 160 Nr. 11 zur “Sprungrücklage” bei Abonnentenwerbern). Liegen aber überhaupt keine Rechtshandlungen des Schuldners – hier: des Arbeitgebers – vor, die auf ein Zurverfügungstellen des geschuldeten Betrags zugunsten des Gläubigers – hier: des Arbeitnehmers – schließen lassen, so ist der geschuldete Betrag auch nicht dem Gläubiger zugeflossen. Sowenig die Lohnsteuerpflicht deswegen entfällt, weil ein dem Arbeitnehmer zugeflossener Bezug freiwillig, d.h. über das hinaus, worauf er einen Anspruch hat, gewährt wird (z.B. Leistungsprämien), sowenig kann umgekehrt geschuldeter, aber nicht gezahlter Lohn als schon dem Arbeitnehmer zugeflossen und deshalb als lohnsteuerpflichtig behandelt werden (Hartmann/Böttcher/Charlier, Komm. z. Lohnsteuerrecht, § 2 LStDV Anm. B 8 S. 28). Damit entfällt aber insoweit auch die Pflicht, Beiträge zur Sozialversicherung zu entrichten. Soweit der Senat in früheren Entscheidungen zum Ausdruck gebracht hat, die Beitragsverpflichtung des Arbeitgebers richte sich nach dem Anspruch auf das Arbeitsentgelt (Urt. vom 21. März 1961 – 3 RK 7/57 – in Sozialrecht RVO § 393 Bl. Aa 1, Aa 2; vgl. auch BSG 16, 91, 96), wird daran nicht festgehalten.

Diese nach Wortlaut und Zweck des Gem. Erlasses 1944 gebotene Auslegung ermöglicht es im übrigen den Krankenkassen als Einzugsstellen, die Beitragsentrichtung – unter Verzicht auf schwierige Nachforschungen, welcher Lohn in Wirklichkeit geschuldet ist – auf einfache Weise anhand der Lohnzahlungsunterlagen zu überprüfen.

Demnach hat das LSG zu Recht den angefochtenen Beitragsbescheid der beklagten Krankenkasse aufgehoben. Ihre Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Bogs, Richter, Dr. Langkeit

 

Fundstellen

BSGE, 106

NJW 1965, 711

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