Leitsatz (amtlich)

Reichen die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit der geschiedenen Frau für ihren angemessenen Unterhalt aus, so hat der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann ihr gleichwohl gemäß EheG § 58 Abs 1 Unterhalt zu gewähren, wenn er sie billigerweise auf diese Erträgnisse nicht verweisen darf (Bestätigung BSG 1968-03-22 1 RA 35/67 = SozR Nr 42 zu § 1265 RVO).

In diesem Sinne gilt EheG § 58 Abs 1 auch für Versicherungsfälle vor der Beendigung des Besatzungsregimes durch den sogenannten Überleitungsvertrag am 1955-05-05 (Abweichung von BSG 1959-01-22 8 RV 667/57 = BSGE 9, 86 und BSG 1961-05-05 1 RA 49/59 = MittRuhrKn 1962, 65).

 

Normenkette

RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; EheG § 58 Abs. 1 Fassung: 1946-02-20

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Februar 1963 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die im Jahre 1923 geborene Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres im Jahre 1954 gestorbenen früheren Ehemannes (§ 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Es geht um die Frage, ob ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes gemäß § 58 Ehegesetz (EheG) 46 Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte, obgleich sie für ihren Unterhalt ausreichende Einkünfte aus eigener Erwerbstätigkeit hatte.

Aus der im Jahre 1943 mit dem Versicherten geschlossenen Ehe der Klägerin ist der am 9. November 1946 geborene Sohn W hervorgegangen. Die Ehe wurde im Jahre 1951 aus dem Verschulden des Versicherten geschieden. Er hatte die Klägerin im Juli 1950 verlassen und war zur französischen Fremdenlegion gegangen. Am 31. März 1954 ist er in Nord-Vietnam gefallen. Bei seinem Tode hinterließ er seinem Kinde Ersparnisse von über 4000,- DM. Die Klägerin war von August 1951 an als Hilfsarbeiterin beschäftigt; zunächst verdiente sie etwa 240,- DM, sodann in den folgenden Jahren bis 1954 bis zu 315,- DM monatlich.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin, ihr Hinterbliebenenrente zu gewähren, durch Bescheid vom 19. September 1958 ab. Das Sozialgericht (SG) hat die gegen den Bescheid erhobene Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente vom 1. April 1958 an zu gewähren; es hat die Revision zugelassen.

Das LSG hat angenommen, der Versicherte habe der Klägerin zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG (§ 58 Abs. 1 EheG 46) zu leisten gehabt; er sei unterhaltsfähig und die Klägerin unterhaltsbedürftig gewesen, obgleich sie aus eigener Erwerbstätigkeit ausreichende Einkünfte für ihren Unterhalt gehabt habe. Sie habe die Erwerbstätigkeit nur aus Not aufgenommen. Durch die aus einer solchen Erwerbstätigkeit erzielten Erträgnisse habe sie ihren Unterhaltsanspruch nicht verloren. Der gegenteiligen Auffassung des 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) in BSG 9, 86 ff und des 1. Senats des BSG in Ruhrknappschaft 1962, 65 ist das LSG nicht gefolgt.

Gegen das Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt, mit der sie unrichtige Anwendung des § 1265 RVO und des § 58 Abs. 1 EheG 46 rügt. Sie beruft sich insbesondere auf die vom LSG abgelehnte Rechtsprechung des BSG.

Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des Bayerischen LSG vom 14. Februar 1963 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG München vom 2. Februar 1961 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.

Für den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente aus dem am 31. März 1954 eingetretenen Versicherungsfall ist gemäß Artikel 2 § 19 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) die Vorschrift des § 1265 RVO in der Fassung des ArVNG anzuwenden. § 1265 Satz 2 RVO in der Fassung des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) scheidet als Anspruchsgrundlage aus, weil diese Vorschrift nur für Versicherungsfälle gilt, die nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind (Artikel 1 § 1 Nr. 27 in Verbindung mit Artikel 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG).

Nach § 1265 Satz 1 RVO, der mit § 1265 RVO in der Fassung des ArVNG übereinstimmt, wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem geschiedenen, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte, oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG kann der Rentenanspruch der Klägerin nur daraus hergeleitet werden, daß ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte. Mit Recht erhebt die Revision Einwendungen gegen die Annahme des LSG, daß diese Voraussetzungen erfüllt seien.

Ob der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte, beurteilt sich nach §§ 58 Abs. 1, 59 EheG 46, weil die Vorschriften des EheG anzuwenden sind, das zur Zeit des Todes des Versicherten gegolten hat (BSG 3, 197; 5, 179 und 276).

Nach § 58 Abs. 1 EheG hat der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen.

Die Unterhaltspflicht des für schuldig geschiedenen Ehemannes gegenüber der früheren Frau setzt die Unterhaltsfähigkeit des Mannes und die Unterhaltsbedürftigkeit der Frau voraus (BSG 3, 197 ff; 5, 179, 183). Die Revision wendet sich nicht gegen die Annahme des LSG und gegen die dafür in dem angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen, daß der frühere Ehemann nach seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen zur Zeit seines Todes fähig gewesen ist, der Klägerin einen ins Gewicht fallenden Beitrag für ihren angemessenen Unterhalt zu leisten (vgl. BSG in SozR Nr. 49 zu § 1265 RVO). Streitig ist lediglich, ob die Klägerin auch unterhaltsbedürftig war.

Sie hatte zur Zeit des Todes des Versicherten aus einer eigenen abhängigen Erwerbstätigkeit als Hilfsarbeiterin einen Verdienst bis zu 315,- DM monatlich. Dieses Einkommen kann - wie das LSG angenommen hat - für ihren angemessenen Unterhalt ausgereicht haben, selbst wenn berücksichtigt wird, daß der frühere Ehemann für den minderjährigen Sohn Werner keinen Unterhalt leistete und sie selbst für dessen Unterhalt aufkommen mußte. Allerdings läßt der vom LSG festgestellte Sachverhalt eine abschließende Beurteilung nicht zu, weil es für den angemessenen Unterhalt der geschiedenen Frau im Sinne des § 58 Abs. 1 EheG 46 auf die gesamten Lebensverhältnisse der früheren Ehegatten zur Zeit der Scheidung ankommt (vgl. BSG in SozR Nr. 16 und Nr. 47 zu § 1265 RVO), über die in dem angefochtenen Urteil hinreichende Feststellungen fehlen.

Das LSG hat gleichwohl die Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin bejaht, weil sie sich die Einkünfte aus ihrer Erwerbstätigkeit auf ihren Unterhaltsanspruch gegen den früheren Ehemann nicht anzurechnen lassen brauche; denn sie habe die unselbständige Arbeit ab August 1951 aus Not nur deshalb aufgenommen, weil der Versicherte spurlos verschwunden und für sie unerreichbar gewesen sei und weil sie deshalb die Mittel für den eigenen Unterhalt und den Unterhalt ihres Sohnes aus eigener Erwerbstätigkeit habe erlangen müssen. Das LSG hat die Auffassung vertreten, wegen ihrer Mutterpflichten gegenüber ihrem 4-jährigen Sohn sei die Klägerin als geschiedene Frau ihrem für schuldig erklärten früheren Mann gegenüber nicht zu einer Erwerbstätigkeit verpflichtet gewesen.

In tatsächlicher Hinsicht weist die Revision zutreffend darauf hin, daß die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten im März 1954 nicht ein Kind im Alter von 4 Jahren zu versorgen und zu beaufsichtigen hatte; denn ihr am 9. November 1946 geborener Sohn war damals bereits 7 1/2 Jahre alt. Da es gemäß § 1265 Satz 1 RVO auf die Verhältnisse zur Zeit des Todes, d. h. auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten ankommt (BSG in SozR Nr. 22 zu § 1265 RVO), kann nur geprüft werden, ob die Klägerin als geschiedene Frau und Mutter eines 7 bis 8-jährigen schulpflichtigen Kindes im Verhältnis zu ihrem früheren Ehemann keine Arbeitspflicht hatte, also ihm gegenüber nicht verpflichtet war, ihren Unterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen, und ob in einem solchen Falle die Erträgnisse ihrer Erwerbstätigkeit ihre Unterhaltsbedürftigkeit gegenüber dem früheren Ehemann nicht beseitigt und daher ihren Unterhaltsanspruch gegen ihn auch nicht ausschließt. Es kommt also entscheidend darauf an, ob die geschiedene Frau nach § 58 Abs. 1 EheG 46 schon dann keinen Unterhaltsanspruch gegen ihren früheren Ehemann hat, wenn die Erträgnisse aus einer von ihr ausgeübten Erwerbstätigkeit für ihren angemessenen Unterhalt ausreichen, auch wenn ihr die Erwerbstätigkeit wegen Krankheit oder wegen der notwendigen Pflege und Betreuung der Kinder nicht zugemutet werden kann, wie der 8. Senat des BSG in seinem Urteil vom 22. Januar 1959 - BSG 9, 86 ff - und der 1. Senat des BSG in seinem Urteil vom 5. Mai 1961 - Ruhrknappschaft 62, 65 - entschieden haben.

Für die Beurteilung der Unterhaltsbedürftigkeit der geschiedenen Frau gemäß § 58 Abs. 1 EheG 46 haben indessen in Übereinstimmung mit der Auffassung des LSG Einkünfte unberücksichtigt zu bleiben, die sie aus einer ihr nicht zuzumutenden Erwerbstätigkeit hat, was dann der Fall ist, wenn der frühere Mann die geschiedene Frau billigerweise auf die Einkünfte aus dieser Erwerbstätigkeit nicht verweisen könnte. Zwischenzeitlich hat der 1. Senat des BSG in seinem Urteil vom 22. März 1968 (SozR Nr. 42 zu § 1265 RVO) auch bereits in diesem Sinne entschieden und in Übereinstimmung mit dem 8. Senat des BSG seine frühere entgegenstehende Auffassung aufgegeben. In Fortentwicklung der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 26, 293 = SozR Nr. 39 zu § 1265 RVO) hat der 1. Senat ausgesprochen, die Unterhaltsbedürftigkeit der geschiedenen Frau - als Voraussetzung für ihren Unterhaltsanspruch gegen den allein oder überwiegend für schuldig erklärten Mann - bestehe trotz eigenen für ihren angemessenen Unterhalt an sich ausreichenden Erwerbseinkommens auch dann, wenn der auf Unterhaltsleistung in Anspruch genommene Mann sie billigerweise auf diese Einkünfte nicht verweisen könnte.

Der erkennende Senat tritt dieser Rechtsauffassung bei. Danach schließt auch im Rahmen des § 58 Abs. 1 EheG 46 nicht jeder für den angemessenen Unterhalt ausreichende Arbeitsverdienst, den die geschiedene Frau aus eigener Erwerbstätigkeit tatsächlich erzielt, ihre Unterhaltsbedürftigkeit aus. Obgleich also der Wortlaut des § 58 Abs. 1 EheG 46 nicht mehr, wie die frühere Fassung des § 66 EheG 38 hinter dem Wort "Erwerbstätigkeit die Worte enthält "die von ihr den Umständen nach erwartet werden kann", bleiben auch bei Anwendung des § 58 Abs. 1 EheG 46 für die Beurteilung der Unterhaltsbedürftigkeit der geschiedenen Frau Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit außer Betracht, wenn der zum Unterhalt fähige frühere Mann sie billigerweise auf diese Erträgnisse nicht verweisen könnte.

Der erkennende Senat ist allerdings der Ansicht, daß § 58 Abs. 1 EheG 46 in diesem Sinne nicht erst - wie es der 1. Senat in seinem Urteil vom 22. März 1968 angenommen hat - seit der Beendigung des Besatzungsregimes durch den sog. Überleitungsvertrag am 5. Mai 1955 zu gelten hat, sondern auch bereits für die Zeit vorher; denn hierzu führt schon die Auslegung des § 58 Abs. 1 EheG 46 aus sich heraus als Besatzungsrecht, ohne daß es der Heranziehung des Grundgesetzes mit seinen Wertentscheidungen bedarf.

Aus dem Umstand, daß § 58 Abs. 1 EheG 46 anders als sein Vorgänger § 66 EheG 38 hinter dem Wort Erwerbstätigkeit den Satzteil "die von ihr den Umständen nach erwartet werden kann" nicht mehr enthält, kann für die Zeit vor dem 5. Mai 1955 nicht geschlossen werden, das Gesetz habe durch diese andere Fassung eine Regelung der Unterhaltsansprüche unter geschiedenen Ehegatten bezweckt, die von dem Sinn und Zweck der entsprechenden früheren Vorschriften des § 1278 BGB und des § 66 EheG 38 grundlegend abweicht. Hierfür sprechen folgende Gesichtspunkte:

1) Der an die Scheidung der Ehe geknüpfte Unterhaltsanspruch war von jeher von dem Gesichtspunkt der Billigkeit (Zumutbarkeit) bestimmt. Schon das BGB hatte an die Scheidung nur einen auf das Bedürfnis beschränkten Unterhaltsanspruch geknüpft, bei dem der Gesichtspunkt einer auf Billigkeit beruhenden Nachwirkung der Ehe vorherrschte. Hieran hat auch das EheG 46 nichts geändert; denn auch aus seinen Vorschriften ergibt sich, daß bei der Regelung der Unterhaltsansprüche der Gesichtspunkt der Billigkeit vorherrscht (§§ 59 Abs. 1, 60, 61 Abs. 2, 70 Abs. 2 EheG 46).

2) Bereits unter Geltung des früheren § 1578 BGB und des späteren § 66 EheG 38 war anerkannt, daß der Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau auch dann entfällt, wenn sie es unterläßt, einer ihr zumutbaren und sich ihr bietenden Erwerbstätigkeit nachzugehen, aus der sie ausreichende Einkünfte für ihren Unterhalt hätte erlangen können; ihre Bedürftigkeit bestand auch dann nicht, wenn sie nur aus diesem Grunde nicht genügend Mittel für ihren Unterhalt hatte.

3) Auch die Unterhaltsfähigkeit des auf Unterhalt in Anspruch genommenen Mannes entfiel nicht, obgleich er kein Vermögen und tatsächlich auch kein Einkommen hatte, von dem er der geschiedenen Frau hätte Unterhalt leisten können, wenn er es unterließ, einer ihm zumutbaren und sich ihm bietenden Arbeitsgelegenheit nachzugehen und nur deshalb nicht die Mittel hatte, der früheren Frau die für ihren angemessenen Unterhält erforderlichen Leistungen zu gewähren.

4) Der Senat hat in seinen Urteilen vom 31. Mai 1967 bereits ausgesprochen, daß diese Grundsätze auch für die Anwendung des § 58 EheG 46 gelten (BSG 27, 1 ff = SozR Nr. 38 zu § 1265 RVO und BSG 26, 293 ff = SozR Nr. 39 zu § 1265 RVO; vgl. auch die in diesen Urteilen gegebenen Hinweise auf Rechtsprechung und Schrifttum).

5) Diese Grundsätze waren und sind in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, obschon der Wortlaut des Gesetzes darüber früher nichts besagte und auch heute nichts besagt. Dies zeigt aber, daß der allgemein geltende Grundsatz der Zumutbarkeit aus Gründen der Billigkeit bei Auslegung des § 58 Abs. 1 EheG 46 auch ohne Rücksicht darauf zu gelten hat, ob das Gesetz ihn in seinem Wortlaut besonders aufgenommen hat oder nicht.

6) Auch wenn § 58 Abs. 1 EheG 46 anders als § 66 EheG 38 den Satzteil "die von ihr den Umständen nach erwartet werden kann" nicht mehr enthält, steht auch die Anwendung dieser Vorschrift unter dem die Unterhaltsregelung zwischen geschiedenen Ehegatten beherrschenden Grundsatz der Billigkeit (Zumutbarkeit), so daß unzumutbare, d. h. der Billigkeit nicht entsprechende Ansprüche und Einwendungen von einem geschiedenen Ehegatten gegenüber dem anderen nicht erhoben werden können.

7) Wie es bereits unter Geltung der früheren Vorschriften (§ 1578 BGB; § 66 EheG 38) anerkannt war, so kann es auch dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Unterhaltsregelung in § 58 Abs. 1 EheG 46 weder entsprechen, daß es im Belieben der geschiedenen Frau stehen soll, durch willkürliche Aufnahme oder Aufgabe einer zumutbaren Erwerbstätigkeit die gesetzlich vorgesehenen Unterhaltspflichten und -ansprüche zu beeinflussen, noch ist es mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes zu vereinbaren, daß der zum Unterhalt Verpflichtete trotz seiner Leistungsfähigkeit von seiner Unterhaltspflicht freigestellt werden sollte, wenn der zum Unterhalt Berechtigte aus einer ihm nicht zumutbaren Erwerbstätigkeit Mittel für seinen Unterhalt erwirbt.

Aus diesen Erwägungen ist § 58 EheG 46 unabhängig von den Wertentscheidungen des Grundgesetzes auch für Versicherungsfälle, die vor dem 5. Mai 1955 eingetreten sind, in dem Sinne anzuwenden, wie es der 1. Senat für die Zeit nach diesem Zeitpunkt entschieden hat.

Der erkennende Senat weicht hiermit von den Entscheidungen des 8. Senats des BSG in seinem Urteil vom 22. Januar 1959 und des 1. Senats des BSG in seinem Urteil vom 5. Mai 1961 ab. Einer Anrufung des Großen Senats bedarf es nicht, weil der 1. und 8. Senat mitgeteilt haben, daß sie an ihren entgegenstehenden Rechtsauffassungen nicht mehr festhalten.

Ob der frühere Ehemann die Klägerin zur Zeit seines Todes billigerweise darauf hätte verweisen können, ihren Unterhalt aus den Erträgnissen ihrer Erwerbstätigkeit zu bestreiten, hängt von den gesamten Lebensverhältnissen ab, in denen die Eheleute vor und während des Bestehens sowie nach Scheidung ihrer Ehe gelebt haben. Insbesondere kommt es darauf an, ob die Klägerin einen Beruf erlernt hat und bereits vor und während der Ehe in diesem Beruf oder sonst erwerbstätig gewesen ist, ob sie in dem Erwerbsgeschäft ihres Ehemannes mitgearbeitet und dafür eine Entlohnung erhalten hat und ob dabei das gemeinschaftliche Kind anderweit untergebracht worden war. Weiterhin ist entscheidend, von welchen Einkünften die Klägerin in der letzten Zeit des Bestehens ihrer Ehe ihren Unterhalt bestritten hat.

Hierbei ist - wie der Senat bereits ausgesprochen hat - zu berücksichtigen, daß die geschiedene Frau grundsätzlich das Recht hat, ihre Kinder selbst zu erziehen, und daß der für schuldig erklärte Mann ihr in der Regel durch Unterhaltsleistungen die Sorge für ihre Kinder durch Beaufsichtigung und Erziehung zu ermöglichen hat. Im allgemeinen ist die geschiedene Frau nicht gehalten, die Kinder zur Betreuung einem anderen anzuvertrauen. Sie ist vielmehr berufen und berechtigt, sich selbst der Sorge und Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Hat die Mutter allerdings schon bisher - vor allem bereits während der Ehe - gearbeitet und ihre Kinder anderweit untergebracht, so kann ihr in der Regel eine Arbeit zugemutet werden, wenn sie auch weiterhin die Möglichkeit hat, die Kinder einer geeigneten Aufsichtsperson anzuvertrauen (BSG 26, 293 = SozR Nr. 39 zu § 1265 RVO). Der Senat hat aber des weiteren entschieden, daß bei Anwendung des § 58 Abs. 1 EheG 46 die geschiedene Frau sich die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit jedenfalls anrechnen lassen muß, wenn sie ein etwa 13 bis 14-jähriges schulpflichtiges Kind zu betreuen hat, weil eine solche Betreuung der Annahme der Zumutbarkeit einer Halbtagsbeschäftigung nicht entgegensteht (BSG in SozR Nr. 16 zu § 1265 RVO). Die Anrechnung eines tatsächlich erzielten Einkommens unter dem Gedanken der Zumutbarkeit kann andererseits unterbleiben, wenn der Unterhaltsschuldner sich seiner Unterhaltspflicht entzogen und die geschiedene Frau nur aus Not gearbeitet hat, was allerdings voraussetzt, daß sie dem früheren Ehemann gegenüber nicht verpflichtet oder nicht in der Lage war, ihre Unterhaltsbedürftigkeit durch eigene Erwerbstätigkeit abzuwenden (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 42 zu § 1265 RVO).

Für die Beurteilung, ob hiernach die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten unterhaltsbedürftig gewesen ist, obgleich sie aus eigener Erwerbstätigkeit monatlich etwa 315,- DM erzielt hat, reichen die in dem angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen nicht aus. Zunächst bedarf es der Klärung, welcher Betrag für den nach den Lebensverhältnissen der früheren Ehegatten angemessenen Unterhalt der Klägerin festzusetzen ist. Wie bereits ausgeführt, hat das LSG die dafür erforderlichen Feststellungen noch zu treffen. Sodann wird das LSG festzustellen haben, ob die Klägerin einen Beruf erlernt hat, gegebenenfalls welchen Beruf, ob und in welcher Zeit sie vor ihrer Ehe berufstätig gewesen ist und in welcher Eigenschaft, ob sie in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis tätig gewesen ist oder ob sie im Haushalt oder Erwerbsgeschäft von Verwandten mitgearbeitet hat. Die Feststellungen werden sich auch darauf zu erstrecken habe, in welcher Zeit und in welchem Umfange (Wochenstunden) sie beschäftigt gewesen ist und welches Entgelt oder welche sonstigen Vergünstigungen sie erhalten hat. In gleicher Weise sind diese Feststellungen für die Zeit während des Bestehens der Ehe bis zu dem Zeitpunkt von Bedeutung, in dem der frühere Ehemann die Klägerin verlassen hat. Das LSG wird insbesondere Feststellungen auch über die Erwerbstätigkeit des früheren Ehemannes zu treffen haben, welchen Umfang das Erwerbsgeschäft hatte, wieviel Arbeitskräfte beschäftigt worden sind, welches Einkommen der Ehemann in den Jahren 1949 und 1950 gehabt hat und ob die Klägerin in dem Erwerbsgeschäft ihres Ehemannes mitgearbeitet und welches Entgelt sie dafür erhalten hat; falls das LSG feststellen sollte, daß die Klägerin während der Ehe im Geschäft ihres früheren Ehemannes mitgearbeitet hat, wird des weiteren festzustellen sein, ob sich die Wohnung der Eheleute und das Erwerbsgeschäft des Ehemannes im gleichen Hause befunden haben, ob dort noch die Eltern oder Schwiegereltern der Klägerin gelebt haben und wie das minderjährige Kind während dieser Zeit betreut worden ist. Erst auf Grund dieser Feststellungen wird sich beurteilen lassen, ob die Klägerin ihrem früheren Ehemann gegenüber verpflichtet war, ihre Unterhaltsbedürftigkeit durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit selbst abzuwenden.

Auf die danach begründete Revision ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Entscheidung darüber, inwieweit die Beteiligten außergerichtliche Kosten zu erstatten haben, bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1982491

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