Leitsatz (amtlich)

Hat ein Arzt, der als "Vorstandsbeigeordneter" regelmäßig an den Sitzungen des Vorstands einer Kassenärztlichen Vereinigung mit beratender Stimme teilnimmt, an der Sitzung des Vorstands beratend mitgewirkt, in der über den Widerspruch eines Kassenarztes gegen einen Verwaltungsakt der Kassenärztlichen Vereinigung entschieden wurde, so ist dieser Vorstandsbeigeordnete nach SGG § 60 Abs 2 von der Ausübung des Amtes als Sozialrichter (Landessozialrichter, Bundessozialrichter) in dem Verfahren ausgeschlossen, das die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts betrifft.

 

Normenkette

SGG § 60 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 551 Nr. 2 Fassung: 1950-09-12

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Mai 1959 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger ist praktischer Arzt in K G und zur Kassenpraxis zugelassen. Mit Schreiben vom 4. November 1957 teilte die Bezirksstelle G der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KV) dem Kläger mit, daß er im Interesse einer beschleunigten Abrechnung des zweiten Vierteljahres 1957 vorläufig in die Staffelgruppe III - eine der beiden für die Abrechnung der Grundleistungen bei der Honorarverteilung günstigeren Staffelgruppen - eingestuft worden sei. Die gleiche Bezirksstelle gab durch Rundschreiben im Februar 1958 bekannt, daß die bisherigen Einstufungen ungültig geworden seien und Einstufungen in die Staffelgruppe III - mit Wirkung erstmals für die Abrechnung IV/1957 - auf begründeten Antrag hin erfolgen würden. Einen entsprechenden Antrag des Klägers wies die Bezirksstelle mit Bescheid vom 1. April 1958 ab mit der Begründung, die für eine Einstufung nach Staffelgruppe III erforderliche besondere Struktur seiner Praxis sei nicht gegeben. Der Widerspruch des Klägers wurde durch Entscheidung des Vorstands der beklagten KV in der Sitzung vom 30. Mai 1958 - dem Kläger mitgeteilt durch Bescheid vom 6. Juni 1958 - zurückgewiesen.

Mit der Klage hat der Kläger beantragt,

die beklagte KV unter Aufhebung der Bescheide vom 1. April und 6. Juni 1958 für verpflichtet zu erklären, ihn in die Staffelgruppe III einzustufen.

Er ist der Meinung, seine als "vorläufig" bezeichnete Einstufung nach Staffelgruppe III könne als begünstigender Verwaltungsakt nur widerrufen werden, wenn sich die Struktur seiner Praxis geändert habe. Das sei aber nicht der Fall.

Im übrigen weise seine Praxis auch nach Art und Umfang der ausgeführten Leistungen eine - die Einstufung nach Gruppe III rechtfertigende - besondere Struktur auf.

Das Sozialgericht (SG) Frankfurt (Main) wies die Klage ab (Urteil vom 14.11.1958).

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt mit dem Antrag,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der angefochtenen Bescheide der beklagten KV diese für verpflichtet zu erklären, ihn vom 1. Oktober 1957 an in die Staffelgruppe III einzustufen.

In Ergänzung seines bisherigen Vorbringens behauptete der Kläger, im Raum der Bezirksstelle Kassel der beklagten KV würde die Einstufung nach Staffelgruppe III großzügiger als im Bezirk Gießen gehandhabt.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unbegründet zurückgewiesen; die Revision wurde nicht zugelassen (Urteil vom 26.5.1959). Es ist der Auffassung, daß die beklagte KV die Einstufung des Klägers nach Staffelgruppe III zu Recht abgelehnt habe. Die vorläufige Einstufung "unter Zugrundelegung gewisser Normen" im Jahre 1957 habe die beklagte KV nicht daran gehindert, den Kläger nach individueller Prüfung der Voraussetzungen neu einzustufen. Zutreffend habe die beklagte KV das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Einstufung nach Staffelgruppe III beim Kläger verneint. Entscheidend sei für die bessere Einstufung nach Gruppe III, ob an den praktischen Arzt besondere Anforderungen gestellt würden. Das sei beim Kläger aber nicht der Fall.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt mit dem Antrag,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils und der angefochtenen Bescheide der beklagten KV diese für verpflichtet zu erklären, ihn vom 1. Oktober 1957 an in die Staffelgruppe III einzustufen.

Der Kläger hat in erster Linie gerügt, daß das LSG in der mündlichen Verhandlung vom 26. Mai 1959 nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen sei. Dr. W, der an dieser Verhandlung als Landessozialrichter mitgewirkt habe, sei kraft Gesetzes von der Mitwirkung ausgeschlossen gewesen. Er sei Vorstandsmitglied der beklagten KV und habe an deren Entscheidungen, die dem sozialgerichtlichen Verfahren vorausgegangen seien, mitgewirkt. Er sei ferner an der Gestaltung der Richtlinien für die Eingruppierung praktischer Ärzte in die drei Staffelgruppen beteiligt gewesen. - Ferner macht der Kläger geltend, das LSG habe die Auslegungsregel des § 133 BGB dadurch verletzt, daß es dem Einstufungsbescheid vom 4. November 1957 über das zweite Vierteljahr 1957 hinaus keine bindende Wirkung zuerkannt habe und daß es den Beschluß der Abgeordnetenversammlung der beklagten KV, der die Einstufungsvoraussetzungen festgelegt habe, falsch ausgelegt habe.- Außerdem sei Art. 3 Grundgesetz verletzt worden, weil zahlreiche Ärzte im Raume Kassel, die sich in gleicher Lage wie er befänden, in die Gruppe III eingestuft worden seien. Das LSG habe seinem Beweisantrag, die Leistungsdiagramme dieser Ärzte herbeizuziehen und mit seinem Leistungsdiagramm zu vergleichen, nicht entsprochen und dadurch § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt.

Die beklagte KV hat beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Nach ihrer Auffassung greift keine der vorgebrachten Rügen eines wesentlichen Verfahrensmangels durch. Dr. W sei nicht Vorstandsmitglied der beklagten KV, sondern nur Mitglied des Geschäftsausschusses der Bezirksstelle Darmstadt der beklagten KV; § 17 Abs. 2 SGG habe seiner Mitwirkung als Landessozialrichter daher nicht entgegengestanden. Dr. W sei auch nicht Bediensteter der beklagten KV im Sinne des § 17 Abs. 3 SGG gewesen; er sei zwar dem Vorstand der beklagten KV zur Einarbeitung in Vorstandsgeschäfte - ohne Stimmrecht in den Vorstandssitzungen - beigeordnet gewesen, habe aber keine Vergütung, sondern nur die üblichen Fahrtgelder, Sitzungsgelder und Entgelte für Praxisausfall bezogen. Auch der Ausschließungsgrund des § 60 Abs. 2 SGG sei nicht gegeben; denn Dr. W habe mangels Stimmrechts im Vorstand bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren nicht mitgewirkt. Ob Dr. W wegen Besorgnis der Befangenheit hätte abgelehnt werden können, sei unerheblich; der Kläger habe jedenfalls den ihm bekannten Ablehnungsgrund nicht geltend gemacht.

Das Bundessozialgericht hat die Verwaltungsakten der beklagten KV herbeigezogen; in der Niederschrift über die Sitzung des Vorstands der beklagten KV am 30. Mai 1958, in der über den Widerspruch des Klägers gegen die Ablehnung seiner Einstufung nach Staffelgruppe III entschieden wurde, ist Dr. W als anwesend aufgeführt.

II

Die Revision ist begründet. Die Rüge, an der Entscheidung des LSG habe ein Richter mitgewirkt, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen gewesen sei (§ 551 Nr. 2 ZPO i. V. m. § 202 SGG), greift durch.

Allerdings beruft sich die Revision zu Unrecht auf den Ausschließungsgrund des § 17 Abs. 2 i. V. m. § 35 Abs. 1 Satz 2 SGG; denn Dr. W, um dessen Mitwirkung als Landessozialrichter bei der Entscheidung des LSG es geht, übte zwar ehrenamtliche Funktionen in der kassenärztlichen Selbstverwaltung aus, war jedoch kein Vorstandsmitglied der beklagten KV (vgl. hierzu den Beschluß des erkennenden Senats vom 30.4.1960 - SozR SGG § 17 Bl. Da 4 Nr. 6 -, der auch die Mitwirkung Dr. W an einer Entscheidung des LSG betrifft). Hieran änderte sich auch nichts durch seine Bestellung zum Vorstandsbeigeordneten durch Beschluß des Vorstands auf Grund einer Ermächtigung der Abgeordnetenversammlung der beklagten KV vom 25. Mai 1957. In dieser Funktion sollte sich Dr. W "in die Arbeit des Vorsitzenden einarbeiten" und den Vorsitzenden "unterstützen", wie das Protokoll der erwähnten Abgeordnetenversammlung ergibt; darüber hinaus hat er vertretungsweise über die Anträge auf Eintragung ins Arztregister entschieden. Wie die beklagte KV vorträgt, war er dabei an bestimmte Arbeitszeiten nicht gebunden, sondern stand der Geschäftsführung der beklagten KV im allgemeinen ... an zwei sprechstundenfreien Nachmittagen in der Woche zur Verfügung, sofern nicht außerdem eine besondere Beratung seitens der Geschäftsführung gewünscht wurde. An den Sitzungen des Vorstands wirkte er beratend mit; ein Stimmrecht stand ihm nicht zu. Das sich hieraus ergebende Bild der Tätigkeit des Vorstandsbeigeordneten, die sowohl Aufgaben in der Geschäftsführung als auch eine nicht näher abgegrenzte Mitarbeit an den Vorstandsgeschäften umschloß, bedarf hinsichtlich seiner organschaftlichen Stellung keiner näheren Beurteilung. Jedenfalls ist er auf Grund dieser Funktion nicht Vorstandsmitglied der beklagten KV geworden. Das hätte einer Wahl durch die Abgeordnetenversammlung bedurft (§ 15 Abs. 1 Nr. 3 der Satzung), abgesehen davon, daß ihm kein Stimmrecht bei den Entscheidungen des Vorstands zustand. (§ 17 Abs. 2 i. V. m. § 35 Abs. 1 Satz 2 SGG stand somit einer Mitwirkung Dr. W als Landessozialrichter nicht entgegen.

Der Senat hat weiter geprüft, ob Dr. W etwa als "Bediensteter" der beklagten KV vom Amt des Landessozialrichters begrenzt ausgeschlossen war (§ 17 Abs. 3 i. V. m. § 35 Abs. 1 Satz 2 SGG). Der Senat hat in der schon erwähnten Entscheidung (aaO Bl. Da 4 Rücks.) für den Begriff des Bediensteten im Sinne der genannten Vorschrift als wesentlich erachtet, daß er in abhängiger Stellung gegen Entgelt tätig ist; er hat die Entgeltlichkeit der Beschäftigung verneint, wenn nur Ersatz der Auslagen in pauschalierter Form gewährt wird. Die Dr. W in seiner Eigenschaft als Vorstandsbeigeordneter gewährten Bezüge umfaßten neben "Fahrtgeldern" und "Sitzungsgeldern" auch "Entgelte für Praxisausfall". Die letztgenannten Bezüge sollten offenbar Entschädigung für Einnahmenausfall infolge verminderter Praxisausübung darstellen. Ob und - bejahendenfalls - unter welchen Voraussetzungen solche Entschädigungen dem Ersatz für Auslagen gleichgestellt werden können und daher nicht als Entgelt für geleistete Dienste anzusehen sind, kann der Senat im vorliegenden Fall jedoch ebenso dahinstehen lassen wie die Klärung der Frage, ob pauschalierter "Auslagenersatz" nicht in Wahrheit zum mindesten teilweise Vergütung für Dienstleistungen darstellt. Auch kann schließlich offenbleiben, ob Dr. W als Vorstandsbeigeordneter abhängig beschäftigt war; denn Dr. W war von der Ausübung seines Amtes als Landessozialrichter jedenfalls aus einem anderen Grunde ausgeschlossen.

Dr. W hatte bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt (§ 60 Abs. 2 SGG). Anders als nach § 13 Abs. 2 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz, wonach von der Ausübung des Richteramts nur ausgeschlossen war, wer bei dem Verwaltungsakt, der den Gegenstand des Verfahrens bildete, oder bei dem Vorverfahren mitgewirkt hatte, genügt nach § 60 Abs. 2 SGG für den Ausschluß vom Richteramt jede Mitwirkung bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Komm z. SGb, Stand: März 1962, § 60 Anm. 2 c; Brackmann, Handb. d. Sozialversich., Stand: März 1962, Bd. 1 S. 244 p; vgl. für den mit § 60 Abs. 2 SGG beinahe wörtlich übereinstimmenden § 54 Abs. 2 VerwGO: Klinger, § 54 Anm. II; Eyermann-Fröhler, § 54 Randn. 6; Schunck-de Clerck, § 54 Anm. 3 e; Ule, § 54 Anm. II). Diese schon nach dem Wortsinn naheliegende Auslegung ist auch nach dem Zweck der Vorschrift geboten. Sie soll verhüten, daß ein Richter über die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungshandelns entscheidet, an dessen Gestaltung er mitgewirkt hat; er soll nicht Richter in eigener Sache sein. Hiernach bedingt jedes Mitwirken in der Sache selbst, das über eine bloß formale Beteiligung - wie etwa die Verfügung der Wiedervorlage - hinausgeht, den Ausschluß vom Richteramt in dieser Sache (so richtig Eyermann-Fröhler aaO).

In diesem Sinn hat Dr. W an dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren, nämlich dem Widerspruchsverfahren, mitgewirkt. Er hat an den Vorstandssitzungen regelmäßig beratend teilgenommen, so auch an der Sitzung, in der der Widerspruch des Klägers gegen die Ablehnung seines Antrags auf eine bessere Einstufung für die Abrechnung seiner Grundleistungen zurückgewiesen wurde. Das Ausmaß seiner beratenden Teilnahme - insbesondere, ob und in welchem Sinne er zu diesem Gegenstand der Vorstandssitzung das Wort ergriffen hat - ist nicht bekannt. Es kommt hierauf aber auch nicht an. Wer berechtigt ist, auf die sachliche Gestaltung eines Verwaltungsverfahrens beratend Einfluß zu nehmen, wirkt auch dann an diesem Verfahren mit, wenn er schweigt und auch damit die Beschlußfassung beeinflußt. Auch eine solche Teilnahme ist ein Mitwirken in der Sache selbst und hat den Ausschluß von der Ausübung des Amtes als Richter in dieser Sache nach § 60 Abs. 2 SGG zur Folge.

Demnach ist die Rüge des Klägers begründet, daß bei der Entscheidung des LSG ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war (§ 551 Nr. 2 ZPO i. V. m. § 202 SGG). Da es sich hierbei um einen unbedingten Revisionsgrund handelt, muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Der Rechtsstreit ist nach § 170 Abs. 2 SGG zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen worden.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

NJW 1963, 414

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