Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 02.10.1990)

 

Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2. Oktober 1990 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten, ob die Entschädigungsleistungen für den Versicherten wegen seines Arbeitsunfalls am 10. Juli 1982 mit dem Tag nach dem Arbeitsunfall oder mit dem Ersten des Antragsmonats, dem 1. März 1987, beginnen. Die Kläger setzen den Rechtsstreit als Rechtsnachfolger ihres verstorbenen Sohnes, des Versicherten, fort.

Der Versicherte, ein Maschinenbaustudent, erlitt am 10. Juli 1982 schwere Verletzungen, als er gemeinsam mit seinem Freund, einem Musikstudenten, an einem Pkw unentgeltlich Reparaturarbeiten ausführte. Halter des Pkw war der Freund des Versicherten. Die Studenten hatten das Fahrzeug auf unbefestigtem Untergrund mit einem Scherenwagenheber vorn in der Mitte aufgebockt und zunächst beide Vorderräder abmontiert. Danach schob sich der Versicherte mit seinem Oberkörper unter den Wagen, um von unten eine Lenkmanschette zu befestigen. Bei dem Versuch, einen besseren Beobachtungsplatz einzunehmen, berührte der Freund des Versicherten den Wagen. Sekunden später fiel der Wagenheber um, das Fahrzeug stürzte zu Boden, und seine Radaufhängung traf den Versicherten am Kopf.

Vertreten durch die prozeßbevollmächtigten Rechtsanwälte des vorliegenden Rechtsstreits machte der Versicherte zunächst mit der Klageschrift vom 22. August 1983 gegenüber seinem Freund und dessen Kraftfahrzeug-Haftpflicht-Versicherer Schadensersatzansprüche unter Berücksichtigung eines fünfzigprozentigen Mitverschuldens auf dem Zivilrechtswege geltend. Während er damit dem Grunde nach in zwei Instanzen Erfolg hatte (Urteile des Landgerichts ≪LG≫ Wuppertal vom 7. August 1985 – 4 O 422/83 – und des Oberlandesgerichts ≪OLG≫ Düsseldorf vom 18. Dezember 1985 – 3 U 59/85 –), wies der Bundesgerichtshof (BGH) die Klage ab (Urteil vom 16. Dezember 1986 – VI ZR 5/86 –), weil der Unfall des Versicherten als Arbeitsunfall zu qualifizieren sei (§ 548 Abs 1 iVm § 539 Abs 2 und § 539 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫) mit der Folge, daß die zivilrechtlichen Ansprüche des Versicherten auf Ersatz seines unfallbedingten Personenschadens nach § 636 Abs 1 RVO ausgeschlossen seien.

Die Ersatzkasse des Versicherten und einige Tage später auch der Versicherte meldeten den Unfall erstmals im März 1987 unmittelbar der Beklagten, indem die eine Erstattungs- und der andere Entschädigungsansprüche geltend machten. Nach umfangreichen medizinischen Ermittlungen gewährte die Beklagte dem Versicherten vom 1. März 1987 an Verletztenrente in Höhe der Vollrente; für den hinausgezögerten Rentenbeginn mit dem Antragsmonat berief sie sich auf § 1546 Abs 1 RVO (Bescheid vom 27. Januar 1989).

Die gegen den späten Rentenbeginn gerichtete Klage hat vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund und dem Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen keinen Erfolg gehabt (Urteile vom 8. Februar 1990 und 2. Oktober 1990). Das LSG hat ausgeführt, die Beklagte habe den Rentenbeginn nach § 1546 Abs 1 RVO zu Recht festgesetzt. Die verspätete Anmeldung des Entschädigungsanspruchs sei auch nicht durch Verhältnisse begründet, die außerhalb des Willens des Versicherten gelegen hätten (§ 1546 Abs 1 Satz 1 letzter Teilsatz RVO). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) könne selbst eine nichtverschuldete Unkenntnis von Rechtsvorschriften nicht solche Verhältnisse begründen, die die Bestimmung des späten Rentenbeginns ausschlössen.

Dagegen hat der Versicherte die – vom LSG zugelassene – Revision eingelegt. Er ist am 4. Juni 1991 verstorben. Seine Eltern setzen den Rechtsstreit als seine Rechtsnachfolger fort.

Sie rügen die Verletzung des § 1546 Abs 1 RVO. Entgegen der Meinung des LSG sei im Falle des Versicherten die verspätete Anmeldung durch Verhältnisse begründet, die außerhalb seines Willens gelegen hätten. Das LSG habe die Sorgfaltsanforderungen an den Versicherten überspannt. Von ihm als juristischem Laien könne nicht erwartet werden, daß er sachkundigere und umfassendere Erwägungen als das LG und das OLG, zwei Kollegialgerichte, anstelle. Die Ausführungen des OLG, daß sein Unfall kein Arbeitsunfall gewesen sei, habe er dahin verstehen müssen, daß diese unfallversicherungsrechtlichen Konsequenzen in seinem Falle keine Bedeutung hätten. Das Urteil des OLG sei insoweit nicht anders als eine negative Rechtsauskunft einer Krankenkasse zu werten. Die darauf beruhende verspätete Anmeldung der Entschädigungsansprüche sei in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG in Verhältnissen begründet, die außerhalb seines Willens gelegen hätten.

Die Kläger beantragen,

die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides zu verurteilen, ihnen die dem Versicherten zugestandene Verletztenrente vom Tage nach dem Arbeitsunfall an zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist unbegründet.

Den Rentenbeginn hat die Beklagte zu Recht auf den Ersten des Antragsmonats festgesetzt. Das haben das SG und das LSG zutreffend erkannt.

Nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) erlitt der Versicherte den streitigen Unfall am 10. Juli 1982. Alle Tatsachen, die die Beklagte später heranzog, um in Kenntnis und Anwendung von § 548 Abs 1, § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1, § 658 Abs 2 Nr 2 RVO einen Arbeitsunfall zu bejahen, waren ihm von Anfang an bewußt. Ausweislich seiner Zivilrechtsklage im Jahre 1983 hielt er den Unfall noch innerhalb der Zweijahresfrist des § 1546 Abs 1 RVO für ein ausgleichspflichtiges Schadensereignis und war auch in der Lage, einen Schadensersatzanspruch geltend zu machen. Trotzdem meldete er seinen Entschädigungsanspruch erst im März 1987 bei der Beklagten an.

Danach sind alle Tatbestandsvoraussetzungen des § 1546 Abs 1 Satz 1 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) für den Leistungsbeginn mit dem Ersten des Antragsmonats erfüllt: Die Unfallentschädigung ist nicht von Amts wegen festgestellt worden, weil die Beklagte keine Kenntnis von dem Unfall hatte, und der Versicherte hat seinen Anspruch nicht spätestens zwei Jahre nach dem Unfall bei der Beklagten oder wenigstens bei einem anderen Sozialleistungsträger oder einer Gemeinde (s § 16 Abs 1 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch ≪SGB I≫) angemeldet.

Die verspätete Anmeldung des Entschädigungsanspruchs ist entgegen der Meinung der Revision auch nicht durch Verhältnisse begründet, die iS des § 1546 Abs 1 Satz 1 letzter Teilsatz RVO außerhalb des Willens des Antragstellers lagen. Vielmehr ist den Feststellungen des LSG zu entnehmen, daß die verspätete Anmeldung auf der Unkenntnis der einschlägigen Rechtsvorschriften und ihrer Anwendung beruht. Diese Unwissenheit des Versicherten auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung, einem wichtigen Teil der sozialen Sicherheit, ist nach den Feststellungen des LSG auch durch die von dem Versicherten hinzugezogenen Rechtsanwälte nicht behoben worden.

Solche Umstände der Rechtsunkenntnis bilden nach der ständigen Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA) und ihm folgend derjenigen des BSG keine Verhältnisse, die eine rechtzeitige Anmeldung des Entschädigungsanspruchs iS des § 1546 Abs 1 RVO in der Frist von zwei Jahren nach dem Unfall außerhalb des Willens des Antragstellers rücken und dadurch verhindern.

Ursprünglich war ein Unfallentschädigungsanspruch, der nicht von Amts wegen festgestellt worden war, innerhalb einer Ausschlußfrist anzumelden, deren ungenutzter Ablauf sogar den ganzen Anspruch vernichtete (§ 59 Abs 1 des Unfallversicherungsgesetzes ≪UVG≫ vom 6. Juli 1884 – RGBl S 69 –, § 72 Abs 1 Satz 1 des Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes ≪GUVG≫ vom 30. Juni 1900 idF der Bekanntmachung vom 5. Juli 1900 – RGBl S 573, 585 –, § 1546 Abs 1 RVO idF vor dem UVNG – RVO aF –). Indessen ließen die Unfallgesetze auch schon von Anfang an zu, den Anspruch nach Ablauf dieser Frist geltend zu machen, wenn der Berechtigte „von der Verfolgung seines Anspruchs” (§ 59 Abs 2 UVG, § 72 Abs 2 GUVG) bzw „an der Anmeldung” (§ 1547 Abs 1 Nr 2 RVO aF) „durch Verhältnisse verhindert worden ist, die außerhalb seines Willens liegen” (§ 1547 Abs 1 Nr 2 RVO aF, s auch § 59 Abs 2 UVG, § 72 Abs 2 GUVG). Der Zweck der Ausschlußfrist lag darin, dem Träger der Unfallversicherung eine bestmögliche Sachaufklärung in nahem zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall zu gewährleisten und ihn dadurch möglichst vor unbegründeten Ansprüchen zu schützen (RVO mit Anmerkungen, herausgegeben von Mitgliedern des RVA, 2. Aufl 1930, Band I § 1546 Anm 1 S 175). Nach der Rechtsprechung des RVA verlangte das Gesetz von jedem Berechtigten die „Selbständigkeit” (AN 1896, 288), sich nach einem Unfall sach- und rechtskundig zu machen, und zwar vorsorglich jedenfalls auch bei Stellen, die vermöge ihrer nahen Beziehung zur Feststellung der gesetzlichen Unfallentschädigung allgemein geeignet erscheinen, dem Berechtigten fachkundige und deshalb zuverlässige Belehrungen zu erteilen (EuM 21, 381, 386; ebenso BSG SozR Nr 4 zu § 1547 RVO). Denn schon das RVA erkannte, daß Rechtsunkenntnis und Rechtsanwendungsunkenntnis nicht als Verhältnisse anzusehen sind, die außerhalb des Willens eines Berechtigten liegen (RVA Breithaupt 1914, 343 zu § 1253 S 1 RVO idF vom 19. Juli 1911 – RGBl 509 – mit der gleichen Rechtsproblematik; EuM 21, 381, 387; 24, 12, 13; BSG SozR Nrn 6 und 10 zu § 145 SGG; BSG vom 26. September 1986 – 2 RU 1/86 – vollständig abgedruckt in Breithaupt 1987, 370; vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl S 232s I). Nur unter dieser Voraussetzung kann der der Ausschlußfrist zugrundliegende Zweck des Gesetzes zum Tragen kommen, indem der vielfach auch heute noch rechtsunkundige Anspruchsberechtigte angespornt wird, sich über öffentlich-rechtliche Entschädigungsmöglichkeiten in geeigneter Weise rechtzeitig zu informieren. Nachdem § 1546 Abs 1 RVO idF des UVNG nicht mehr die totale Anspruchsvernichtung bewirkt, sondern nur noch den Leistungsbeginn auf den Antragsmonat hinausschiebt, trifft das erst recht auf die geltende Rechtslage zu (vgl BSG Urteil vom 26. September 1986 aaO).

Das SGB und die RVO als sein besonderer Teil (Art II § 1 Nr 4 SGB I) muten jedem in der gesetzlichen Unfallversicherung Anspruchsberechtigten zu, wenigstens soviel an Sorgfalt aufzuwenden, daß es ihm gelingt, seinen Entschädigungsanspruch oder den zunächst noch unspezifizierten allgemeinen Wunsch nach Unfallschadensausgleich zumindest rein vorsorglich noch innerhalb der Zweijahresfrist des § 1546 Abs 1 RVO bei dem zuständigen Träger der Unfallversicherung anzumelden und damit zur Überprüfung zu stellen. Dabei entspricht es dem Prinzip der sozialen Sicherheit, daß das SGB dem Anspruchsberechtigten eine breite Auswahl öffentlicher Stellen anbietet, die ihm (unentgeltlich) verpflichtet sind, mit Rat und Tat zu helfen. Gemäß § 16 Abs 1 SGB I werden Anträge auf Sozialleistungen auch von allen anderen (unzuständigen) Sozialleistungsträgern, von allen Gemeinden und bei Personen, die sich im Ausland aufhalten, auch von den amtlichen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland entgegengenommen. Darüber hinaus ist der zuständige Leistungsträger nach § 14 SGB I verpflichtet, jeden über seine Rechte und Pflichten nach dem SGB (unentgeltlich) zu beraten, und § 15 SGB I gibt den nach Landesrecht zuständigen Stellen (in Nordrhein-Westfalen sind es die Gemeinden – Verordnung vom 19. Juni 1979 – GVBl S 474) sowie allen Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung auf, jedem über alle soziale Angelegenheiten nach dem SGB – also auch über die Frist nach § 1546 Abs 1 RVO – (unentgeltlich) Auskünfte zu erteilen. Alle diese öffentlichen Stellen iS des § 15 SGB I sind nach der Entscheidung des Gesetzgebers dazu ausgewählt und geeignet, dem Berechtigten fachkundige und deshalb zuverlässige Belehrungen auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung zu erteilen. Wenn sich der Berechtigte an sie wendet und ihren Rat befolgt, kann er erfolgreich die Nachteile vermeiden, die § 1546 Abs 1 RVO bewirkt. Falsche Auskünfte dieser Stellen mit der Folge einer verspäteten Anmeldung begründen dann Verhältnisse, die außerhalb des Willens des Antragstellers liegen (vgl Brackmann aaO S 232s I).

Nach der Rechtsprechung des RVA und des BSG sowie nach dem SGB I sind Rechtsanwälte ebenso wie die Zivilgerichte nicht in den Kreis der Stellen einbezogen, die mit der Feststellung der Unfallentschädigung in besonders enger Beziehung stehen (RVA EuM 21, 381, 386; BSG SozR Nr 4 zu § 1547 RVO). Ihr Handeln läßt nicht in gleicher Weise einen öffentlich-rechtlichen Vertrauensschutz für den Anspruchsberechtigten entstehen, den der Träger der Unfallversicherung gegen sich gelten lassen muß. Solches Handeln begründet für eine verspätete Anspruchsanmeldung keine Verhältnisse, die iS des § 1546 Abs 1 RVO außerhalb des Willens des Antragstellers liegen. Ihm ist trotzdem die Sorgfalt zuzumuten, aus reiner Vorsorge den Anspruch rechtzeitig anzumelden oder zumindest auch Rat oder Auskunft der oben genannten öffentlichen Stellen einzuholen.

Hieran hat es im vorliegenden Fall gefehlt. Danach haben SG und LSG zutreffend erkannt, daß die Rente des Versicherten gemäß § 1546 Abs 1 RVO erst mit dem Ersten des Antragsmonats am 1. März 1987 beginnt.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1173495

BSGE, 38

NJW 1993, 221

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