Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 11.12.1991)

 

Tenor

Die Revisionen der Klägerinnen gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 1991 werden zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten, ob die Klägerin zu 1) einen Arbeitsunfall erlitten hat. Die Klägerin zu 1) begehrt Unfallentschädigung, die zu 2) klagende Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Erstattung von Heilbehandlungskosten.

Die Klägerin zu 1) ist die Ehefrau eines Malermeisters, der sie aushilfsweise in seinem Büro und Ladengeschäft beschäftigte. Die Geschäftsräume lagen im Erdgeschoß desselben Hauses, in dem sich auch die Wohnräume der Eheleute und ihres Sohnes befanden. Am 24. August 1989 verrichtete die Klägerin zu 1) im Zimmer ihres Sohnes im Obergeschoß private Haushaltstätigkeiten, als sie sich gegen 14.45 Uhr, nachdem es an der Ladentür im Erdgeschoß geklingelt hatte, anschickte, aus betrieblichen Gründen hinunter in den Laden zu gehen. Noch im Zimmer ihres Sohnes rutschte sie aus und erlitt dabei eine Oberschenkelhalsfraktur links, die eine operative Versorgung notwendig machte.

Das zunächst eingeleitete berufsgenossenschaftliche Heilverfahren mit stationärer Behandlung der Klägerin zu 1) vom 24. August bis zum 29. September 1989 stellte die Beklagte am 28. September 1989 ein, weil die Klägerin zu 1) keinen Arbeitsunfall erlitten habe. Die Beklagte trug zunächst die Pflegesatzkosten für 37 Tage einschließlich der Transportkosten in Höhe von insgesamt 9.298,65 DM, während die Klägerin zu 2), deren Mitglied die Klägerin zu 1) war, den Pflegesatz für die restlichen 2 Tage in Höhe von insgesamt 435,– DM bezahlte.

Das Entschädigungsbegehren der Klägerin zu 1) lehnte die Beklagte ab, weil es an einem Arbeitsunfall fehle (Bescheid vom 26. Oktober 1989, Widerspruchsbescheid vom 1. Februar 1990).

Das Entschädigungsbegehren der Klägerin zu 1) und die Feststellungsklage der Klägerin zu 2), daß die Beklagte die für die Heilbehandlung der Folgen des Unfalls vom 24. August 1989 zuständige Versicherungsträgerin sei, sind vor dem Sozialgericht (SG) Kassel ohne Erfolg geblieben. Auf die Widerklage der Beklagten hat das SG zudem die Klägerin zu 2) verurteilt, an die Beklagte 9.298,65 DM zu zahlen (Urteil vom 27. Mai 1991). Auch vor dem Hessischen Landessozialgericht (LSG) sind die Klägerinnen ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 11. Dezember 1991). Das LSG hat ausgeführt, die Klägerin zu 1) habe bei der unfallbringenden Handlung noch nicht unter dem Versicherungsschutz des hier allein in Betracht kommenden § 548 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) gestanden. Sie habe ihren persönlichen, privaten Lebensbereich noch nicht verlassen gehabt, als sie gestürzt sei. Es hätten auch keine besonderen Umstände, wie zB eine besondere Eilbedürftigkeit, vorgelegen, die in diesen Bereich hinein gewirkt und durch die der innere Zusammenhang zwischen der unfallbringenden Handlung und der versicherten Tätigkeit begründet worden sei. Dementsprechend habe die Klägerin zu 2) als die für die Leistungen nach den §§ 27 ff Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) zuständige Krankenkasse im Gegensatz zur Beklagten auch nicht als unzuständige Leistungsträgerin iS des § 105 Abs 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) Sozialleistungen erbracht. Demgegenüber sei der in der Frist des § 111 SGB X mit der Widerklage geltend gemachte Erstattungsanspruch der Beklagten aus § 105 Abs 1 SGB X begründet.

Mit den – vom LSG zugelassenen – Revisionen rügen die Klägerinnen die Verletzung materiellen Rechts. Die Klägerin zu 1) sei bei einer eindeutig betriebsbezogenen Verrichtung gestürzt, allerdings im häuslichen Bereich. Neben ihrer täglichen Arbeit im privaten Haushalt sei es ihre betriebliche Aufgabe gewesen, bei Bedarf (Klingelzeichen) den Weg zum stets verschlossenen Laden anzutreten, um die Kunden hereinzulassen und zu bedienen. Schon die Wege dorthin, auch soweit sie im privaten Hausbereich zurückzulegen seien, müßten als versicherte, betriebsbezogene Tätigkeiten beurteilt werden. Denn das Klingelzeichen eines Kunden sei als besonderer Umstand anzusehen, der die Versicherte zwinge, die betriebsbezogene Verrichtung ausschließlich und in unmittelbarer Aufnahme der versicherten Tätigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt auszuführen. Das Kriterium der Eilbedürftigkeit sei dem Wesen des Unfallversicherungsschutzes im übrigen fremd.

Die Klägerin zu 1) beantragt,

die angefochtenen Urteile und Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihren Unfall vom 24. August 1989 als Arbeitsunfall zu entschädigen,

die Klägerin zu 2) beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte die zuständige Versicherungsträgerin zur Entschädigung des Unfalls vom 24. August 1989 ist, sowie die Beklagte zu verurteilen,

ihr die bereits von ihr erbrachten Leistungen aufgrund des Unfalls vom 24. August 1989 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil des LSG im wesentlichen für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgrichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revisionen sind unbegründet.

Zu Recht haben das SG und das LSG entschieden, daß die Klägerin zu 1) keinen Arbeitsunfall auf einem hier allein in Betracht kommenden Betriebsweg erlitten hat (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO). Das Entschädigungsbegehren der Klägerin zu 1) und das Feststellungsbegehren der Klägerin zu 2) sind deshalb unbegründet, während der mit der Widerklage geltend gemachte Erstattungsanspruch der Beklagten aus § 105 Abs 1 SGB X begründet ist.

Die Klägerin zu 1) hat ihren Unfall am 24. August 1989 nicht bei einer versicherten Tätigkeit iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO erlitten.

Diese Vorschrift setzt voraus, daß sich ein Arbeitsunfall bei der versicherten Tätigkeit ereignet. Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der Betriebstätigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis bestehen, der sogenannte innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Eine solche Wertung nach dem Gesetz ist der Rechtsanwendung im Einzelfall vorbehalten (BSGE 63, 273, 274). Im vorliegenden Falle fehlt es an dem erforderlichen inneren Zusammenhang.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden und deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), bewohnte die Familie der Klägerin zu 1) ein Wohn- und Geschäftshaus, in dem die betrieblich genutzten Räume einen abgegrenzten Teil des Untergeschosses einnahmen. Demgegenüber war der übrige Teil des Untergeschosses und das gesamte Obergeschoß mit dem Zimmer des Sohnes rein privat genutzt. Dem entsprach es, daß die Klägerin im Zimmer des Sohnes private Haushaltstätigkeiten verrichtet hatte, bevor sie sich auf den unfallbringenden Weg machte. Der Weg hatte zwar den Laden als Ziel und den Zweck, dort unten eine betriebliche Tätigkeit zu verrichten, aber die Klägerin stürzte noch im Zimmer ihres Sohnes, bevor sie den privaten Lebensbereich verlassen und die Betriebsräume erreicht hatte.

Der Weg, den die Klägerin bei der unfallbringenden Handlung zurückgelegt hatte, stand somit nach seinem Ausgangspunkt und seinem beabsichtigten Ziel in einer sachlichen Verbindung sowohl mit der gerade verrichteten privaten Haushaltstätigkeit als auch mit dem Laden und der dort beabsichtigten Betriebstätigkeit. Dazu hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden, daß der Übergang von einer privaten und daher unversicherten Verrichtung zu einer betrieblichen Tätigkeit in der Regel nicht schon wegen des Zweckes, dem der gesamte Weg im Grunde dient, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (BSG SozR Nr 20 zu § 543 RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Auflage, S 480x ff mwN). In einem solchen Falle kommt es vielmehr darauf an, ob die sachliche Verbindung zwischen dem Zurücklegen des Weges und der versicherten Tätigkeit bereits wesentlich ist. Insoweit wird wertend ermittelt, wie weit der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Dabei kommt dem privaten, räumlich abgegrenzten häuslichen Wohnbereich sowohl für den Versicherungsschutz des § 550 Abs 1 RVO als auch für denjenigen des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ein regelmäßig ausschlaggebendes Gewicht zu (BSGE 11, 267, 270; 12, 165, 166). Innerhalb des dem persönlichen, unversicherten Leben dienenden Wohnbereichs, in dem sich eine Person gerade unabhängig von betrieblichen Gründen aufhält, hat die Beziehung zu diesem Lebensbereich regelmäßig das ausschlaggebende Gewicht für die Beurteilung des Gesamtcharakters eines Weges (BSGE aaO). Eine andere unfallversicherungsrechtliche Wertung würde die Versicherten ungerechtfertigt schlechter stellen, deren Arbeitsstätte außerhalb des Wohnhauses liegt. Selbst wenn die Entfernung nur wenige Meter beträgt, beginnt bei ihnen der Versicherungsschutz erst mit dem Durchschreiten der Außentür (BSGE 2, 239, 243; 63, 212, 213; Brackmann aaO S 4850 I), obgleich bei ihnen der Weg innerhalb der Wohnung und im Treppenhaus ebenso auf die Aufnahme der versicherten Tätigkeit gerichtet ist, wie es bei der Klägerin zu 1) war. Danach stand die unfallbringende Handlung der Klägerin zu 1) nicht in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, denn es lagen auch keine Ausnahmegründe vor, die eine andere Beurteilung rechtfertigen.

Nur in einzelnen Ausnahmefällen hat das BSG dann einen inneren Zusammenhang bejaht „auf Wegen innerhalb des häuslichen Bereichs, die der Aufnahme oder Wiederaufnahme der beabsichtigten Tätigkeit in einem Hause dienen, in dem sich Wohnung und Arbeitsstätte befinden, wenn der Versicherte durch besondere Umstände gezwungen war, die Verrichtung ausschließlich und in unmittelbarer Aufnahme der versicherten Tätigkeit in einem bestimmten Zeitpunkt auszuführen” (BSG, Urteil vom 26. Juni 1985 – 2 RU 71/84 – in SozR 2200 § 548 Nr 72). Den vom Senat in dem Urteil vom 26. Juni 1985 (aaO) entschiedenen Fall kennzeichnet in anschaulicher Weise, wie direkt und unvermittelt solche besonderen zwingenden Umstände sein müssen, um den notwendigen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit noch im privaten, häuslichen Lebensbereich herzustellen. Es sind einmal Umstände, die eine besondere Eilbedürftigkeit der auszuführenden Betriebstätigkeit ausmachen. Solche Umstände hat das LSG im vorliegenden Fall ohne Rechtsfehler ausgeschlossen. Zum anderen sind es betriebliche Umstände, die derart in den privaten, häuslichen Bereich hineinwirken, daß der Versicherte seinen gewöhnlichen Lebensrhythmus in wesentlichem Ausmaß unterbrechen und zur unmittelbaren Aufnahme der Betriebstätigkeit schreiten muß. So hat der Senat im Urteil vom 26. Juni 1985 (aaO) den Fall gewertet, daß ein Vorsteher eines Wasserschutzverbandes wegen eines Störsignals der in seinem Wohnhaus befindlichen Schaltanlage um 0.30 Uhr aus dem Schlaf geweckt wurde und sofort aus dem Bett aufstehen mußte, um die Ursache der Störung festzustellen. Der Senat hat entschieden, daß unter solchen Umständen die versicherte, im wesentlichen inneren Zusammenhang mit dem Versicherungsverhältnis stehende Tätigkeit bereits mit dem Aufstehen aus dem Bett aufgenommen wird. Damit vergleichbare Umstände haben im Falle der Klägerin zu 1) nicht vorgelegen. Das LSG hat dazu festgestellt, daß sich die Klägerin zu 1) während ihrer normalen Bereitschaftsdienstzeit an einem Werktag gegen 14.45 Uhr zwar auf ein Klingelzeichen an der Ladentür hin auf den Weg zum Laden gemacht hatte. Das entsprach aber der betrieblichen Praxis. Den Kunden des Geschäfts war bekannt, daß der Laden nur auf ein Klingelzeichen hin geöffnet wurde und sie immer mit einer gewissen Wartezeit rechnen mußten. Dementsprechend hatte die Klägerin zu 1) im zu entscheidenden Fall selbst keine besondere Eilbedüftigkeit angenommen. Die Aufnahme des Weges zum Laden entsprach dem regelmäßigen Lebensrhythmus, den jeder Beschäftigte in seinem privaten Bereich zur Vorbereitung der Arbeitsaufnahme in anderen Betriebsräumen einhält.

Danach war auch nicht die Beklagte, sondern die Klägerin zu 2) als für die Klägerin zu 1) zuständige Krankenkasse die Leistungsträgerin für den Erstattungsanspruch der Beklagten nach § 105 Abs 1 SGB X.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1173489

NJW 1993, 2070

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