Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Beiladung. Verfahrensmangel

 

Orientierungssatz

1. Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung nach SGG § 75 Abs 2 Alt 1 ist bei einer zulässigen Revision auch ohne Rüge eines Beteiligten - von Amts wegen - als Verfahrensmangel zu beachten (vgl BSG 1974-03-12 2 S 1/74 = SozR 1500 § 75 Nr 1).

2. Die Entscheidung darüber, welcher der beteiligten Versicherungsträger einem Verletzten gegenüber leistungspflichtig ist, greift unmittelbar in die Rechtssphäre des Verletzten ein (so auch BSG 1976-10-28 8 RU 8/76 = SozR 1500 § 55 Nr 4).

 

Normenkette

SGG § 75 Abs. 2 Alt. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 14.05.1975; Aktenzeichen L 3 U 13/75)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 16.12.1974; Aktenzeichen S 7a U 241/72)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Mai 1975 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der damalige Soldat auf Zeit Jürgen K (K.) erlitt am 3. November 1969 auf der Fahrt von der Kaserne zu einer Berufsschule einen Unfall, der den Verlust der Sehfähigkeit auf dem linken Auge zur Folge hatte. K. war Teilnehmer einer vom Kreiswehrersatzamt (KEA) - Abteilung Berufsförderungsdienst - eingerichteten Arbeitsgemeinschaft "Vorbereitung auf die Gesellenprüfung zum Rundfunk- und Fernsehtechniker", die in den Räumen der Berufsschule durchgeführt wurde. Mit der Leitung der Arbeitsgemeinschaft hatte das KEA einen an der Schule tätigen Studienrat beauftragt. Die Kosten für dessen Tätigkeit sowie für das Lehrmaterial trug das KEA. Für die Benutzung der Schulräume wurden dem KEA keine Kosten in Rechnung gestellt.

Das Wehrbereichsgebührnisamt V, Stuttgart, lehnte durch Bescheid vom 16. Juni 1971 die Feststellung der Unfallfolgen als Wehrdienstbeschädigung ab, da die Teilnahme am Berufsförderungsdienst der Bundeswehr während der Freizeit nicht wehrdiensteigentümlich gewesen sei.

Die Klägerin (Bundesrepublik Deutschland) gewährt dem Verletzten eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 25 v. H. als vorläufige Fürsorge (§ 1735 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), hält aber die Beklagte (BG der Feinmechanik und Elektrotechnik) für den zuständigen Versicherungsträger. Die Beklagte verneinte der Klägerin gegenüber ihre Zuständigkeit und erklärte, zur Frage, ob K. nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO unter Versicherungsschutz gestanden habe, könne sie nicht Stellung nehmen.

Daraufhin hat die Klägerin am 7. Dezember 1972 beim Sozialgericht (SG) Oldenburg Klage auf Feststellung der Entschädigungspflicht der Beklagten und auf Verurteilung zur Erstattung der ihr erwachsenen Aufwendungen erhoben.

Das SG hat die Klage durch Urteil vom 16. Dezember 1974 abgewiesen: K. sei auf dem im Unfallzeitpunkt zurückgelegten Weg gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO versichert gewesen; zuständiger Träger der Unfallversicherung (UV) sei gemäß § 653 Abs. 1 Nr. 5 RVO die Klägerin.

Mit der Berufung hat die Klägerin geltend gemacht, die Bundesrepublik habe zwar die Kosten für den Schulungslehrgang getragen, sie habe diesen aber nicht in eigener Verantwortung durchgeführt. Demgemäß habe die Beklagte die Entschädigungslast zu tragen. Möglicherweise komme auch das Land Hessen als leistungspflichtiger Versicherungsträger in Betracht.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 14. Mai 1975 die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Zuständiger Versicherungsträger sei die Klägerin als Sachkostenträgerin der Ausbildungsveranstaltung (Erlaß des früheren Reichsarbeitsministers - RMA - vom 23. Oktober 1943 - AN 471). Selbst wenn im Wege der Rechtsergänzung darauf abgestellt würde, wer Veranstalter oder "Durchführender" der Arbeitsgemeinschaft gewesen sei, wären die Voraussetzungen des § 653 Abs. 1 Nr. 5 RVO - Durchführung des Lehrunternehmens im Auftrag des Bundes - hier gegeben.

Der Verletzte ist zum Verfahren nicht beigeladen worden.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, das LSG habe aus den Bestimmungen des RMA-Erlasses vom 23. Oktober 1943 zu Unrecht gefolgert, sie sei als Sachkostenträgerin der Umschulungsmaßnahme für K. auch Träger der UV. Nach der allein in Betracht kommenden Ziff. 3 Abs. 1 Nr. 1 a des Erlasses seien nur die Besucher der von den Schulaufsichtsbehörden genehmigten Veranstaltungen versichert; diese Voraussetzung sei hier wohl nicht gegeben. Deshalb komme es darauf an, ob die Umschulungsmaßnahme von der Bundeswehrverwaltung "durchgeführt" worden sei. Die Auffassung des LSG, der Berufsförderungsdienst der Bundeswehr habe, weil er die Arbeitsgemeinschaft veranstaltet habe, das "Lehrunternehmen" im Sinne des § 653 Abs. 1 Nr. 5 RVO auch durchgeführt, sei nicht überzeugend.

Die Klägerin beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben, die Beklagte als zuständigen Versicherungsträger festzustellen und sie zu verurteilen, die bisher entstandenen Kosten zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Das angefochtene Urteil muß aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, weil der Verletzte K. nicht zu dem Verfahren beigeladen worden ist (§ 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG).

Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung nach § 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG ist bei einer zulässigen Revision auch ohne Rüge eines Beteiligten - von Amts wegen - als Verfahrensmangel zu beachten (Beschluß des erkennenden Senats vom 12. März 1974 in SozR 1500 § 75 Nr. 1 unter Aufgabe der abweichenden früheren Rechtsprechung). Die Beiladung ist nach der angeführten Vorschrift notwendig, wenn an dem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn die in dem Rechtsstreit zu erwartende Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre eines Dritten unmittelbar eingreift (vgl. BSGE 11, 262, 265; 15, 127, 128; 17, 139, 143; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl., S. 234 w VI mit weiteren Nachweisen). Die Entscheidung im anhängigen Rechtsstreit darüber, welcher der beteiligten Versicherungsträger letztlich dem Verletzten gegenüber leistungspflichtig ist, greift unmittelbar in die Rechtssphäre des Verletzten ein (so auch der 8. Senat des Bundessozialgerichts im Urteil vom 28. Oktober 1976 - 8 RU 8/76 -).

Mit der Klage auf Feststellung des zuständigen Versicherungsträgers und auf Ersatz ihrer Aufwendungen verfolgt die Klägerin das Ziel, künftig von der Leistung vorläufiger Fürsorge (§ 1735 RVO) freigestellt zu werden und die endgültige Entschädigungspflicht der Beklagten gegenüber dem Verletzten verbindlich feststellen zu lassen. Die Entscheidung darüber, welcher der beteiligten Versicherungsträger zuständig ist, dem Verletzten also Entschädigung für die Folgen seines Arbeitsunfalls zu leisten hat, kann im Verhältnis der Versicherungsträger untereinander sowie auch dem Verletzten gegenüber nur einheitlich ergehen. Die Beiladung des Verletzten ist somit im Sinne des § 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG notwendig.

Im Revisionsverfahren ist eine Beiladung nicht zulässig (§ 168 SGG). Das auf dem Verfahrensfehler beruhende Urteil des LSG muß daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Das LSG wird zu erwägen haben, ob außer der notwendigen Beiladung des Verletzten u. a. auch eine Beiladung des Landes Hessen, wie die Klägerin geltend gemacht hat, in Betracht zu ziehen ist.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659205

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge