Leitsatz (redaktionell)

1. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des KOV-VfG § 41 kann nicht an die Stelle der Beurteilung des festgestellten konkreten Geschehensablaufs nach seiner versorgungsrechtlichen Erheblichkeit die Würdigung eines nur hypothetischen Sachverhalts treten.

2. Eine tatsächliche Unrichtigkeit iS des KOV-VfG § 41 liegt vor, wenn der Sachverhalt so, wie er heute objektiv aufgeklärt ist, nach Aktenlage damals nicht bekannt und der nicht bekannte Teil des Sachverhalts für die Entscheidung maßgebend war, oder wenn die tatsächlichen Unterlagen zwar zur Zeit der Entscheidung den objektiven Sachverhalt ergaben, aber aus der Entscheidung hervorgeht, daß das VersorgA von einem abweichenden Sachverhalt ausgegangen ist.

3. Nach KOV-VfG § 41 darf nicht berichtigt werden, wenn die Gewährung von Versorgung aus anderen Gründen gerechtfertigt ist, wenn also auch nach dem nunmehr (richtig) festgestellten Sachverhalt das Vorliegen eines versorgungsrechtlich geschützten Tatbestandes nicht auszuschließen ist. (vergleiche BSG 1958-02-06 8 RV 449/56 = BSGE 6, 288, 291 ff; BSG 1960-12-15 11 RV 892/60 = BSGE 13, 232, 235 und BSG 1963-01-31 9 RV 538/59 = SozR VerwVG § 41 Nr 20).

 

Normenkette

KOVVfG § 41 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 10. September 1969 und des Sozialgerichts Hamburg vom 30. August 1968 aufgehoben.

Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 28. September 1966 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. August 1967) wird abgewiesen, soweit sie sich nicht gegen die Rückforderung von Versorgungsleistungen richtet.

Wegen der Rückforderung wird der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beklagte bewilligte dem Kläger, zuletzt durch Bescheid vom 26. Oktober 1959, wegen

1. postdystrophischer Leberschädigung,

2. Zwerchfellverklebung re. nach Rippenfellentzündung,

3. Narben im Bereich des re. Oberarms nach Schußverletzung,

4. Narben auf der li. Gesäßhälfte nach Durchschuß und Incision,

5. Verbildung beider Groß- und 2. Zehen,

6. leichte Schallempfindungsschwerhörigkeit,

7. postdystrophischer Osteoporose der Wirbelsäule mit Verkrümmung sowie osteochondrotischer Veränderungen und reaktiver Spondylose

als Schädigungsfolgen eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H.. Sie ging davon aus, daß die Gesundheitsstörungen zu 3. und 4. Verwundungsfolgen, die übrigen Folgen einer bis 1956 dauernden (sowjetrussischen) Kriegsgefangenschaft seien.

Durch Urteil des Schwurgerichts Hamburg vom 25. Januar 1966 wurde der Kläger wegen Mordes in drei Fällen und versuchten Mordes in einem Fall, begangen an russischen Kriegsgefangenen, zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt; das Verfahren wegen zweier weiterer Tötungshandlungen stellte das Gericht ein, da diese als Totschlag zu bewerten und deshalb verjährt seien. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Kläger nahm am 2. Weltkrieg als Berufsoffizier, zuletzt im Range eines Majors, teil. Am 28. Juni 1942 schoß er hinterrücks in der Nähe von W auf russische Gefangene, die von deutschen Soldaten von der Frontlinie nach hinten geführt wurden, unbewaffnet waren und die Hände erhoben hatten. Dabei tötete er einen Gefangenen und verletzte einen weiteren. Am 7. Juli 1942 erstach er vor W eine uniformierte, aber unbewaffnete Russin durch mehrere Stiche mit einem Seitengewehr. Einen ebenfalls unbewaffneten Russen tötete er durch Schläge mit einem Infanteriespaten. Am 8. Juli 1942 erschoß er einen russischen Kriegsgefangenen, nachdem er ihn vernommen hatte; Ende Juli/Anfang August 1942 erschlug er einen schwerverwundeten Russen mit einem Gewehrkolben. Bereits im September 1942 wurde der Kläger nördlich von Stalingrad von einem deutschen Feldkriegsgericht wegen Totschlags in vier Fällen zu einer Gefängnisstrafe und zum Rangverlust verurteilt; jedoch hob Hitler diese gerichtliche Entscheidung am 28. Oktober 1942 auf. Am 31. Januar 1943 geriet der Kläger bei Stalingrad in Kriegsgefangenschaft. Er kam zunächst in ein Offizierslager der 6. Armee bei M, dann nach W und im Sommer 1943 nach E. Im Mai 1946 wurde er in das Gefängnis nach K gebracht und am 26. Oktober 1947 von einem russischen Militärtribunal wegen der Morde an den Gefangenen zu 20 Jahren Zwangsarbeit unter Anrechnung der Untersuchungshaft verurteilt. Seine Strafe verbüßte der Kläger in verschiedenen Straflagern der Sowjetunion, u. a. dem Ziegeleilager W. Im Oktober 1955 gelangte er in das Repatriierungslager R im Ural und wurde im Januar 1956 als nicht amnestierter Kriegsverbrecher entlassen.

Nachdem die Beklagte aus dem rechtskräftigen Urteil des Schwurgerichts Hamburg von diesem Sachverhalt erfahren hatte, entzog sie durch Bescheid vom 28. September 1966 die Rente gemäß § 41 Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG), da nur die unter 3 und 4 aufgeführten Körperschäden Schädigungsleiden im Sinne von § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) seien und durch diese keine rentenberechtigende MdE erreicht werde. Für die übrigen Gesundheitsschäden, die der Kläger in sowjetischem Gewahrsam erlitten habe, bestehe kein Anspruch auf Versorgung, weil weder die Kriegsgefangenschaft noch die "mit der Besetzung zusammenhängenden besonderen Gefahren" für die Entstehung oder Verschlimmerung dieser Gesundheitsschäden ursächlich gewesen seien. Zugleich forderte sie vom Kläger die gezahlten Versorgungsbezüge zurück. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte durch Bescheid vom 30. August 1967 zurück.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat durch Urteil vom 30. August 1968 der Klage stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 10. September 1969 zurückgewiesen. Es hat hierzu ausgeführt: Es bestehe kein Zweifel, daß der Kläger die Gesundheitsschäden während der Strafhaft erlitten habe. Diese Schäden seien nicht Folge der Kriegsgefangenschaft, sondern der Strafhaft; die Verurteilung durch das sowjetische Militärgericht stehe im Einklang mit dem deutschen Recht und müsse angesichts der Schwere der Verbrechen, die der Kläger begangen habe, als vergleichsweise milde beurteilt werden. Auch sei es nur natürlich, daß dieses Urteil in Russland vollstreckt und der Kläger den in Russland üblichen Strafvollstreckungsbedingungen unterworfen worden sei. Für diese Verurteilung und für die Straftat sei die Kriegsgefangenschaft nur die Voraussetzung oder der Anlaß, nicht aber eine wesentliche Bedingung im Sinne des BVG gewesen. Eine Strafverbüßung aufgrund eines ordnungsgemäßen Urteils, das in Übereinstimmung mit den deutschen Gesetzen und der deutschen Rechtsauffassung erlassen worden sei, könne auch nicht den Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG erfüllen. Daß der Kläger die Strafe in Russland nach russischem Brauch habe verbüßen müssen, sei nicht Folge einer Besetzung ehemals deutschen Gebietes, sondern Folge der schweren Straftaten, die der Kläger in Russland an russischen Kriegsgefangenen verübt habe. Der Kläger habe als Deutscher und Kriegsgefangener auch nicht besonders leiden müssen, was sich daraus ergebe, daß in dem "schlimmsten Lager", in Workuta, neben ihm russische Kriminelle gefangengehalten worden seien. Die Anerkennung der Gesundheitsschäden als Folge der Kriegsgefangenschaft oder einer besonderen Gefahr im Sinne von § 5 Abs. 1 d BVG sei daher unzweifelhaft tatsächlich und rechtlich unrichtig. Dennoch müsse die Berufung der Beklagten zurückgewiesen werden, weil bei einer Rentenentziehung nach § 41 VerwVG jede Schädigungsmöglichkeit durch einen versorgungsrechtlich erheblichen Tatbestand ausgeschlossen werden müsse. Der Schutz des Versorgungsempfängers gehe soweit, daß eine Entziehung der Rente nicht erfolgen könne, wenn zwar feststehe, daß der Schädigungstatbestand, im vorliegenden Falle also die Kriegsgefangenschaft, nicht den Schaden verursacht habe, daß dieser Schaden aber auch hätte eintreten können, wenn anstelle der Strafhaft eine Verwahrung als Kriegsgefangener erfolgt wäre. Da der Senat die Möglichkeit einer gleichartigen Schädigung des Klägers für den Fall nicht habe ausschließen können, daß der Kläger nicht als Strafgefangener, sondern als Kriegsgefangener in Gewahrsam gehalten worden wäre, seien die Voraussetzungen für die Entziehung nach § 41 Abs. 1 VerwVG nicht erfüllt, obwohl es außer Zweifel stehe, daß der Kläger die Schädigung nicht als Kriegsgefangener erlitten habe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 19. Januar 1970 zugestellte Urteil des LSG Hamburg vom 10. September 1969 hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Februar 1970, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 9. Februar 1970, Revision eingelegt und begründet.

Sie rügt die Verletzung von § 41 VerwVG und führt aus: Der Kläger habe durch seine vor Beginn der Kriegsgefangenschaft an unbewaffneten sowjetischen Kriegsgefangenen begangenen Delikte diejenige Bedingung gesetzt, die wegen ihrer besonderen Beziehung zur später eingetretenen Gesundheitsstörung bei natürlicher Betrachtungsweise allein als wesentlich festgestellt werden könne. Der Einwand, auch deutsche Soldaten ohne gleich schwerwiegende Verbrechen seien zu unmenschlich harten Strafen während der sowjetischen Gefangenschaft verurteilt worden, sei unerheblich, weil es nach der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätstheorie allein auf den konkreten Einzelfall ankomme. Der Begriff der Wesentlichkeit enthalte kein generalisierendes Moment. Neben dem konkreten Geschehensablauf müsse die hypothetische Möglichkeit, nach welcher der Schaden auch ohne den kräfteverzehrenden Strafvollzug hätte eintreten können, schon denkgesetzlich ausgeschlossen werden. Das gebiete für den Verlauf von Mai 1946 an allein schon die Tatsache, daß der Kläger während des Strafvollzuges nicht gleichzeitig Kriegsgefangener im Offizierslager habe sein können.

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil des LSG Hamburg aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis, jedoch nicht hinsichtlich der Begründung, für richtig und führt hierzu aus: Er habe schon vor der Verurteilung durch ein russisches Militärtribunal in menschenunwürdigen Verhältnissen, insbesondere bei völlig unzureichender Ernährung, gelebt. so daß die Frage geprüft werden müsse, inwieweit die Folgen der Dystrophie auf die Zeit der Kriegsgefangenschaft vom 31. Januar 1943 bis zum Mai 1946 zurückzuführen seien. Im übrigen sei die Kriegsgefangenschaft die entscheidende Ursache für seinen späteren Straflageraufenthalt gewesen, weil sie für die Sowjetunion die einzige Möglichkeit bedeutet habe, seiner habhaft zu werden. Auch sei keineswegs sicher, daß er ohne die Verurteilung wegen der begangenen Straftaten früher nach Deutschland zurückgekehrt wäre. Bereits zu einer Zeit, als die sowjetischen Dienststellen von seinen Straftaten noch nichts gewußt hätten, sei er im Lager Elabuga mit anderen sogenannten Erzfaschisten, die sich nicht den politischen Ansichten und Zielen des antifaschistischen Offiziersbundes hätten anschließen wollen, in den Isolationsblock gebracht worden. Auch die übrigen rund 120 Insassen des Isolationsblocks seien allein wegen der ihnen unterstellten faschistischen Überzeugung zu langjährigem Aufenthalt in Straflagern verurteilt worden. Daraus folge, daß die Kriegsgefangenschaft die einzig wesentliche Ursache für seinen Straflageraufenthalt darstelle. Im übrigen habe er seine Straftaten niemals verschwiegen, sondern sei davon ausgegangen, daß sie der Versorgungsverwaltung bekannt seien.

Die Revision ist zulässig. Sie ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und von der Beklagten form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG).

Die Revision ist begründet, wenn der Bescheid der Beklagten vom 28. September 1966, mit dem sie die Bewilligungsbescheide vom 27. August 1956 und vom 26. Oktober 1959 teilweise zurückgenommen und Versorgungsbezüge zurückgefordert hat, rechtmäßig ist.

Die Beklagte hat den angefochtenen Bescheid auf § 41 VerwVG gestützt. Die nach § 41 Abs. 2 VerwVG für den Rücknahmebescheid erforderliche Zustimmung des Landesversorgungsamtes liegt vor. Der angefochtene Bescheid weist auch, was die Verwaltungsvorschrift (VV) Nr. 9 zu § 41 VerwVG vorschreibt, auf das Vorliegen der ordnungsgemäßen Zustimmung hin.

Nach § 41 Abs. 1 VerwVG können Bescheide über Rechtsansprüche zuungunsten des Berechtigten aufgehoben werden, wenn außer Zweifel steht, daß sie im Zeitpunkt ihres Erlasses tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sind. Die durch den angefochtenen Verwaltungsakt aufgehobenen Bescheide, welche die Anerkennung der Schädigungsfolgen regelten, betrafen einen Rechtsanspruch auf Versorgung.

Eine tatsächliche Unrichtigkeit im Sinne des § 41 Abs. 1 VerwVG liegt vor, wenn der Sachverhalt so, wie er heute objektiv aufgeklärt ist, nach Aktenlage damals nicht bekannt und der nicht bekannte Teil des Sachverhalts für die Entscheidung maßgebend war, oder wenn die tatsächlichen Unterlagen zwar zur Zeit der Entscheidung den objektiven Sachverhalt ergaben, aber aus der Entscheidung hervorgeht, daß das Versorgungsamt von einem abweichenden Sachverhalt ausgegangen ist (van Nuis-Vorberg, Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, VIII. Teil; Das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung, 1968, S. 257). Die Beklagte war - unstreitig - bei Erlaß der aufgehobenen Bescheide davon ausgegangen, daß der Kläger sich die Leiden, deren Anerkennung als Schädigungsfolgen er begehrt hat, durch seinen Aufenthalt in russischer Kriegsgefangenschaft zugezogen hatte, und zwar - wie sich aus den Erhebungen, die der Anerkennung zugrunde gelegen haben ergibt -, durch schädigende Einwirkungen der Kriegsgefangenschaft seit 1948. In Wahrheit verbüßte der Kläger, der zunächst (1943) tatsächlich in Kriegsgefangenschaft geraten war, seit 1947 in den von ihm bezeichneten Gefangenenlagern eine Freiheitsstrafe, zu der ihn ein sowjetisches Militärgericht wegen Mordes an fünf russischen Kriegsgefangenen verurteilt hatte. Von dieser Strafe und den Verbrechen des Klägers wußte die Beklagte bei Erlaß der aufgehobenen Bescheide nichts. Ob die Beklagte, wie der Kläger behauptet, aus der Tatsache, daß er in den von ihm benannten Lagern untergebracht gewesen war, hätte entnehmen können, daß eine Strafhaft vorgelegen hatte, kann hier dahinstehen. Die Beklagte hat jedenfalls diese Überlegungen nicht angestellt, sie ist somit nicht von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen (van Nuis-Vorberg aaO). Ob sie durch weitere Ermittlungen den wahren Hergang hätte erfahren können, hat auf die Frage, ob die Beklagte bei Erlaß des Bescheides einen zutreffenden Sachverhalt rechtlich bewertet hat, keinen Einfluß (Thannheiser-Wende-Zech, Handbuch des Bundesversorgungsrechts, Band 2, Erl. zu § 41 - S 74). Die aufgehobenen Bescheide sind also in tatsächlicher Hinsicht unrichtig.

Grundsätzlich zieht die tatsächliche Unrichtigkeit die rechtliche nach sich. Hier muß, da der Kläger zunächst wirklich in Kriegsgefangenschaft geraten war, näher geprüft werden, ob der Bescheid auch in rechtlicher Hinsicht unrichtig ist, ob also der nunmehr bekannte Sachverhalt einen Versorgungsanspruch nach § 1 BVG nicht zuläßt.

Nach § 1 Abs. 1 und 2 b BVG erhält Versorgung, wer durch eine Kriegsgefangenschaft eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Für den vorliegenden Fall kommt es also darauf an, ob die Leiden, welche sich der Kläger während der Verbüßung seiner Freiheitsstrafe zugezogen hat, durch eine Kriegsgefangenschaft herbeigeführt worden sind. Der Kläger wurde als Soldat von russischen Truppen gefangengenommen, geriet also in Kriegsgefangenschaft (BSG, SozR BVG § 1 Nr. 49). Gemäß Art. 85 des Genfer Abkommens vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen (BGBl II 1954 S. 781) bleiben Kriegsgefangene, die aufgrund der Rechtsvorschriften des Gewahrsamstaates für Handlungen, die sie vor ihrer Gefangennahme begangen haben, verurteilt werden, im Genuß der in dem Abkommen vorgesehenen Vergünstigungen; sie behalten also trotz der Verurteilung den Status von Kriegsgefangenen. Ob das auch dann gilt, wenn die Taten, deretwegen der Kriegsgefangene verurteilt wird, zugleich nach deutschem Recht strafbar sind, oder ob in diesem Falle die Kriegsgefangenschaft mit der Verurteilung endet, kann hier offen bleiben. Selbst wenn der Kläger in Strafhaft noch Kriegsgefangener war, sind doch die in den Straflagern erlittenen Schädigungen nicht im Rechtssinne durch die Kriegsgefangenschaft verursacht. Nach der für das Gebiet der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm ist als ursächlich nur die Bedingung anzusehen, die im Verhältnis zu anderen Bedingungen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (BSG, 1, 268, 270; 11, 50, 52; 17, 225, 226). Nach § 1 Abs. 1 BVG wird für Folgen einer gesundheitlichen Schädigung Versorgung gewährt, die durch die dem militärischen oder militärähnlichen Dienst eigentümlichen Verhältnisse verursacht sind, also solche, die für die Eigenart des Dienstes "typisch" und in der Regel zwangsläufig mit ihm verbunden sind. Diese Grundsätze sind auch auf eine Schädigung zu übertragen, die durch eine Kriegsgefangenschaft verursacht worden ist. Die Kriegsgefangenschaft war zwar eine von mehreren Bedingungen für die Verurteilung des Klägers und die Strafvollstreckung, da er durch die militärische Gefangennahme in den Gewahrsam der Sowjetunion geriet. Wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne war sie jedoch nicht, weil eine Bestrafung wegen einer Tat, die nach dem für den Kriegsgefangenen und nach dem im Gewahrsamsland geltenden Recht mit Strafe bedroht ist, nicht zum Wesen der Kriegsgefangenschaft gehört; anders läge es allenfalls, wenn die Bestrafung wegen der Teilnahme am Krieg, der Staatsangehörigkeit des Kriegsgefangenen oder ähnlichen Gründe erfolgte (BSG, aaO). Die Strafe, die der Kläger erlitten hat, hing jedoch nicht mit seiner Teilnahme am Krieg, den Ursachen seiner Festnahme oder der Kriegsgefangenschaft selbst und seinem dort gezeigten Verhalten zusammen. Wesentliche Bedingung und damit Ursache seiner Bestrafung im Sinne der versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm waren die von ihm begangenen Straftaten. Die Gesundheitsschäden des Klägers sind somit allenfalls während der Kriegsgefangenschaft, aber nicht durch diese entstanden.

Es bleibt zu prüfen, ob die Schädigung, die der Kläger erlitten hat, Folge einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 a BVG ist. Nach § 5 Abs. 1 d BVG sind als unmittelbare Kriegseinwirkungen schädigende Vorgänge anzusehen, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebietes zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Die Verurteilung durch ein Besatzungsgericht wegen vor der Kriegsgefangenschaft begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit kann eine Schädigungsfolge im Sinne des § 5 Abs. 1 d BVG darstellen (vgl. BSG, 16, 182, 184). Der schädigende Vorgang muß einer Gefahr entsprungen sein, die der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebietes unter Berücksichtigung ihrer zeitlichen und örtlichen Besonderheiten eigentümlich war (vgl. BSG, 2, 99, 103; 4, 234, 236; 5, 116, 118; 8, 203, 204). § 5 Abs. 1 d BVG will demjenigen Versorgung gewähren, dem durch die Besatzungsmächte Unrecht geschehen ist. Ausgenommen vom Versorgungsschutz sind daher schädigende Vorgänge, die ihrer Art nach ebenso hätten eintreten können, wenn sie durch Maßnahmen der deutschen Verwaltung statt der Besatzungsmacht verursacht worden wären (BSG, 12, 13, 15). Durch die Verurteilung zu 20 Jahren Zwangsarbeit ist dem Kläger sicherlich kein Unrecht geschehen; das zeigt schon die Tatsache, daß das Schwurgericht Hamburg ihn zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt hat. Gemäß § 211 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) wird Mord mit lebenslänglicher Freiheitsentziehung bestraft. Nur weil das Schwurgericht glaubte, die Behauptung des Klägers, er habe seine Straftaten unter Alkoholeinfluß begangen, nicht widerlegen zu können, war die Verurteilung zu einer befristeten Freiheitsstrafe gemäß § 51 Abs. 2 StGB möglich; zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, daß § 51 Abs. 2 BVG die Milderung der an sich verwirkten Strafe nur erlaubt, nicht aber gebietet.

Der Kläger meint nun, wenn schon nicht die Verurteilung, so müsse doch wenigstens die Art der Strafvollstreckung als besondere Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 d BVG anerkannt werden. Jedoch ist die Art der Strafvollstreckung keine der Besetzung ehemals deutsch besetzten Gebietes eigentümliche Gefahr. Es erscheint selbstverständlich, daß die Sowjetunion die von ihrem Gericht verhängte Strafe jedenfalls zunächst selbst vollzog und den Kläger dem in Russland üblichen Strafvollzug unterwarf. Der Kläger hat selbst nicht vorgetragen, er habe als Deutscher besonderen Einschränkungen und Entbehrungen unterlegen. Wenn auch zuzugeben ist, daß der russische Strafvollzug nach der Schilderung des Klägers an Härte dem deutschen nicht zu vergleichen ist, so kann hierin keine der Besetzung deutscher Gebiete eigentümliche Gefahr bzw. Schädigung gesehen werden. Auch die Strafvollstreckung in der Sowjetunion haben allein die Verbrechen des Klägers verursacht; sie kann nicht als eine Versorgung auslösende typische Kriegsgefahr angesehen werden.

Es bleibt zu prüfen, ob die tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit der aufgehobenen Bescheide "außer Zweifel" steht. "Außer Zweifel stehen" im § 41 VerwVG bedeutet, daß der Entscheidende von der "tatsächlichen und rechtlichen Unrichtigkeit" des zu berichtigenden Bescheides soweit überzeugt ist, daß er jede aus dem festgestellten Sachverhalt sich ergebende, wenn auch fernliegende Möglichkeit, es könne anders sein, als ausgeschlossen ansieht (BSG 6, 106, 110). § 41 VerwVG verlangt also einen sehr hohen Grad der Überzeugungsbildung; aber diese bezieht sich lediglich auf die Feststellung von Tatsachen, aus denen die tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit hergeleitet wird (s. dazu auch van Nuis-Vorberg, VIII. Teil, aaO, S. 256; Thannheiser-Wende-Zech, aaO, Erläuterungen zu § 41 VerwVG, S. 74). Der Sachverhalt, den die Beklagte den aufgehobenen Bescheiden zugrunde gelegt hat - durch die Kriegsgefangenschaft bedingter Aufenthalt in allen vom Kläger angegebenen Gefangenenlagern - trifft im oben umschriebenen Sinne zweifellos nicht zu.

Die Anwendung des § 41 VerwVG ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Beklagte möglicherweise die unrichtige Bescheiderteilung hätte vermeiden können. Der Kläger vertritt zwar die Ansicht, die Beklagte habe aus der Angabe der Lager, in denen er in der Sowjetunion gefangengehalten wurde, entnehmen müssen, daß er sich in Strafhaft befunden habe. Für die Rechtmäßigkeit eines Bescheides nach § 41 VerwVG kommt es jedoch nicht darauf an, ob die Beklagte die Unrichtigkeit hätte erkennen können (BSG, Urteil vom 24. August 1960 - 9 RV 830/57 - KOV-Mitt. Berlin 1961, 24, 25; Urteil vom 15. Dezember 1960 - 11 RV 48/60 - BVBl 1961, 105).

Es ergibt sich also, daß die durch den angefochtenen Verwaltungsakt aufgehobenen Bescheide nach dem vom LSG angenommenen Sachverhalt im Zeitpunkt ihres Erlasses zweifellos tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sind. Das LSG hat die Klage dennoch für begründet gehalten, weil der Kläger möglicherweise "gleichartige Schädigungen" erlitten hätte, wenn er nicht als Strafgefangener, sondern als Kriegsgefangener in Gewahrsam gehalten worden wäre. Insoweit hat das LSG jedoch nicht den konkreten Geschehensablauf beurteilt, sondern seiner Beurteilung einen "hypothetischen Sachverhalt" zugrunde gelegt. Liegen die Voraussetzungen, von denen die Beklagte bei der Bescheiderteilung ausgegangen ist, nicht vor, so darf zwar ein "Berichtigungsbescheid" nach § 41 VerwVG dann nicht erteilt werden, wenn die Gewährung von Versorgung aus anderen Gründen gerechtfertigt ist (Schönleiter-Hennig, Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung, Komm. 2. Aufl. 1969, § 41 Anm. 6; BSG 6, 288, 291/2; 13, 232, 235 - SozR VerwVG § 41 Nr. 20). Das bedeutet, daß nicht nach § 41 VerwVG "berichtigt" werden darf, wenn auch nach dem nunmehr (richtig) festgestellten Sachverhalt das Vorliegen eines versorgungsrechtlich geschützten Tatbestandes nicht auszuschließen ist. Das LSG ist in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, daß die Gesundheitsschäden des Klägers - abgesehen von den Verwundungsfolgen - durch schädigende Einwirkungen der Strafhaft d. h. durch die Strafverbüßung in den Straflagern verursacht worden sind. Nach dem festgestellten konkreten Geschehensablauf hat das LSG das Vorliegen eines versorgungsrechtlich geschützten Tatbestandes ausgeschlossen. Die Möglichkeit des Vorliegens eines solchen Tatbestandes hat es nur bei Unterstellung eines in Wirklichkeit nicht gegebenen Sachverhalts bejaht. Auch bei der Anwendung des § 41 VerwVG kann aber nicht anstelle der Beurteilung des festgestellten konkreten Geschehensablaufs die Würdigung eines nur hypothetischen Sachverhalts treten.

Nach der nicht angefochtenen Feststellung des LSG bestehen keine Zweifel daran, daß der Kläger "die anerkannten Leiden" (soweit es sich nicht um die Verwundungsfolgen handelt) während der Strafhaft erlitten hat. Das LSG hat damit, wie der Revisionsbeklagte zutreffend ausgeführt hat, auch zum Ausdruck gebracht, daß diese Leiden nicht während der "echten Kriegsgefangenschaft" des Klägers, also vor 1946 entstanden sind. Diese tatsächliche Feststellung ist für das Revisionsgericht bindend. Der Revisionsbeklagte deutet zwar mit seinem Vorbringen, das LSG habe noch prüfen müssen, inwieweit die Folgen der Dystrophie auf den Teil der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen seien, der vor der Strafverbüßung liege, an, daß diese Feststellung des LSG möglicherweise nicht zutreffe. Zulässige und begründete Verfahrensrügen bringt er jedoch insoweit nicht vor (§§ 163, 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Auch der in der Berufungsinstanz obsiegende Revisionsbeklagte kann - ihm ungünstige - Feststellungen, die sich aber für ihn nicht ungünstig ausgewirkt haben, weil das LSG aus anderen rechtlichen Erwägungen nach seinem Antrag erkannt hat, mit Verfahrensrügen (in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form) angreifen, um eine Zurückverweisung an das Berufungsgericht zu erreichen. Erhebt der Revisionsbeklagte derartige Rügen nicht, ist die ihm ungünstige Feststellung der Urteilsfindung durch das Revisionsgericht zugrunde zu legen (vgl. auch Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit zu § 163 SGG Nr. 3, letzter Absatz S. III/80 - 94 -). Im übrigen wird die Feststellung des LSG eindeutig gestützt durch die medizinischen Erhebungen und die diesen zugrunde gelegten anamnetischen Angaben des Klägers (im Anschluß an den Versorgungsantrag von 1956), aus denen zu entnehmen ist, daß er "von 1948 ab" an Dystrophie und Typhus gelitten hat. Dies entspricht auch den Feststellungen des Urteils des Schwurgerichts Hamburg. Dafür, daß der Kläger schon an einer für die Entstehung seiner späteren Leiden bedeutsamen Krankheit gelitten hat, bevor er etwa 10 Jahre lang den besonders erschwerten Lebensbedingungen der Straflager und ungewohnten harten körperlichen Arbeiten ausgesetzt war, hat das LSG weder aus dem Vorbringen des Klägers noch aus den medizinischen Unterlagen einen Anhalt zu entnehmen brauchen.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist danach, soweit darin die Anerkennung der Schädigungsfolgen - abgesehen von den Verwundungsfolgen - sowie die Rentenbewilligung nach § 41 VerwVG zurückgenommen worden ist, rechtmäßig.

Die Urteile der gerichtlichen Vorinstanzen, in denen die Sach- und Rechtslage insoweit nicht zutreffend beurteilt ist, sind danach aufzuheben.

Das BSG kann jedoch nicht abschließend entscheiden, weil Streitgegenstand dieses Verfahrens auch der Rückforderungsanspruch ist, den die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid erhoben hat. Über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides, soweit er die Rückforderung zu Unrecht bezogener Versorgungsleistungen betrifft, hat das LSG noch zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669944

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