Leitsatz (amtlich)

Hat die Versorgungsverwaltung bei Bewilligung der Rente den Grad der MdE "unrichtig" beurteilt, so ist dieser Bescheid "tatsächlich unrichtig". Die Bewertung der MdE ist jedoch nur dann "außer Zweifel" unrichtig (KOV-VfG § 41), wenn jede Möglichkeit ausscheidet, die Bewertung noch als vertretbar anzusehen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Bewilligungsbescheid der den Grad der MdE unrichtig beurteilt, ist iS des § 41 KOVVfG tatsächlich unrichtig Die tatsächliche Unrichtigkeit hat die rechtliche Unrichtigkeit zur Folge, wenn die auf Grund der unrichtigen tatsächlichen Feststellung bemessene Rente zu hoch oder zu niedrig ist.

Bei der Beurteilung, ob der rechtswidrige Bescheid im Zeitpunkt seines Erlasses unrichtig gewesen ist und zurückgenommen werden kann, kommt es auf die wirklich Sach- und Rechtslage zu jeder Zeit an.

Die Anwendung des KOV-VfG § 41 ist nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß die Umstände, die die Rechtswidrigkeit des Bescheides verursacht haben, dem Verantwortungsbereich der Verwaltungsbehörde zuzurechnen sind.

Das Gesetz selbst hat bei seiner Regelung die beiderseitige Interessenabwägung bereits vorgenommen.

Eine zweifelsfreie Unrichtigkeit darf bei der Bemessung der MdE nur in Ausnahmefällen angenommen werden.

2. Für die Frage, ob ein Bescheid von Anfang an Rechtswidrigkeit gewesen ist, kommt es nicht darauf an, wie die Versorgungsbehörde die Sach- und Rechtslage bei Erlaß dieses Bescheides oder später angesehen hat, sondern darauf, wie sie in Wirklichkeit gewesen ist.

Die "Feststellung" der MdE ist das Ergebnis einer Würdigung der Gesamtheit derjenigen tatsächlichen Umstände, deren Betrachtung Anhalte für das Ausmaß der Erwerbseinbuße ergibt; zu diesen Anhalten gehört auch, aber nicht nur, die Schätzung des Arztes.

Die MdE ist jedenfalls nicht schon dann "außer Zweifel" unrichtig festgesetzt, wenn sie nicht den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit entspricht. Bei der Bewertung der MdE sind gewisse Unterschiede und Schwankungen immer möglich; es gibt keine absolut objektive Beurteilungsmöglichkeit; eine zweifelsfreie Unrichtigkeit ist nur dann gegeben, wenn jede Möglichkeit ausscheidet, eine Bewertung noch als vertretbar anzusehen.

 

Normenkette

KOVVfG § 41 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 2. Dezember 1959 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger erhielt nach dem Hessischen Leistungsgesetz für Körperbeschädigte (KBLG) und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) (Umanerkennungsbescheid des Versorgungsamts F vom 12.11.1951) wegen der Folgen einer Schußverletzung eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 50 v. H. Im Juli 1955 wurde der Kläger nachuntersucht. Der ärztliche Sachverständige war der Auffassung, die Verhältnisse hätten sich nicht geändert; die MdE. sei jedoch früher mit 50 v. H. zu hoch bewertet worden, sie sei mit 25 v. H. ausreichend bewertet.

Am 16. September 1955 teilte das Versorgungsamt (VersorgA.) F dem Kläger mit, die Verhältnisse hätten sich nicht geändert, die MdE. betrage wie bisher 50 v. H., die Rente ändere sich nicht, eine Nachuntersuchung von Amts wegen sei nicht vorgesehen.

Im Jahre 1958 beantragte der Kläger Kapitalabfindung. Das VersorgA. veranlaßte darauf eine erneute ärztliche Untersuchung des Klägers. Der ärztliche Sachverständige bezeichnete den Grad der MdE. "als wesentlich zu hoch"; nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers nur um 25 v. H. gemindert.

Das VersorgA. F erließ darauf mit Zustimmung des Landesversorgungsamts am 1. Dezember 1958 einen Bescheid nach § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung - VerwVG - ("Berichtigungsbescheid"); es hob darin die Bescheide, mit denen dem Kläger eine Rente nach einer MdE. von 50 v. H. bewilligt worden war sowie die "Mitteilung vom 16. September 1955" auf; es bewilligte dem Kläger ab 1. Januar 1959 nur noch eine Rente nach einer MdE. von 25 v. H.; es führte dazu aus, die "Anerkennung einer MdE. von 50 v. H. sei von Anbeginn zweifelsfrei unrichtig" gewesen; die MdE. betrage nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit nur 25 v. H.

Das Sozialgericht (SG.) Frankfurt/Main hob den Bescheid vom 1. Dezember 1958 auf und verurteilte den Beklagten am 8. April 1959, dem Kläger weiterhin Rente nach einer MdE. von 50 v. H. zu zahlen. Der Beklagte legte Berufung beim Hessischen Landessozialgericht (LSG.) ein. Das LSG. lud die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, nach § 75 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zum Verfahren bei. Das LSG. wies die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 2. Dezember 1959 zurück. Es führte dazu aus, das VersorgA. habe die Feststellung der MdE. nicht nach § 41 VerwVG ändern dürfen; die früheren Bewilligungsbescheide seien nicht tatsächlich unrichtig gewesen, wenn darin nur die MdE. zu hoch geschätzt worden sei; die Kürzung der Rente, die das VersorgA. mit dem Bescheid nach § 41 VerwVG vorgenommen habe, verstoße auch gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, da das VersorgA. dem Kläger noch nach der ärztlichen Nachuntersuchung vom September 1955 mitgeteilt habe, die bisherige Rente ändere sich nicht.

Das LSG. ließ die Revision zu.

Das Urteil des LSG. wurde dem Beklagten am 23. Dezember 1959 zugestellt. Der Beklagte legte am 12. Januar 1960 Revision ein, er beantragte,

das Urteil des Hessischen LSG. vom 2. Dezember 1959 und das Urteil des SG. Frankfurt vom 8. April 1959 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG. aufzuheben und die Sache an das LSG. zu neuer Entscheidung zurückzuweisen.

Der Beklagte begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 5. März 1960: Das LSG. habe die §§ 41 VerwVG und 86 Abs. 3 BVG unrichtig angewandt; es habe zu Unrecht angenommen, eine falsche Beurteilung der Frage, in welchem Grade die Erwerbsfähigkeit eines Beschädigten durch Schädigungsfolgen beeinträchtigt sei, sei keine tatsächliche Unrichtigkeit im Sinne des § 41 VerwVG; das LSG. habe auch zu Unrecht angenommen, der "Berichtigungsbescheid" verstoße gegen Treu und Glauben.

Der Kläger beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene schloß sich den Anträgen und den Ausführungen des Beklagten an.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Der Beklagte hat die Revision auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Die Revision ist sonach zulässig; sie ist auch begründet.

Streitig ist, ob der Bescheid des Beklagten vom 1. Dezember 1958 ("Berichtigungsbescheid") rechtmäßig ist. Durch diesen Bescheid hat der Beklagte den Bescheid vom 16. September 1955, in dem er dem Kläger (wie auch in früheren Bescheiden) eine Rente nach einer MdE. um 50 v. H. bewilligt hat, ab 1. Februar 1959 insoweit zurückgenommen, als er dem Kläger eine höhere Rente als eine Rente nach einer MdE. um 25 v. H. gewährt hat. Der Beklagte hat angenommen, der Grad der MdE. von 50 v. H. sei von Anfang an "zweifelsfrei zu hoch" bemessen gewesen, der Kläger sei wegen der Schädigungsfolgen nur um 25 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert; er hat den Rücknahmebescheid auf § 41 VerwVG gestützt.

Das LSG. hat angenommen, der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig; der Beklagte habe die teilweise Rücknahme der Rentenbewilligung nicht auf § 41 VerwVG stützen dürfen, weil die unrichtige Bewertung der MdE. keine tatsächliche Unrichtigkeit im Sinne des § 41 VerwVG sei und weil die "Rentenherabsetzung" im vorliegenden Falle gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoße.

Der Senat vermag die rechtlichen Erwägungen, auf die das LSG. diese Annahme gestützt hat, nicht zu teilen. Die Ermächtigung der Versorgungsbehörde, einen bindend gewordenen Bescheid über die Bewilligung einer Rente (als von Anfang an rechtswidrig) nach § 41 VerwVG zurückzunehmen, setzt zwar voraus, daß sowohl die tatsächliche Unrichtigkeit als auch die rechtliche Unrichtigkeit des Bescheides außer Zweifel steht (vgl. insoweit BSG. 8 S. 198 ff.); der Bewilligungsbescheid ist aber - entgegen der Annahme des LSG. - auch dann tatsächlich unrichtig, wenn der Grad der MdE. unrichtig beurteilt worden ist. Die Beurteilung der Frage, in welchem Grade die Erwerbsfähigkeit durch Schädigungsfolgen gemindert wird, ist eine tatsächliche Feststellung (vgl. auch Beschluß des BSG. vom 17.1.1958; SozR. Nr. 25 zu § 128 SGG). Um eine tatsächliche Feststellung handelt es sich nicht nur insoweit, als zu ermitteln ist, welche Schädigungsfolgen vorliegen und bedeutsam sind, sondern auch insoweit, als zu beurteilen ist, in welchem Ausmaß der durch die Schädigungsfolgen bedingte Zustand die Fähigkeit des Beschädigten, seine Arbeitskraft zu verwerten, mindert (§§ 29, 30 BVG). Daran ändert nichts, daß sich das Ausmaß der Erwerbseinbuße in der Regel nur nach Anhaltspunkten und damit nur annähernd feststellen läßt, weil es Erkenntnismittel für eine ganz genaue Feststellung nicht gibt. Die "Feststellung" der MdE. ist das Ergebnis einer Würdigung der Gesamtheit derjenigen tatsächlichen Umstände, deren Betrachtung Anhalte für das Ausmaß der Erwerbseinbuße ergibt; zu diesen Anhalten gehört auch, aber nicht nur, die Schätzung des Arztes.

Hat die Versorgungsverwaltung bei Bewilligung der Rente den Grad der MdE. "unrichtig" beurteilt, so ist dieser Bescheid "tatsächlich unrichtig"; daraus folgt, daß er auch rechtlich unrichtig ist, wenn die unrichtige Feststellung der MdE. zu einer "unrichtigen" Rente geführt hat, d. h. wenn die Rente, die festgestellt worden ist, zu hoch oder zu niedrig ist; in diesem Fall stimmt der Bescheid nicht mit der wahren Sach- und Rechtslage überein; er ist also rechtswidrig. Daraus ergibt sich indes noch nicht, daß der Beklagte ihn hat zurücknehmen dürfen; das hat er nur tun dürfen, wenn die besonderen Voraussetzungen erfüllt gewesen sind, an die § 41 VerwVG die Rücknahme eines von Anfang an rechtswidrigen, begünstigenden Verwaltungsaktes geknüpft hat. Dabei ist es für die Frage, ob der Bescheid vom 16. September 1955 von Anfang an rechtswidrig gewesen ist, nicht darauf angekommen, wie die Versorgungsbehörde die Sach- und Rechtslage bei Erlaß dieses Bescheides oder später angesehen hat, sondern darauf, wie sie in Wirklichkeit gewesen ist (vgl. auch BSG. 10 S. 72). Auch ist zu beachten gewesen, daß die Ermächtigung der Versorgungsbehörde, von Anfang an rechtswidrige Bescheide nach § 41 VerwVG zurückzunehmen und damit das Rechtsverhältnis der Beteiligten mit der wahren Sach- und Rechtslage in Übereinstimmung zu bringen, nicht schon deshalb entfällt, weil die Umstände, durch die die Rechtswidrigkeit der Bescheide verursacht worden ist, dem Verantwortungsbereich der Versorgungsbehörde zuzurechnen sind. Es kommt deshalb auch nicht darauf an, ob die Versorgungsbehörde die Rechtswidrigkeit der bisherigen Rentenfeststellung früher hätte erkennen können oder sogar müssen und ob sie von einer rechtlichen Möglichkeit, die "richtige Rente" festzustellen, die ihr früher zur Verfügung gestanden hat, hätte Gebrauch machen können (§ 86 Abs. 3 BVG). Im vorliegenden Fall ist deshalb auch nicht entscheidend, daß die Versorgungsbehörde dem Kläger noch mit der "Mitteilung" vom 16. September 1955 die bisherige MdE. und die bisher festgestellte Rente "bestätigt" hat (in Wirklichkeit ist die "Mitteilung" der letzte und damit maßgebende Bescheid, der die früheren Bescheide ersetzt hat) und daß sie dem Kläger auch mitgeteilt hat, eine Nachuntersuchung sei nicht vorgesehen. Zwar handelt es sich auch insoweit um einen den Kläger begünstigenden Verwaltungsakt; der Beklagte hat aber auch diesen Verwaltungsakt zurücknehmen dürfen, wenn er auf der tatsächlichen und rechtlichen Unrichtigkeit des Rentenbewilligungsbescheides beruht hat und die sonstigen Voraussetzungen des § 41 VerwVG vorgelegen haben (vgl. auch BSG. 6 S. 175 (180)). Das Gesetz hat in der Regelung des § 41 VerwVG selbst das allgemeine öffentliche Interesse, fehlerhafte Bescheide über wiederkehrende Leistungen zu beseitigen, und das Interesse des Beschädigten an dem Schutz seines Vertrauens auf den Fortbestand der Rentenbewilligung gegeneinander abgewogen; es hat deshalb die Ermächtigung der Versorgungsbehörde, einen von Anfang an rechtswidrigen, aber bindend gewordenen Bescheid über eine Rentenbewilligung zurückzunehmen, an Voraussetzungen geknüpft, die dem Gesichtspunkt Rechnung tragen, daß die Rücknahme eines Bewilligungsbescheids eine "einschneidende Maßnahme" ist.

Das LSG. hat danach zu Unrecht angenommen, § 41 VerwVG komme als Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid vom 1. Dezember 1958 nicht in Betracht. Für die Feststellung, die früheren Rentenbewilligungsbescheide seien nicht unrichtig, reicht nicht schon der Hinweis des LSG. aus, die Versorgungsbehörde selbst habe noch vor drei Jahren die MdE. von 50 v. H. für richtig gehalten; es kommt - wie dargelegt - darauf an, wie die tatsächlichen Verhältnisse in Wirklichkeit gewesen sind; insoweit hat das LSG. keine Feststellungen getroffen. Das Urteil des LSG. ist deshalb aufzuheben, die Sache ist zu neuer Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG). Soweit streitig ist, ob die etwaige Unrichtigkeit "außer Zweifel" steht, ist bei der neuen Entscheidung zu beachten, daß eine zweifelsfreie Unrichtigkeit bei der Bemessung der MdE. nur in Ausnahmefällen angenommen werden darf. Die MdE. ist jedenfalls nicht schon dann "außer Zweifel" unrichtig festgesetzt, wenn sie nicht den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit entspricht. Bei der Bewertung der MdE. sind gewisse Unterschiede und Schwankungen immer möglich; es gibt keine absolut objektive Beurteilungsmöglichkeit; eine zweifelsfreie Unrichtigkeit ist nur dann gegeben, wenn jede Möglichkeit ausscheidet, eine Bewertung noch als vertretbar anzusehen (so zutreffend LSG. Schleswig, Breithaupt 1959 S. 63, vgl. auch BSG. 6 S. 106).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 227

NJW 1961, 988

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge