Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit eines Briefzustellers

 

Orientierungssatz

Zur Bewertung der Tätigkeit eines Postarbeiters im Zustelldienst (Briefzusteller), der die Prüfung für den einfachen Postdienst abgelegt hat und tariflich wie ein Facharbeiter eingestuft ist (vgl BSG 1979-06-28 4 RJ 1/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 46).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 28.06.1982; Aktenzeichen L 4 J 81/81)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 18.03.1981; Aktenzeichen S 8 (8b) J 63/77)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob für die Beurteilung des Anspruchs auf Berufsunfähigkeitsrente bei einem Postarbeiter im Zustelldienst in der Frage der Verweisbarkeit von der Berufsgruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters auszugehen ist.

Der 1918 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er ist als Laufjunge, Montagehelfer, Montageschlosser und schließlich ab 1955 als Postarbeiter im Zustelldienst (Briefzusteller) bei der Deutschen Bundespost tätig gewesen. 1960 hat er die Prüfung für den einfachen Postdienst abgelegt. Daraufhin wurde er in die Lohngruppe IV sowie ab 1. Oktober 1966 in die Lohngruppe III des Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost eingruppiert. Wegen seiner Tätigkeit auf einem Beamtendienstposten - Briefzusteller A 4 - erhielt er zu seinem jeweiligen Lohn eine Tätigkeitszulage in Höhe des Lohnunterschiedes zwischen den Lohngruppen IV bzw III und der Lohngruppe II. Wegen Dienstunfähigkeit für den Postdienst bezieht er seit dem 1. Oktober 1976 eine Versorgungsrente von der Versorgungsanstalt der Deutschen Bundespost.

Im April 1976 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit. Durch Bescheid vom 30. August 1976 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger sei nach ärztlicher Beurteilung noch fähig, Leistungen - auch als Briefzusteller - die keine besondere Belastung für den rechten Arm darstellten, ganztägig zu verrichten. Nach mehrfacher ärztlicher Begutachtung des Klägers hat das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen die Klage mit Urteil vom 18. März 1981 abgewiesen, weil der Kläger noch als Pförtner an der Hauptpforte im öffentlichen Dienst nach Lohngruppe IX BAT überall dort arbeiten könne, wo weder eine gleitende Arbeitszeit eingeführt worden sei, noch Schichtdienst verrichtet werde. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen die Beklagte mit Urteil vom 28. Juni 1982 in Abänderung des Urteils des SG sowie unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger vom 1. April 1976 bis zum 29. Februar 1980 Berufsunfähigkeitsrente zu gewähren. Die Berufsunfähigkeit des Klägers hat das LSG mit der Begründung bejaht, er könne nur noch leichte und gelegentlich mittelschwere Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Gehen und Stehen, möglichst in geschlossenen Räumen, allerdings noch vollschichtig aber nur in gleichbleibender Schicht und ohne besondere Belastung des rechten Armes verrichten. Wegen seiner Prüfung für den einfachen Postdienst und mit Rücksicht auf seine Entlohnung in den Lohngruppen IV bzw III des Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost sei er einem gelernten Facharbeiter gleichzusetzen, weil in diese Lohngruppen auch Handwerker mit Gesellenprüfungszeugnis oder Facharbeiterbrief eingereiht seien. Deshalb seien ihm nur noch Tätigkeiten aus der Gruppe der angelernten und auch der ungelernten Arbeiten zumutbar, sofern sich letztere durch besondere Merkmale aus dem Kreis der sonstigen einfachen Arbeiten heraushöben und wegen ihrer Qualität tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe eingestuft seien. Insoweit sei ihm aber im Bereich der Deutschen Bundespost der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen; auch in anderen Tarifbereichen seien dem Kläger Facharbeitertätigkeiten mangels verwertbarer Berufspraxis nicht erreichbar. Eine tariflich wie eine Anlerntätigkeit entlohnte Pförtnertätigkeit sei Arbeitnehmern im Bereich der öffentlichen Verwaltung erst nach dreijähriger Bewährung zugänglich, wobei häufig die dem Kläger medizinisch nicht mehr zumutbare Wechselschicht vorkomme.

Mit der zugelassenen Revision beanstandet die Beklagte, das LSG habe den Kläger zu Unrecht einem gelernten Facharbeiter gleichgestellt. Die Tätigkeit des Briefzustellers setze weder eine Lehre mit Abschlußprüfung noch überhaupt eine berufliche Ausbildung voraus. Neben der Anlernzeit von 14 Tagen sei der vierwöchige Kursus mit Prüfung für den einfachen Postdienst nicht einmal erforderlich. In die Lohngruppe des Handwerkers werde der Postzusteller nur eingestuft, weil Beamte im Zustelldienst, die ebenfalls keine berufsspezifischen Voraussetzungen erfüllen müßten, nach der Besoldungsgruppe A 4 besoldet würden und der Zustelldienst unter schweren physischen Bedingungen erfolge. Der Kläger sei demnach dem Leitberuf des angelernten Arbeiters zuzuordnen und hier in seiner Erwerbsfähigkeit noch nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren Versicherten herabgesunken.

Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. Juni 1982 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 18. März 1981 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen. Das LSG hat auf der Grundlage seiner von der Revision nicht angegriffenen und deshalb gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für das BSG bindenden Feststellungen den Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitsrente zutreffend bejaht; es hat § 1246 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht verletzt.

§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO stellt hinsichtlich des Kreises der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, auf alle Tätigkeiten ab, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Nach der Rechtsprechung des BSG wird die Qualität des "bisherigen Berufs" (Hauptberufs) - und dementsprechend die Breite der zulässigen Verweisung auf einen anderen Beruf - durch Einordnung in eine von mehreren Gruppen von Arbeiterberufen näher bestimmt, wobei jede Berufsgruppe jeweils durch bestimmte "Leitberufe" charakterisiert wird (vgl BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr 16 S 48 mwN). Als Berufsgruppen hat das BSG die durch den Leitberuf des Facharbeiters, des angelernten Arbeiters und des ungelernten Arbeiters charakterisierten Gruppen unterschieden und dabei betont, daß die Charakterisierung der Berufsgruppen durch Leitberufe den Einschluß aller Berufe in die Gruppe bedeute, die etwa wie diese tariflich eingestuft sind. Die tarifliche Einstufung bringt nämlich am zuverlässigsten zum Ausdruck, welchen qualitativen Wert die am Berufsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise, die Tarifpartner, einer bestimmten Berufstätigkeit zumessen. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn eine - relativ hohe - tarifliche Einstufung im wesentlichen nicht auf die Qualität der Berufstätigkeit, sondern auf die mit ihrer Verrichtung verbundenen Nachteile und Erschwernisse zurückzuführen ist (zB Akkord-, Nacht-, Schmutzarbeit uä).

In die Gruppe der Berufe, die durch den Leitberuf des Facharbeiters charakterisiert ist, fallen die Versicherten, die als Hauptberuf einen anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungsdauer von zumindest zwei Jahren ausüben. Zu dieser Gruppe gehören - mit der oben erwähnten Ausnahme - aber auch alle Versicherten mit einem tariflich etwa gleich hoch eingestuften Beruf. Gegen Letzteres wendet sich die Beklagte mit der Revision. Sie will zur jeweiligen Berufsgruppe nur noch Versicherte mit der erforderlichen Ausbildungsdauer, nicht aber diejenigen Versicherten rechnen, die tariflich gleich eingestuft sind. Der Zuordnung zu einer Berufsgruppe allein nach der Dauer der Ausbildung vermag der Senat jedoch nicht zuzustimmen.

Dauer und Umfang der Ausbildung des Versicherten sind zwar ein gesetzlicher Maßstab für den Kreis der ihm berufsmäßig zumutbaren Tätigkeiten. Sie sind jedoch nicht der alleinige Maßstab. Es kommt nach § 1246 Abs 2 RVO vielmehr auch auf die Kräfte und Fähigkeiten des Versicherten, auf seinen bisherigen Beruf und auf die besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit an. Deshalb verbietet sich eine schematische Einordnung nach der Dauer der Ausbildung. Versicherte, die sich Kenntnisse und Fähigkeiten nicht innerhalb eines förmlichen Ausbildungsganges, sondern auf andere Weise angeeignet haben, etwa im Verlaufe langjähriger Berufserfahrung, oder die bestimmte Fähigkeiten in so ausgeprägtem Maße mitbringen, daß es einer formalen Ausbildung üblicher Dauer nicht bedarf, dürfen, wenn sie wegen ihrer Fähigkeiten tariflich einem ausgebildeten Versicherten entsprechend eingestuft sind, diesem gegenüber versicherungsrechtlich nicht benachteiligt wurden. Nur so kann eine schematisierende Einstufung allein nach Ausbildungsmerkmalen vermieden werden, die zur Ungleichbehandlung beruflich gleichwertiger Versicherter führen würde, und den von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO genannten Besonderheiten des einzelnen Versicherten individuell Rechnung getragen werden.

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das LSG zutreffend darauf hingewiesen, daß nach Abs 1 der Vorbemerkungen zum Lohngruppenverzeichnis im Tarifvertrag für die Arbeiter der Deutschen Bundespost unter dem Begriff Handwerker iS des Lohngruppenverzeichnisses Arbeiter verstanden werden, die ein Gesellenprüfungszeugnis oder einen Facharbeiterbrief über eine abgeschlossene Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungsdauer von mindestens zweieinhalb Jahren besitzen. Weiter hat das LSG zutreffend darauf verwiesen, daß in der Lohngruppe III des Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost, der der Kläger von 1966 bis 1976 angehört hat, und ebenso in der Lohngruppe IV, die für den Kläger von 1960 bis 1966 maßgebend gewesen ist, Handwerker iS der genannten Vorbemerkung eingruppiert sind. Wenn der Kläger in diese Handwerkerlohngruppen tariflich eingestuft worden ist, was unter den Beteiligten nicht streitig ist, so ist er der Gruppe, die durch den Leitberuf des Facharbeiters charakterisiert wird, zuzuordnen. Dabei kommt es nicht darauf an, daß er einen Lehrgang von etwa fünf Wochen besucht und anschließend die Prüfung für den einfachen Postdienst abgelegt hat. Diese Prüfung mag zwar dafür ausschlaggebend gewesen sein, daß der Kläger anschließend in Handwerkerlohngruppen tariflich eingruppiert worden ist; selbst ohne eine solche Prüfung wäre der Kläger aber bei entsprechender tariflicher Einstufung der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen.

Dies könnte nur dann nicht gelten, wenn die Einstufung in die Lohngruppe IV bzw III im wesentlichen nicht auf die Qualität der Berufstätigkeit, sondern auf die mit ihrer Verrichtung verbundenen Nachteile und Erschwernisse zurückzuführen wäre. Die Beklagte nennt als Grund dieser Einstufung in erster Linie die Tätigkeit auf einem Beamtendienstposten. Sie weist aber auch auf die von ihr für schwer erachteten physischen Bedingungen des Zustelldienstes hin, die sie darin erblickt, daß der Zusteller oft weite Wegstrecken zurücklegen, schwere Lasten tragen und dies bei jeder Witterung tun muß. Die Beklagte übersieht dabei, daß die Qualität einer Berufstätigkeit nicht nur von den dabei zu erfüllenden intellektuellen Anforderungen, sondern in gleichem Maße auch von den Anforderungen in bezug auf Zuverlässigkeit, physische Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit abhängt. Das bedeutet, daß neben der auf einem Beamtendienstposten erforderlichen Zuverlässigkeit auch die von der Beklagten erwähnten schweren physischen Bedingungen, soweit sie im modernen Postzustelldienst nicht durch technische Hilfsmittel ausgeglichen werden, gerade die für diese Berufstätigkeit eigentümlichen und deshalb auf ihre Qualität generell durchschlagenden Umstände sind. Eine im Einzelfall von der Qualität der Berufstätigkeit abweichende zu hohe und tarifliche Einstufung des Klägers kann damit nicht begründet werden (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 1246 Nr 46). Das LSG war somit nicht gehindert, den Kläger der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen. Dies rechtfertigt die Zurückweisung der Revision, da andere Rechtsverstöße weder gerügt noch ersichtlich sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660766

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