Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 03.11.1988; Aktenzeichen L 9 Ar 68/87)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. November 1988 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz ≪OEG≫) zu versagen sind, weil sich das Gewaltopfer leichtfertig in die Gefahr einer körperlichen Auseinandersetzung begeben hat.

Der Kläger befand sich am 1. Mai 1980 auf einer anläßlich des Feiertages in einer Stadthalle durchgeführten Veranstaltung. An einem Getränkestand wurde er von dem ihm bis dahin unbekannten, erheblich angetrunkenen Zeugen R … (im folgenden: R.) angerempelt und belästigt. Nach einem Wortwechsel, bei dem der Kläger gesagt haben will: „Wenn Du Dich prügeln willst, gehe nach draußen”, ging der Kläger mit R. eine Treppe hinab in Richtung Hallenausgang – nach seiner Darstellung in der Absicht, R. den Hallenordnern zu übergeben. Auf einem Treppenabsatz wurde er plötzlich von R. geschlagen und bei der anschließenden körperlichen Auseinandersetzung so heftig in die Nase gebissen, daß es zu einem Nasenteilverlust mit funktioneller Behinderung und einer dauerhaften Gesichtsentstellung, möglicherweise auch zu psychischen Folgeschäden gekommen ist.

Die Versorgungsverwaltung lehnte den Antrag des Klägers auf Leistungen nach dem OEG mit der Begründung ab, er habe bei dem Wortwechsel R. selbst zur Austragung einer Schlägerei aufgefordert (Bescheid vom 15. November 1982; Widerspruchsbescheid vom 18. April 1983). Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 14. Februar 1986; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 3. November 1988). Das LSG ist aufgrund der Anhörung des Klägers und nach Vernehmung von Zeugen zu der Auffassung gelangt, daß der Kläger die Schädigung zwar nicht verursacht, sich aber doch in hohem Maße vernunftwidrig dieser Gefahr ausgesetzt habe, so daß eine Entschädigung unbillig iS des § 2 Abs 1 2. Alternative OEG sei. Wenn der Kläger den R. nicht aufgefordert habe, sich mit ihm vor der Halle zu prügeln, so habe R. dies jedenfalls so verstanden und auch verstehen können, als der Kläger mit ihm zusammen die Treppe hinuntergegangen sei. Damit habe der Kläger zu der späteren Entwicklung „wesentlich tatfördernd” beigetragen. Wegen der durch R. gezeigten Aggressivität und seines alkoholisierten Zustandes habe der Kläger jederzeit mit einem plötzlichen Angriff rechnen müssen. Selbst wenn er nur für Ordnung habe sorgen wollen, müsse er sich entgegenhalten lassen, daß er sich leichtfertig verhalten habe. Zur Herstellung der Ordnung hätte er sich an die eingesetzten Ordner wenden oder andere Gäste um Hilfe bitten können.

Dagegen richtet sich die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision des Klägers. Nach seiner Auffassung sind die vom LSG getroffenen Feststellungen nicht geeignet, eine Entschädigung wegen Unbilligkeit zu versagen. Das LSG habe als tatfördernden Beitrag lediglich die Äußerung „wenn Du Dich prügeln willst, gehe nach draußen” sowie den Umstand festgestellt, daß er mit dem Schädiger den Weg ins Freie eingeschlagen habe. Das allein könne die Unbilligkeit einer Entschädigung nicht begründen. Es könnte ihm allenfalls entgegengehalten werden, wenn festgestellt worden wäre, daß er mit dem Schädiger eine Schlägerei habe austragen wollen. Das sei aber nicht der Fall. Das LSG habe seine Darstellung, daß er im Interesse der anderen Gäste eine tätliche Auseinandersetzung habe vermeiden wollen, nicht widerlegt. Es habe auch nicht festgestellt, daß er, der Kläger, eine Schlägerei in Kauf genommen habe, weil er erkannt habe, daß von dem angetrunkenen, aggressiven R. jederzeit ein Angriff ausgehen konnte. Sein Verhalten könne allenfalls als Selbstgefährdung angesehen werden, die nur dann anspruchsausschließend sei, wenn sie auf einer lange anhaltenden, hier nicht gegebenen Gefahrenlage beruhe. Selbst wenn aber das LSG die Feststellung getroffen hätte, er, der Kläger, habe sich mit R. vor der Halle prügeln wollen, könnte ihm dies letztlich nicht entgegengehalten werden, weil der tatsächliche Geschehensablauf ganz anders als der vorgestellte gewesen wäre. Schließlich rügt der Kläger, das LSG habe seine Annahme, ihm hätten andere Wege zur Verfügung gestanden, die Ordnung herzustellen, nicht auf Feststellungen, sondern auf Vermutungen gestützt.

Der Kläger beantragt,

unter Änderung der angefochtenen Urteile und Aufhebung der angefochtenen Bescheide das beklagte Land zu verurteilen, einen Nasenteilverlust als Schädigungsfolge im Sinne des OEG anzuerkennen und entsprechend zu berenten, hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht, und zwar an einen anderen Senat, zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Nach den bisherigen Feststellungen des LSG könne dem Kläger jedenfalls keine Entschädigung zuerkannt werden. Daß der Kläger nur die Absicht gehabt habe, Frieden zu stiften, als er mit R. die Treppe hinuntergegangen sei, sei nicht bewiesen, sondern vom LSG nur als möglich unterstellt worden.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung begründet. Das LSG muß die Frage beantworten, ob der Kläger den Täter verprügeln oder besänftigen wollte.

Die Grundvoraussetzung für eine Entschädigung nach dem OEG, die gesundheitliche Schädigung durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff (§ 1 Abs 1 Satz 1 OEG), ist hier nicht im Streit. Umstritten ist allein, ob einer der Versagungsgründe iS des § 2 Abs 1 OEG – Mitverursachung oder Unbilligkeit – vorliegt, der daraus gefolgert werden könnte, wie der Kläger unmittelbar vor der Tat mit dem Täter umgegangen ist.

Nicht beanstandet werden kann, daß das LSG zugunsten des Klägers entschieden hat, der Versagungsgrund der Mitverursachung könne schon deshalb nicht vorliegen, weil der objektive Tatbeitrag des Klägers dafür zu gering sei. Zu beanstanden ist aber die Meinung des LSG, es könne unentschieden bleiben, ob sich der Kläger mit dem späteren Täter in der Absicht auf den Weg zum Hallenausgang begeben habe, ihn zu verprügeln; in dem Verhalten des Klägers sei unabhängig von seiner Absicht jedenfalls der Versagungsgrund der Unbilligkeit zu sehen.

Das LSG hat diese Meinung damit begründet, der Versagungsgrund der Unbilligkeit liege auch dann vor, wenn sich das Opfer in friedenstiftender Absicht bewußt in die Gefahr einer Körperschädigung bringe. Ein solches Verhalten sei leichtfertig und mit der Folge der Leistungsversagung zu mißbilligen. Es könne deshalb durchaus unterstellt werden, daß der Kläger in friedenstiftender Absicht gehandelt habe und nur Störungen von der Festversammlung habe abwenden wollen. Er hätte sich dann von dem ihn anpöbelnden Täter zurückziehen und alles weitere den Saalordnern überlassen sollen.

Dem liegt die Rechtsansicht zugrunde, das Gesetz wolle nicht, daß die Allgemeinheit für Schäden eintrete, die dadurch auftreten, daß das spätere Opfer bewußt eine Verletzungsgefahr eingeht, um in friedlicher Weise – erfolglos -einem Angriff vorzubeugen. Diese Rechtsansicht hat das BSG in einer nach dem angefochtenen Urteil ergangenen Entscheidung abgelehnt (BSG-Urteil vom 6. Dezember 1989 – BSGE 66, 115 = SozR 3800 § 2 Nr 7). Wer den Rechtsfrieden oder die Rechtsordnung wahren oder verteidigen will, darf auch bewußt ein Risiko für sich eingehen. Der Gesetzgeber hat das Eingehen solcher Risiken sogar unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestellt. Nach § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a der Reichsversicherungsordnung (RVO) werden ua Personen geschützt, die einen anderen aus gegenwärtiger Lebensgefahr oder erheblicher gegenwärtiger Gefahr für Körper oder Gesundheit zu retten unternehmen, nach Buchst c dieser Vorschrift Personen, die sich bei der Verfolgung von Straftätern oder zum Schutz widerrechtlich Angegriffener persönlich einsetzen. Aber auch wer einem Angriff nur vorbeugen will und dabei nicht unter gesetzlichem Unfallversicherungsschutz steht, handelt in einer von der staatlichen Gemeinschaft erwünschten Weise. Ihr ist vorrangig an gewaltfreier Austragung von Konflikten auch ohne Inanspruchnahme der für Sicherheit und Ordnung zuständigen Stellen gelegen. Sie verlangt nicht, unter allen Umständen rechtswidriger Gewaltanwendung auszuweichen. Der Angegriffene darf sich, falls erforderlich, mit Gewalt wehren. Kommt er dabei zu Schaden, ist ihm in gleicher Weise Entschädigung zu gewähren wie bei Schädigungen durch den Angriff selbst, was § 1 Abs 1 OEG ausdrücklich klarstellt. Das mit der Verteidigung verbundene Schädigungsrisiko trägt das Opfer entgegen dem ersten Versagungsgrund des § 2 Abs 1 OEG nicht selbst. Dann ist es nicht gerechtfertigt, ihm eine Entschädigung zu versagen, wenn es sich nicht mehr verteidigen konnte, weil es bereits bei dem Versuch, den Gewalttäter von einem Angriff abzuhalten, zu Schaden gekommen ist.

An dieser Rechtsansicht hält der Senat fest. Wollte der Kläger, was das LSG offengelassen hat, mit seiner Aufforderung an den späteren Täter, die Halle zu verlassen, eine tätliche Auseinandersetzung gerade vermeiden, anstatt sich auf eine Schlägerei einzulassen, wäre ihm eine Entschädigung weder wegen Mitverursachung noch wegen Unbilligkeit zu versagen.

Das LSG hat sich nun unter Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Beweismittel eine Überzeugung davon zu bilden, ob der Kläger Frieden stiften wollte statt eine Schlägerei herbeizuführen. Nur wenn die Erkenntnismöglichkeiten genutzt sind und vernünftige Zweifel an der vom Kläger behaupteten Absicht bleiben, ist nach der objektiven Feststellungslast (vgl dazu BSG SozR 3800 § 2 Nr 4 mN) zu entscheiden: Wenn die Beklagte bei der Schädigung durch eine vorsätzliche Gewalttat nur ausnahmsweise eine Entschädigung versagen darf, müßte für eine Ablehnung aus einem der Gründe des § 2 Abs 1 OEG bewiesen sein, daß der Kläger die tätliche Auseinandersetzung gefördert hat. Hier müßte die Behauptung, er habe ausschließlich friedliche Absichten verfolgt, widerlegt sein.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175121

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