Leitsatz (amtlich)

Der von einem Staatsangehörigen der Freien Stadt Danzig vor 1939-10-01 im Deutschen Reich freiwillig abgeleistete Militärdienst ist keine Ersatzzeit nach AVG § 28 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1).

 

Normenkette

AVG § 28 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.10.1978; Aktenzeichen L 13 An 238/77)

SG München (Entscheidung vom 10.10.1977; Aktenzeichen S 14 An 569/76)

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Vormerkung einer Ersatzzeit.

Der 1915 in D geborene Kläger arbeitete nach seiner Lehrzeit bis 30. September 1936 in D als kaufmännischer Angestellter. Vom 1. November 1936 bis 30. Oktober 1938 leistete er, noch immer Staatsangehöriger der Freien Stadt D, freiwillig Militärdienst bei der deutschen Wehrmacht in O Später war er bis zur Vertreibung beim Wehrbezirkskommando D als Angestellter tätig; hernach wandte er sich wieder seinem kaufmännischen Beruf zu.

Seinen Antrag auf Vormerkung des freiwilligen deutschen Militärdienstes als Ersatzzeit lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, daß ein D vor Einführung des deutschen Wehrrechts in D am 1. Oktober 1939 keinen Wehrdienst aufgrund deutscher gesetzlicher Wehrpflicht geleistet haben könne (Bescheid vom 22. Januar 1976 und Widerspruchsbescheid vom 25. Mai 1976).

Mit der hiergegen erhobenen Klage hatte der Kläger in den Vorinstanzen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat im angefochtenen Urteil vom 25. Oktober 1978 die Berufung der Beklagten gegen das stattgebende Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 10. Oktober 1977 zurückgewiesen. Es ist der Auffassung, zwar habe der Kläger deutschen Wehrdienst nicht aufgrund gesetzlicher Pflicht geleistet, doch hätte der deutsche Wehrdienst nach dem Anschluß D an das D R wie der von dienstpflichtigen Deutschen freiwillig geleistete Wehrdienst befreiende Wirkung gehabt (Hinweis auf das Bundessozialgericht -BSG- in SozR Nr 54 zu § 1251 Reichsversicherungsordnung -RVO-).

Gegen dieses Urteil hat der erkennende Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 13. März 1979).

Die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie trägt vor, das LSG Niedersachsen habe die gleiche Rechtsfrage anders als das angefochtene Urteil abschlägig entschieden (Urteil vom 9. Juni 1978 - L 1 An 103/77). Der Kläger habe auch nicht wie in dem vom BSG entschiedenen Fall von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den gesetzlichen Wehrdienst vorzeitig abzuleisten. Durch Ableistung des freiwilligen Militärdienstes hätten sich D Staatsangehörige keinen Wehrdienst nach dem 1. Oktober 1939 erspart; ab 1. Oktober 1939 geleisteten Kriegsdienst erhielten sie ohnedies voll angerechnet.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts München vom 10. Oktober 1977 die Klage abzuweisen.

Der Kläger war im Verfahren vor dem BSG nicht vertreten; er hat gebeten, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Auch die Beklagte hat sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung für einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.

Nach § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG; = § 1251 Abs 1 Nr 1 der RVO) werden für die Erfüllung der Wartezeit, nach § 35 Abs 1 AVG (= § 1258 Abs 1 RVO) aber auch auf die Rentenhöhe als Ersatzzeiten ua angerechnet Zeiten eines militärischen Dienstes iS des § 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der aufgrund gesetzlicher Dienstpflicht oder Wehrpflicht geleistet worden ist. Zutreffend hat das LSG angenommen, daß dies beim Kläger in bezug auf den von ihm im D R abgeleisteten freiwilligen Militärdienst nicht der Fall war. Nach dem reichsdeutschen Wehrgesetz (WehrG) vom 21. Mai 1935 (RGBl 1, 609) war jeder "deutsche Mann" vom 18. bis 45. Lebensjahr wehrdienstpflichtig (§§ 1 Abs 2, 4); Deutscher im Sinne des Gesetzes war jeder Reichsangehörige (§ 18 Abs 1 aaO). Das war der Kläger, der vor 1. September 1939 Staatsangehöriger der Freien Stadt D war, nicht (vgl das Reichsgesetz über die Wiedervereinigung der Freien Stadt D mit dem D R vom 1. September 1939, RGBl 1, 1547).

Zur Anerkennung des freiwilligen Militärdienstes führt auch nicht der Umstand, daß der Kläger 1939 deutscher Reichsangehöriger geworden ist. Die Frage, ob ein Militärdienst "aufgrund gesetzlicher Pflicht geleistet" worden ist, läßt sich, wie nicht näher begründet zu werden braucht, allein aufgrund des Rechtszustands beurteilen, der z Zt der Ableistung des fraglichen Dienstes gegolten hat. Eine andere Beurteilung widerspräche im übrigen Sinn und Zweck der in § 28 Abs 1 Nr 1 AVG getroffenen Gesamtregelung. Die Vorschrift billigt dem Versicherten einen rentenrechtlichen Ausgleich ("Ersatz") dafür zu, daß er von hoher Hand zu dem aaO angeführten, gesetzlich festgelegten Dienst herangezogen worden ist, also durch staatlichen Eingriff, dh aus nicht von ihm, sondern von der Volksgesamtheit zu vertretenden Gründen gehindert war, eine versicherungspflichtige Tätigkeit auszuüben und so Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung zurückzulegen (vgl die ständige Rechtsprechung des BVerfG zB in SozR 2200 § 1251 Nr 47 und 60; BSGE 37, 142, 153 = SozR 2200 § 1251 Nr 3; BSG SozR 2200 § 1251 Nr 8; vgl ferner den erkennenden Senat in BSGE 44,218, 219 = SozR 2200 § 1251 Nr 34 und 2200 § 1259 Nr 23). Folgerichtig hat es das BSG in ständiger Rechtsprechung allein für unschädlich erklärt, wenn der Versicherte bei bestehender gesetzlicher Militärdienstpflicht diesen Dienst freiwillig schon vorzeitig, dh ohne eine Einberufung hierzu abzuwarten, ableistet (BSG SozR Nr 7, 54, 56 zu § 1251 RVO; der erkennende Senat in SozR 2200 § 1251 Nr 57). Das BSG hat betont, daß eine solche freiwillige vorzeitige Ableistung des Militärdienstes allenfalls "einiges von seiner Schwere nehmen" könne, sich dadurch am gesetzlichen Zwang zur Militärdienstleistung aber nichts ändere (vgl insbesondere BSG Nr 54 aaO).

Die Annahme des LSG, der Grundgedanke der Entscheidung des BSG in SozR Nr 54 zu § 1251 passe auch auf den Fall des Klägers, trifft nach allem nicht zu. Mit dem LSG ist zwar davon auszugehen, daß D nach der "Wiedervereinigung" mit dem D R ein freiwilliger deutscher Militärdienst mutmaßlich auf eine nun auch sie im Frieden treffende Pflicht, nach Reichsrecht Militärdienst zu leisten, angerechnet worden wäre. Dies kann dennoch nichts daran ändern, daß der Kläger vom 1. November 1936 bis 30. Oktober 1938 seine versicherungspflichtige Tätigkeit ohne gesetzlichen Zwang aus eigenem Entschluß unterbrochen hatte. Eine solche nicht von hoher Hand unter gesetzlichem Zwang veranlaßte Unterbrechung in der Beitragsleistung kann indessen nicht zu Lasten der Versichertengemeinschaft gehen; die Anrechnung eines solchen freiwilligen Militärdienstes widerspräche, wie dargelegt, dem Grundgedanken des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG, so daß nicht diese Vorschrift, sondern nur eine ergänzende besondere Regelung den Anspruch des Klägers stützen könnte. Im übrigen entbehrt die Frage einer "Anrechnung" des freiwilligen deutschen Militärdienstes einer realen Grundlage: Da die "Wiedervereinigung" D mit dem D R mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zusammenfällt, war ab 1. Oktober 1939 von den wehrpflichtigen D Kriegsdienst zu leisten, auf den naturgemäß im Frieden abgeleisteter Militärdienst nicht "angerechnet" werden konnte (vgl § 5 WehrG). Was den Kläger im besonderen angeht, so kam eine "Anrechnung" des Militärdienstes schon deswegen nicht in Betracht, weil er nach der "Wiedervereinigung" ausschließlich als Angestellter eines Wehrbezirkskommandos arbeitete, also keinen militärischen Dienst mehr leistete.

Auch eine Berücksichtigung des vor 1.Oktober 1939 geltenden Rechts der Freien Stadt D vermag zu keinem anderen Ergebnis zu führen. Dem Staatlichen Hilfsdienst nach dem Recht der Freien Stadt D (vgl Verordnungen -VO- vom 19.Juni 1934, 19.November 1934 und 3.April 1936, Gesetzblatt für die Freie Stadt Danzig 1934, 459 und 755 sowie 1936, 145) stand nur der freiwillige Arbeitsdienst im Deutschen Reich sowie der Reichsarbeitsdienst, nicht aber der deutsche Militärdienst gleich (§ 4 der letztgenannten VO). Auch bei denkbarer Berücksichtigung des Danziger Staatlichen Hilfsdienstes als militärähnlicher Dienst (Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG) könnte der hier streitige Militärdienst nicht als Ersatzzeit anerkannt werden (vgl dazu das zutreffende Urteil des LSG Niedersachsen vom 9. Juni 1978 in RSpDienst 1400 § 1251 RVO, 61).

Nach alledem treffen die streitigen Bescheide der Beklagten zu. Auf die Revision der Beklagten waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657038

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