Leitsatz (amtlich)

Besonderes berufliches Betroffensein - Antragstellung nach Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (Altersgrenze) - Nachweis einer gegenwärtigen Berufsbetroffenheit - Abgrenzung zu den Fällen des BVG § 62 Abs 1:

Beantragt der Beschädigte erstmals nach seinem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben Versorgung, so kann eine Höherbewertung der MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins, das allein damit begründet wird, daß der Beschädigte seinen Beruf nur unter Aufwendung außergewöhnlicher Energie und Tatkraft hat ausüben können (BVG § 30 Abs 2 S 2 Buchst b), nicht vorgenommen werden (Abgrenzung zu BSG 1973-05-24 10 RV 294/72 = BSGE 36, 21 und zu BSG 1977-03-24 10 RV 45/76).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die erstmalige Anordnung einer beruflichen Betroffenheit nach dem Ausscheiden des Beschädigten aus dem Erwerbsleben unterliegt einer grundsätzlich anderen rechtlichen Beurteilung als die "Aberkennung" der Höherbewertung wegen des Ausscheidens. Sie ist nur in den Fällen möglich, in denen die Altersversorgung des Beschädigten schädigungsbedingt gemindert ist.

2. Ein schädigungsbedingter sozialer Abstieg im Beruf kann nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht berücksichtigt werden.

3. Verschleißerscheinungen durch Überbeanspruchung sind ausschließlich im Rahmen des BVG § 30 Abs 1 zu berücksichtigen.

4. Auch bei denjenigen Beschädigten, welche die Gewährung von Versorgung erstmals nach ihrem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben beantragen, kann eine wirtschaftliche Einbuße als Grundlage einer Höherbewertung der MdE nach BVG § 30 Abs 2 vorliegen. Das ist insbesondere der Fall, wenn sie in ihrer Altersversorgung schlechter gestellt sind, als sie ohne die Schädigungsfolgen gestellt wären (vgl BSG vom 1961-04-25 11 RV 1340/60 = BSGE 14, 172, 175).

5. Bei solchen Beschädigten kann auch nicht schlechthin unberücksichtigt bleiben, daß sie ihren Beruf unter Aufbietung außergewöhnlicher Tatkraft und Energie ausgeübt haben. Soweit sich dieser Umstand in einem wirtschaftlichen Schaden etwa in Gestalt einer Verringerung des Renteneinkommens niedergeschlagen hat, ist dieser über BVG § 30 Abs 2 S 2 Buchst a oder c zu berücksichtigen. Die besondere berufliche Betroffenheit, die im Falle der Antragstellung noch während der Zeit der Berufsausübung eine Höherbewertung der MdE nach BVG § 30 Abs 2 S 2 Buchst b gerechtfertigt hätte, schlägt dann um in eine solche nach Buchst a oder c. Sofern die Ausübung des Berufs unter Aufwendung außergewöhnlicher Tatkraft und Energie zu Verschleißfolgen durch berufliche Überlastung (vgl BSG vom 1973-05-24 10 RV 294/72 = BSGE 36, 21, 26) geführt hat, sind diese bei erstmaliger Antragstellung nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben über BVG § 30 Abs 1 in die Bewertung der MdE einzubeziehen.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 2 S. 2 Buchst. b Fassung: 1966-12-28, Buchst. a, c

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Februar 1976 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19. September 1974 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten der drei Rechtszüge sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der am 29. September 1905 geborene Kläger wurde während des zweiten Weltkrieges am rechten Unterschenkel verwundet. Nach dem Kriege nahm er seinen erlernten Beruf als Tischlermeister wieder auf und übte diesen bis zu seiner Invalidisierung im Jahre 1967 in S (DDR) selbständig aus.

Nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland (August 1970) beantragte er am 4. September 1970 Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Mit Bescheid vom 15. Juni 1971 erkannte das Versorgungsamt Düsseldorf Narben am rechten Unterschenkel, einen 3 cm langen Defekt des rechten Wadenbeines nach Fraktur sowie Bewegungseinschränkung des rechten Fußgelenkes bei sekundärer Arthrosis als Schädigungsfolgen an. Die Gewährung einer Rente wurde abgelehnt, weil die durch die Schädigungsfolgen bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) unter 25 v.H. liege. Eine Erhöhung des MdE-Grades wegen besonderer beruflicher Betroffenheit könne nicht vorgenommen werden, weil der Kläger bereits im Rentenalter stehe und seinen Beruf fast unbehindert habe ausüben können. Der Widerspruch, mit welchem der Kläger geltend machte, er sei in der DDR als Schwerbeschädigter anerkannt gewesen, wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts N vom 3. Mai 1972).

Mit seiner Klage machte er ferner geltend, in der DDR sei ihm nahegelegt worden, sich umschulen zu lassen. Er sei nur in seinem Beruf geblieben, um seinen Sohn ausbilden zu können; seine Frau habe im Betrieb tatkräftig mitgearbeitet. Auch sein Nierenleiden, welches schließlich zu seiner Erwerbsunfähigkeit geführt habe, sei auf den Wehrdienst zurückzuführen. Der Kläger legte eine amtsärztliche Bescheinigung vom 6. August 1951 vor, wonach bei ihm eine MdE um 50. v.H. wegen Verletzung des rechten Unterschenkels und eines chronischen Ekzems an der rechten Fußsohle vorlag.

Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hörte als Sachverständige die Fachärzte für Urologie Dr. R und Prof. Dr. D, die die auf ihrem Fachgebiet festgestellten Leiden für nicht schädigungsbedingt hielten, und den Facharzt für Orthopädie Dr. M, dieser schätzte die durch die Schädigungsfolgen am rechten Bein verursachte MdE auf 20 v.H (Gutachten vom 16. Juni 1973). In einer ergänzenden Stellungnahme vertrat er die Ansicht, in den Jahren 1945 bis 1955 sei der Kläger in seinem Beruf behindert gewesen; danach jedoch sei eine Anpassung und Gewöhnung eingetreten.

Mit Urteil vom 19. September 1974 hat das SG den Beklagten verurteilt, dem Kläger unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit Rente nach einer MdE um 30 v.H. ab 1. September 1970 zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Beiziehung berufskundlicher Unterlagen über den Beruf des Tischlers und Anhörung des Tischlermeisters E als Sachverständigen die Berufung mit Urteil vom 12. Februar 1976 zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der Kläger den Beruf des Tischlermeisters nur unter Einsatz besonderer Energie und Tatkraft ausüben können. Er sei deshalb auch über das Jahr 1955 hinaus beruflich besonders betroffen gewesen. Dieses besondere berufliche Betroffensein sei auch noch zu berücksichtigen, obwohl der Kläger seinen Beruf bereits vor der Antragstellung aufgegeben habe. Denn die besondere berufliche Betroffenheit brauche nicht mehr zur Zeit der Antragstellung vorzuliegen; es genüge, daß sie in der Vergangenheit bestanden habe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entfalle die wegen Aufwendung besonderer Energie und Tatkraft anerkannte Berufsbetroffenheit (§ 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b BVG) nicht allein deshalb, weil der Beschädigte wegen Alter oder schädigungsunabhängiger Gesundheitsstörungen aus dem Erwerbsleben ausscheide. Dieses Ergebnis werde auch der besonderen Situation des Klägers gerecht. Er sei zum Zeitpunkt seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden gewesen und habe vorher keinen Antrag auf Versorgung stellen können. Deswegen dürfe er nicht schlechter gestellt werden als ein Versorgungsberechtigter, dem die nach § 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b BVG anerkannte besondere berufliche Betroffenheit wegen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben nicht entzogen werden könne.

Mit der Revision rügt der Beklagte eine Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie des § 30 Abs. 2 BVG. Das LSG habe einerseits den eigenen Sachvortrag des Klägers nicht hinreichend in die Beweiswürdigung einbezogen. Andererseits habe es sich nicht mit der Beiziehung berufskundlicher Unterlagen und der Anhörung des berufskundlichen Sachverständigen begnügen dürfen. Vielmehr hätte es zur Frage der Berufsbetroffenheit auch ein gewerbeärztliches Gutachten einholen müssen. Aber selbst der unter Verletzung von Verfahrensvorschriften festgestellte Sachverhalt rechtfertige keine Höherbewertung der schädigungsbedingten MdE des Klägers nach § 30 Abs. 2 BVG. Der Kläger habe in dem mit dem Antragsmonat beginnenden streitigen Zeitraum eine Berufstätigkeit, die ihm wegen der Schädigungsfolgen besondere Energie und Tatkraft abverlangen könne, nicht mehr ausgeübt. Die - vermeintlich - in der Vergangenheit bestandene Berufsbetroffenheit sei auch nicht durch ein anderes berufliches Betroffensein im Sinne des § 30 Abs. 2 Buchst. a BVG abgelöst worden. Die vom LSG zitierte Rechtsprechung des BSG sei im vorliegenden Fall nicht einschlägig. In den dort entschiedenen Fällen habe es sich um die Neufeststellung von Versorgungsbezügen im Rahmen des § 62 BVG gehandelt, nicht aber - wie hier - um einen Erstantrag. Schließlich werde die Auffassung des LSG auch nicht durch den Wortlaut des § 30 Abs. 2 Satz 1 BVG gestützt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Februar 1976 sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19. September 1974 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, das Vorbringen der Revision sei bereits in der Berufungsinstanz erschöpfend gewürdigt worden, und bezieht sich auf das nach seiner Auffassung zutreffende Urteil des LSG.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision ist zulässig und begründet. Die vom Beklagten gerügte Verletzung des § 30 Abs. 2 BVG greift durch mit der Folge, daß unter Aufhebung der angefochtenen Urteile die Klage abzuweisen ist.

Die Beteiligten streiten darum, ob die MdE nach § 30 Abs. 2 BVG auch dann zu erhöhen ist, wenn der Beschädigte erstmals nach seinem schädigungsunabhängigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die Gewährung von Versorgungsbezügen beantragt hat. Nach § 30 Abs. 2 BVG ist die MdE höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, in seinem nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen ist, den er nach Eintritt der Schädigung ausgeübt hat oder noch ausübt. Das ist besonders der Fall, wenn er (a) infolge der Schädigung weder seinen bisher ausgeübten, begonnenen oder den nachweisbar angestrebten noch einen sozial gleichwertigen Beruf ausüben kann,(b) zwar seinen vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf weiter ausübt oder den nachweisbar angestrebten Beruf erreicht hat, in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen aber in einem wesentlich höheren Grade als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert ist, oder (c) infolge der Schädigung nachweisbar am weiteren Aufstieg in seinem Beruf gehindert ist.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß § 30 Abs. 2 BVG trotz der Worte "betroffen ist " nicht nur für aktiv Berufstätige gilt, sondern auch für Beschädigte, die bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Das hat der erkennende Senat schon mehrfach entschieden und zur Begründung darauf hingewiesen, daß die wirtschaftlichen, beruflichen und sozialen Einbußen bzw. Nachteile, die der Beschädigte während seines Arbeitslebens schädigungsbedingt hat hinnehmen müssen, nicht stets dadurch beseitigt werden, daß der Beschädigte aus dem Erwerbsleben ausscheidet, wobei es auf die Gründe des Ausscheidens (Altersgrenze, schädigungsbedingte oder schädigungsunabhängige Gründe) nicht entscheidend ankommt (vgl. BSGE 36, 21, 24 ff = SozR BVG § 30 Nr. 66; BSGE 38, 160, 163 = SozR 3100 BVG § 30 Nr. 3; vgl. auch 11. Senat in BSGE 14, 172, 175 f). In der Kriegsopferversorgung hat niemals das Prinzip gegolten, daß mit dem - altersbedingten - Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben bemessene Rente (vgl. § 30 Abs. 1 BVG) wegfällt oder entscheidend gemindert wird. Auch ist es einem Beschädigten nicht verwehrt, noch nach Vollendung seines 65. Lebensjahres oder einem aus anderen Gründen erfolgten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben erstmals Versorgungsrente zu beanspruchen. Ebensowenig kann einem Beschädigten die Höherbewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit mit der Begründung versagt werden, er sei bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Dies wird auch am Gesetzeswortlaut des § 30 Abs. 2 Satz 1 BVG deutlich, worin von dem Beruf die Rede ist, den der Beschädigte ausgeübt "hat", ohne daß dabei nach dem Grund der Beendigung der Berufstätigkeit unterschieden wird. Hiernach ist grundsätzlich davon auszugehen, daß ein Beschädigter auch nach seinem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG beanspruchen kann.

Das LSG hat jedoch verkannt, daß auch in diesen Fällen eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG nur beim Vorliegen einer gegenwärtigen, d.h. im Zeitpunkt der Antragstellung und in der nachfolgenden Zeit bestehenden besonderen beruflichen Betroffenheit in Betracht kommt. Genauso wie durch die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs nicht ein in der Vergangenheit liegender Schaden ausgeglichen werden soll, sondern ein wirtschaftlicher Schaden als Voraussetzung der Leistung in der Zeit bestehen muß, für die sie begehrt wird (vgl. BSGE 32, 1, 7; 34, 216; 37, 80, 86; BSG SozR BVG § 30 Nr. 50 und 3100 § 30 Nr. 4), setzt die Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG eine aktuelle besondere Berufsbetroffenheit voraus (BSGE 34, 216, 219). Ein ausschließlich in der Vergangenheit liegender beruflicher Schaden rechtfertigt eine Höherbewertung der MdE nicht; er muß vielmehr über die Zeit der Antragstellung hinaus fortwirken oder in dieser Zeit neu entstanden sein. Dies gilt ebenso wie für alle anderen Beschädigten auch für Rentner, die erstmals nach ihrem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die Gewährung von Versorgungsbezügen unter Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit beantragen. Auch bei ihnen kann eine solche Anerkennung nur unter der Voraussetzung erfolgen, daß sie bei und nach der Antragstellung einen aktuellen beruflichen Schaden haben.

Zu Unrecht versucht das LSG seine gegenteilige Ansicht auf die Rechtsprechung des BSG zu stützen. In seinem Urteil vom 25. April 1961 (BSGE 14, 172 = SozR BVG § 62 Nr. 11) hat zunächst der 11. Senat des BSG ausgeführt, in aller Regel werde sich an der Feststellung, daß ein Beschädigter beruflich besonders betroffen sei, später nichts mehr ändern. Der 8. Senat hat in seinem Urteil vom 28. Juli 1972 (BSG SozR BVG § 30 Nr. 60) dargelegt, bei einer nach § 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b BVG anerkannten besonderen beruflichen Betroffenheit könne die Aufgabe des Berufes von Bedeutung sein. Allerdings werde eine Berufsaufgabe allein wegen fortschreitenden Alters oder nicht wehrdienstbedingter Gesundheitsstörungen regelmäßig auch in diesem Fall nicht zu einer anderen Beurteilung der MdE führen. Das sei nur dann der Fall, wenn sich nunmehr ergebe, daß nach einem Berufswechsel ein nach § 30 Abs. 2 BVG noch auszugleichender Schaden tatsächlich nicht vorliege und damit die Voraussetzungen für eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG insgesamt nicht mehr gegeben seien. Schließlich hat der erkennende Senat im Urteil vom 24. Mai 1973 (BSGE 36, 21, 24 = SozR BVG § 30 Nr. 66) ausgesprochen, daß eine nach § 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b BVG anerkannte besondere Berufsbetroffenheit nicht stets und sogleich entfalle, wenn mit der Aufgabe der Berufstätigkeit der für ihre Ausübung erforderliche besondere Kraft- und Energieaufwand von dem Beschädigten nicht mehr verlangt werde. Es könne nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber die einmal entstandene berufliche Beeinträchtigung mit der Aufgabe des Berufs durch Eintritt in den Ruhestand aus der rentenerhöhenden MdE-Bewertung wieder herauszunehmen beabsichtigt habe.

Auch aus § 62 Abs. 1 BVG lasse sich nicht ohne weiteres ableiten, daß die Erreichung einer bestimmten Altersgrenze stets bereits für sich gesehen eine wesentliche Änderung der für die Feststellung einer besonderen beruflichen Betroffenheit maßgeblichen Verhältnisse bilde.

Diesen Entscheidungen kann nicht entnommen werden, daß im Rahmen einer Erstanerkennung nach dem BVG eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne den Nachweis eines gegenwärtigen beruflichen Schadens vorgenommen werden kann. Sie sind sämtlich zu der Frage ergangen, ob eine bereits während der Zeit der Berufsausübung oder im Wege des Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG-KOV) rückwirkend für diese Zeit vorgenommene Höherbewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach schädigungsunabhängiger Aufgabe des bis dahin unter Aufwendung außergewöhnlicher Energie und Tatkraft ausgeübten Berufes gemäß § 62 BVG wieder rückgängig gemacht werden kann. Lediglich für diese Gruppe von Fällen hat das BSG ausgesprochen, daß im Regelfall eine nachträgliche "Aberkennung" der bereits festgestellten beruflichen Betroffenheit wegen einer schädigungsunabhängigen Berufsaufgabe nach § 62 Abs. 1 BVG nicht zulässig ist. An dieser Rechtsprechung wird festgehalten. Die für sie maßgebenden Gründe ergeben sich insbesondere aus den Urteilen des Senats vom 24. Mai 1973 (BSGE 36, 21 = SozR BVG § 30 Nr. 66) und vom 24. März 1977 - 10 RV 45/76 -. Zunächst ist es vielfach gar nicht feststellbar, ob mit der schädigungsunabhängigen Berufsaufgabe der bis dahin bestehende berufliche Schaden in Fortfall kommt. Sodann unterliegt die einmal festgestellte MdE auch hinsichtlich des Teilfaktors der besonderen beruflichen Betroffenheit dem Prinzip der Statik; dem Beschädigten soll gerade im höheren Lebensalter eine Besitzstandswahrung garantiert werden. Für diejenigen Beschädigten, deren MdE nach § 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b BVG höher bewertet worden ist, gebietet dies auch die Gleichbehandlung mit denjenigen Beschädigten, bei denen eine besondere berufliche Betroffenheit nach Buchst. a oder c BVG anerkannt worden ist, die regelmäßig auch nach Eintritt in den Ruhestand fortbestehen wird. Schließlich sollen insbesondere unter Heranziehung des sich aus § 62 Abs. 3 BVG ergebenden Rechtsgedankens Beschädigte in höherem Lebensalter einen besonderen Schutz genießen, tunlichst vor Beunruhigungen und Rentenminderungen bewahrt bleiben und insoweit gegenüber jüngeren Beschädigten "bevorzugt" werden.

Im Vergleich dazu unterliegt der Fall, daß ein Beschädigter erstmals nach seinem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die Gewährung von Versorgung und die Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG beantragt, einer grundsätzlich anderen rechtlichen Beurteilung. In diesem Fall ist eine besondere berufliche Betroffenheit nicht bereits anerkannt worden. Es fehlt damit an einer Grundlage für die Feststellung, ob mit der Berufsaufgabe eine wesentliche Änderung eingetreten und ein beruflicher Schaden in Fortfall gekommen ist, was bei Nichterweisbarkeit nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten der Versorgungsverwaltung nicht angenommen werden könnte. Vielmehr bedarf es des Nachweises, daß eine besondere Berufsbetroffenheit auch nach Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch vorliegt; die Nichterweisbarkeit dieser anspruchsbegründenden Tatsache geht alsdann zu Lasten des Antragstellers. Er ist noch nicht Inhaber einer verfestigten Rechtsposition in Gestalt der Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit. Somit vermögen auch die Gesichtspunkte der Statik der MdE, der sozialen Besitzstandswahrung und des besonderen Schutzes älterer Beschädigter vor Beunruhigungen und Rentenminderungen nicht durchzugreifen. Zugleich fehlt damit ein sachlicher Grund und die innere Rechtfertigung für eine Besserstellung der Beschädigten, die erstmals nach ihrem schädigungsunabhängigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben Versorgung beantragen, gegenüber denjenigen, die im Zeitpunkt des Erstantrages noch im Erwerbsleben stehen oder aus diesem wegen der Schädigungsfolgen ausgeschieden sind. Ebenso wie bei diesen setzt auch bei der ersten Gruppe der Beschädigten die Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG den Nachweis einer gegenwärtigen Berufsbetroffenheit voraus.

Im allgemeinen kann eine besondere berufliche Betroffenheit zunächst in einer wirtschaftlichen Einbuße durch Verringerung des tatsächlichen gegenüber dem ohne die Schädigungsfolgen erzielten Einkommens in Höhe von im Regelfall 20 v.H. der tatsächlichen Einkünfte (BSGE 10, 69; 29, 139, 143 f) bestehen (§ 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a und c BVG). Jedoch kommt eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG auch ohne Vorliegen eines rechtserheblichen wirtschaftlichen Schadens in Betracht. Das ist einmal der Fall, wenn der tatsächlich ausgeübte Beruf nach seiner sozialen Einschätzung erheblich hinter dem wegen der Schädigungsfolgen nicht erreichten Beruf zurückbleibt, was von der Stellung und dem Ansehen der zu vergleichenden Berufe in der Gemeinschaft abhängt (BSGE 10, 69; 12, 212; 13, 48; 29, 139, 142). Zum anderen liegt eine besondere berufliche Betroffenheit im Sinne des § 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b BVG auch dann vor, wenn der Beschädigte bei der Ausübung seines Berufes nur durch besonderen Kraft- und Energieaufwand einem sozialen Abstieg ausweichen und nur durch außergewöhnliche Tatkraft und außergewöhnliche Anstrengungen einen wirtschaftlichen Schaden und ein Abgleiten im Beruf verhindern kann (BSGE 13, 20, 23; 36, 21, 24; BSG SozR BVG § 30 Nr. 60).

Auch bei denjenigen Beschädigten, welche die Gewährung von Versorgung erstmals nach ihrem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben beantragen, kann eine wirtschaftliche Einbuße als Grundlage einer Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG vorliegen. Das ist insbesondere der Fall, wenn sie in ihrer Altersversorgung schlechter gestellt sind, als sie ohne die Schädigungsfolgen gestellt wären (vgl. BSGE 14, 172, 175). Zweifelhaft ist allerdings, ob aufgrund eines nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gestellten Erstantrages noch eine Höherbewertung der MdE wegen einer geringeren sozialen Einschätzung des tatsächlich ausgeübten gegenüber dem ohne die Schädigungsfolgen erreichten Beruf vorgenommen werden kann. Dieser Frage braucht hier jedoch nicht generell nachgegangen zu werden. Denn jedenfalls ist die Höherbewertung der MdE aus diesem Grunde nicht gerechtfertigt. Wenn der Beschädigte, wenn auch unter Aufwendung außergewöhnlicher Tatkraft und Energie, denselben Beruf ausgeübt hat, den er auch ohne die Schädigung ausgeübt hatte. In diesem Falle fehlt es wegen der Identität des tatsächlich ausgeübten mit dem auch ohne die Schädigungsfolgen erreichten Beruf schon für die Zeit vor dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben an einer Grundlage für eine geringere soziale Einschätzung des tatsächlich ausgeübten Berufes. Dies muß dann aber für die Zeit nach der Berufsaufgabe erst recht gelten. Diese Art der besonderen beruflichen Betroffenheit ist so eng mit der Berufsausübung selbst verbunden, daß sie nicht erstmals nach der Aufgabe der Berufstätigkeit anerkannt werden kann.

Das bedeutet allerdings nicht, daß es bei einem Beschädigten, der erstmals nach seinem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die Gewährung von Versorgung beantragt, schlechthin unberücksichtigt bleiben muß, daß er seinen Beruf unter Aufbietung außergewöhnlicher Tatkraft und Energie ausgeübt hat. Soweit sich dieser Umstand in einem wirtschaftlichen Schaden etwa in Gestalt einer Verringerung des Renteneinkommens niedergeschlagen hat, ist dieser über § 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a oder c BVG zu berücksichtigen. Die besondere berufliche Betroffenheit, die im Falle der Antragstellung noch während der Zeit der Berufsausübung eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b BVG gerechtfertigt hätte, schlägt dann um in eine solche nach Buchst. a oder c. Sofern die Ausübung des Berufes unter Aufwendung außergewöhnlicher Tatkraft und Energie zu Verschleißfolgen durch berufliche Überlastung (vgl. BSGE 36, 21, 26) geführt hat, sind diese bei erstmaliger Antragstellung nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben über § 30 Abs. 1 BVG in die Bewertung der MdE einzubeziehen. Sind aber derartige wirtschaftliche oder gesundheitliche Schäden nicht feststellbar, so kann die MdE nicht allein deswegen höher bewertet werden, weil der Beschädigte in der Zeit vor Antragstellung seinen Beruf unter schädigungsbedingt erschwerten Umständen ausgeübt hat. Hierdurch würde entgegen dem Sinn und Zweck des § 30 Abs. 2 BVG ein ausschließlich in der Vergangenheit liegender Schaden entschädigt. Dies ist selbst dann nicht zulässig, wenn der Beschädigte aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen ist.

Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger seinen Beruf des Tischlermeisters bis zu dessen Aufgabe nur unter Einsatz besonderer Energie und Tatkraft ausüben können. Zwar hat die Revision diese Feststellungen angegriffen. Hierauf braucht jedoch nicht näher eingegangen zu werden. Auch auf der Grundlage der angegriffenen Feststellungen des ISG kann der Kläger eine Höherbewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nicht beanspruchen. Daß sich die Ausübung seines Berufes unter Einsatz besonderer Energie und Tatkraft in einem wirtschaftlichen Schaden in der Zeit nach Stellung des Versorgungsantrags vom 4. September 1970 ausgewirkt hat, ist weder vom Kläger behauptet noch vom LSG festgestellt worden. Sofern die berufliche Überlastung zu Verschleißerscheinungen geführt haben sollte, sind diese bereits berücksichtigt worden. Denn die Gutachten, die zur Einschätzung der schädigungsbedingten MdE im allgemeinen Erwerbsleben auf 20 v.H. geführt haben, sind erst nach dem Ausscheiden des Klägers aus dem Erwerbsleben erstattet worden. Bezüglich der Einschätzung der schädigungsbedingten MdE auf dem Gebiete des allgemeinen Erwerbslebens sind Revisionsrügen nicht erhoben worden; diese Feststellungen sind daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Aus ihnen ergibt sich, daß die schädigungsbedingte MdE des Klägers nicht das zum Rentenbezug erforderliche Mindestausmaß von 25 v.H. (§ 31 Abs. 1 und 2 BVG) erreicht. Dieser Umstand muß unter Aufhebung der angefochtenen Urteile zur Abweisung der Klage führen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652249

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