Leitsatz (amtlich)

Wenn bindend festgestellt ist, ein Beschädigter sei durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem Beruf besonders betroffen (BVG § 30 Abs 1 S 1), so darf eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen (BVG § 62 Abs 1) jedenfalls nicht darin erblickt werden, daß der Beschädigte in einem späteren Zeitpunkt seinen Beruf wegen fortschreitenden Alters oder nicht wehrdienstbedingter Gesundheitsstörungen ohnehin nicht mehr hätte ausüben können.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1956-06-06, § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. August 1960 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger, von Beruf Bergmann, bezog auf Grund eines vor dem Oberversicherungsamt (OVA) H... am 21. September 1953 abgeschlossenen Vergleichs wegen Lungentuberkulose (Tbc) seit 1. August 1952 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. Bei einer Nachuntersuchung im Oktober 1956 kam der Gutachter zu dem Ergebnis, die Tbc sei nunmehr inaktiv und die MdE nur noch mit etwa 10 bis 20 v.H. zu bewerten. Darauf entzog das Versorgungsamt (VersorgA) H... dem Kläger mit Bescheid vom 4. Februar 1957 die Rente mit Ablauf des Monats März 1957. Widerspruch und Klage blieben erfolglos, die Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 16. August 1960 zurück. Die Röntgenbefunde hätten sich zwar nach dem Gutachten vom Oktober 1956 gegenüber der letzten maßgebenden Untersuchung im Jahre 1951 nicht geändert; eine wesentliche Besserung sei bei einer derartigen Krankheit jedoch bereits dann anzunehmen, wenn keine Rückfälle mehr zu erwarten seien und eine Konsolidierung des Zustandes eingetreten sei; dies sei nach dem Gutachten vom Oktober 1956 bei dem Kläger der Fall; der Kläger leide auch nicht mehr an einem zu niedrigen Blutdruck und habe an Gewicht zugenommen. Der Beklagte sei daher berechtigt gewesen, die Rente neu festzustellen. Bei der früheren Rentenfestsetzung sei die Beeinträchtigung durch die Tbc im allgemeinen Erwerbsleben mit 30 v.H. bewertet, die MdE aber wegen der besonderen Betroffenheit des Klägers in seinem Beruf als Bergmann auf 50 v.H. erhöht worden. Die Besserung der Tbc sei mit mindestens 10 v.H. zu bewerten, die MdE infolge der Tbc betrage daher nur noch 10 bis 20 v.H. Der Kläger sei weiter auch beruflich jetzt nicht mehr besonders betroffen, weil er bei seinem allgemeinen Gesundheitszustand und infolge von Alterserscheinungen auch dann nicht mehr als Bergmann tätig sein könne, wenn er nie eine Tbc gehabt hätte. Abgesehen davon sei der Beklagte nach § 62 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes (aF) ebenso wie nach der neuen Fassung in jedem Falle berechtigt gewesen, die MdE ohne Rücksicht auf den Umfang der Besserung nach den jetzt vorliegenden Verhältnissen festzusetzen und damit die Rente auch zu entziehen. Das LSG ließ die Revision zu.

Gegen das am 3. Oktober 1960 zugestellte Urteil legte der Kläger am 2. November 1960 Revision ein und begründete sein Rechtsmittel am 6. Dezember 1960, nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 3. Januar 1961 verlängert worden war. Er trug vor, die Versorgungsbezüge dürften im Rahmen des § 62 BVG nur insoweit herabgesetzt werden, als eine Besserung eingetreten sei. Der Beklagte sei daher nicht befugt gewesen, die Versorgungsbezüge nach den neuen Verhältnissen ohne Rücksicht auf das Maß der Besserung festzusetzen. Das LSG habe auch nicht feststellen dürfen, daß der Kläger beruflich nicht mehr besonders betroffen sei; insoweit habe es den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt. Der Kläger sei zuletzt vor seiner Einziehung zur Wehrmacht als Angestellter im technischen Aufsichtsdienst unter Tage (Steiger) tätig gewesen, im Anschluß an seine Entlassung aus der Wehrmacht sei er wegen seines Kriegsleidens für Bürodienst über Tage umgeschult worden. Da er nun wegen seines Lungenleidens nicht mehr unter Tage habe arbeiten dürfen, habe er einen erheblichen Verdienstausfall; das LSG habe keine Unterlagen gehabt, um festzustellen, daß der Kläger wegen der sonstigen bei ihm beobachteten Alterserscheinungen auch ohne die Tbc nicht mehr "als Bergmann" arbeiten könne.

Der Kläger beantragte,

die Urteile des LSG Niedersachsen vom 16. August 1960 und des Sozialgerichts Hildesheim vom 8. September 1958 sowie die Bescheide des VersorgA H... vom 4. Februar und 12. Juli 1957 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, auch über den 31. März 1957 hinaus eine Rente nach einer MdE von 50 v.H. zu zahlen, hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte stellt keinen Antrag.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Der Kläger hat sie auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Die Revision ist somit zulässig; sie ist auch begründet.

Nach § 62 Abs. 1 BVG aF werden die Versorgungsbezüge neu festgestellt, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Nach § 62 BVG nF ist der Anspruch entsprechend neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Der angefochtene Bescheid vom 4. Februar 1957, mit dem die Rente entzogen worden ist, ist ein Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung, er ist deshalb nach dem Recht zu beurteilen, das bei Erlaß der letzten Verwaltungsentscheidung gegolten hat; dies ist § 62 Abs. 1 BVG aF gewesen. Es kann dahingestellt bleiben, ob durch die neue Fassung des § 62 Abs. 1 BVG, die erst am 1. Juni 1960 in Kraft getreten ist, materiellrechtlich eine Änderung eingetreten ist. Es kommt für die Entscheidung im vorliegenden Fall auch nicht darauf an, ob schon nach der bisherigen Fassung des § 62 Abs. 1 BVG die Versorgungsbezüge nur "entsprechend" dem Umfang der Besserung haben neu festgestellt werden dürfen oder ob dann, wenn eine wesentliche Änderung eingetreten ist, die Versorgungsbezüge ohne Rücksicht auf den Umfang der Besserung nach den Verhältnissen festzusetzen sind, die im Zeitpunkt der Änderung bestehen. Das LSG hat zwar ausgeführt, daß die MdE bei Änderung der Verhältnisse auch dann in vollem Umfange neu bewertet werden dürfe, wenn sie früher zu hoch bewertet gewesen sei; auf diese rechtlichen Erwägungen ist es aber nach dem Sachverhalt, von dem das LSG ausgegangen ist, gar nicht angekommen. Das LSG hat nämlich nicht festgestellt, daß die MdE in dem Vergleich vom 21. September 1953 nach dem damaligen Leidenszustand des Klägers und bei Berücksichtigung seines Berufs zu hoch bewertet gewesen sei. Es ist davon ausgegangen, daß die MdE früher mit 50 v.H. bewertet worden sei, weil die Folgen der durch den Wehrdienst bedingten Tbc im allgemeinen Erwerbsleben mit 30 v.H. bewertet worden seien und weil damals der Kläger in seinem Beruf als Bergmann besonders betroffen worden sei. Die "wesentliche Änderung in den Verhältnissen" hat das LSG einmal darin erblickt, daß die Tbc sich in ihrer Auswirkung für das allgemeine Erwerbsleben trotz gleichbleibender Befunde gebessert habe, weil die Gefahr von Rückfällen nicht mehr bestehe, die Erhöhung des Blutdrucks nicht mehr vorhanden sei und der Kläger auch an Gewicht zugenommen habe, im allgemeinen Erwerbsleben betrage die MdE nicht mehr wenigstens 25 v.H.; zum anderen hat das LSG eine Änderung in den Verhältnissen aber auch darin erblickt, daß der Kläger jetzt nicht mehr beruflich besonders betroffen sei; dies hat sich nach der Überzeugung des LSG daraus ergeben, daß der Kläger seinen Beruf "als Bergmann" ohne Rücksicht auf die geringe Beeinträchtigung durch die Tbc schon deshalb nicht mehr ausüben könne, weil inzwischen die nicht durch den Wehrdienst bedingten Alterserscheinungen und sonstigen Gesundheitsstörungen eine Tätigkeit "als Bergmann" ausschließen. Die Revision hat sich nicht dagegen gewandt, daß die MdE im allgemeinen Erwerbsleben, die 1953 mit 30 v.H. angenommen worden ist, nunmehr im allgemeinen Erwerbsleben niedriger, jedenfalls mit nicht mehr als 20 v.H. zu bewerten sei, sie hat sich also nicht gegen die Feststellung gewandt, daß insoweit tatsächlich eine Besserung eingetreten sei, sie wendet sich vielmehr nur dagegen, daß nach der Meinung des LSG der Kläger infolge dieser Besserung auch beruflich nicht mehr besonders betroffen sei. Entscheidend für die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 4. Februar 1957 ist deshalb allein, ob das LSG in tatsächlicher Hinsicht ausreichende Unterlagen gehabt hat, um festzustellen, der Kläger sei nunmehr beruflich "nicht mehr" besonders betroffen, und ob es insoweit in rechtlicher Hinsicht § 30 BVG richtig angewandt hat. Da das LSG davon ausgegangen ist, daß der Kläger jedenfalls im Jahre 1953 noch beruflich besonders betroffen gewesen sei, hat es zunächst darlegen müssen, welche tatsächlichen Änderungen in den Verhältnissen des Klägers diese Annahme nunmehr als unrichtig erscheinen lassen. Hierfür hat jedenfalls nicht schon die Tatsache ausgereicht, daß die MdE im allgemeinen Erwerbsleben früher 30 v.H. betragen hat und daß deshalb für den Beschädigten damals im allgemeinen Erwerbsleben ein Anspruch auf Rente bestanden hat, während die MdE im allgemeinen Erwerbsleben jetzt nur noch mit 10 bis 20 v.H. zu bewerten ist und einen Anspruch auf Rente nicht mehr rechtfertigen würde. Aus § 30 BVG ergibt sich nicht, daß die besondere Beeinträchtigung im Beruf nur bei dem Beschädigten zu berücksichtigen sei, der nach dem Maß seiner Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben einen Anspruch auf Rente habe; § 30 BVG spricht nur von einer höheren Bewertung der MdE, nicht von einer höheren Rente; es ist also rechtlich möglich, daß ein Anspruch auf Rente nur deshalb besteht, weil das besondere berufliche Betroffensein zu berücksichtigen ist. In aller Regel wird sich auch an der Feststellung, daß ein Beschädigter beruflich besonders betroffen sei, später nichts mehr ändern. Die Einbuße, die ein Beschädigter dadurch erleidet, daß er seinen früher ausgeübten, begonnenen oder nachweisbar angestrebten Beruf nicht mehr ausüben kann oder daß er in diesem Beruf, auch wenn er ihn weiter ausübt, in besonderem Maße erwerbsgemindert oder an einem weiteren Aufstieg gehindert ist, wird in der Regel bestehen bleiben. Diese Einbuße liegt nicht nur in der Minderung seines Einkommens, sie kann, selbst wenn dieses Einkommen sich nicht wesentlich mindert, auch darin liegen, daß die Tätigkeit, die der Beschädigte noch ausüben kann, in der sozialen Wertung wesentlich hinter der früher ausgeübten Tätigkeit zurückbleibt; eine wesentliche wirtschaftliche Einbuße kann auch darin liegen, daß der Beschädigte infolge der Schädigung etwa in der Altersversorgung, die ihm auf Grund seines Berufs zusteht, schlechter gestellt ist (vgl. Urteile des BSG vom 25. Juni 1959, Der Versorgungsbeamte 1959 Heft 11, Rechtspr. Nr. 37; SozR Nr. 8 zu § 30 BVG). Die Einbuße, die insoweit festgestellt worden ist, kann sich nachträglich nur dadurch ändern, daß der Beschädigte - sei es infolge Umschulung, sei es ohne eine solche (vgl. BSG 12, 212, 213) - später einen sozial gleichwertigen Beruf ausübt und daß dieser soziale Ausgleich auch die Nachteile erfaßt, die etwa in der Zeit nach der Schädigung zunächst eingetreten sind. Das LSG ist nicht davon ausgegangen, daß sich insoweit in tatsächlicher Hinsicht an dem "beruflichen Betroffensein" des Klägers seit 1953 etwas geändert habe. Es hat die Änderung in den Verhältnissen, soweit es sich um die Berücksichtigung des Berufs handelt, nicht darin gesehen, daß sich in der Auswirkung der Schädigungsfolgen für den Beruf etwas geändert habe, es hat diese Änderung vielmehr darin gesehen, daß sich der Gesundheitszustand des Klägers durch Umstände, die nicht wehrdienstbedingt seien, verschlechtert habe, nämlich durch fortschreitenden Altersabbau und sonstige Gesundheitsstörungen; es ist der Meinung gewesen, daß zwar früher die Schädigungsfolgen die wesentliche Bedingung für das berufliche Betroffensein gewesen seien, daß aber nunmehr die nicht wehrdienstbedingten Gesundheitsverhältnisse den Kläger an der Ausübung seines früheren Berufs in jedem Fall hindern und daß deshalb nunmehr diese nicht wehrdienstbedingten Umstände wesentliche Bedingung und damit Ursache im Sinne des Versorgungsrechts seien. Insoweit hat das LSG aber die Kausalitätsnorm im Sinne des Versorgungsrechts, wie sie auch in § 30 BVG in den Worten "infolge der Schädigung" zum Ausdruck kommt, nicht richtig angewandt. Wenn im Sinne dieser Kausalitätsnorm eine Bedingung die wesentliche Bedingung eines Erfolgs und damit die Ursache im Rechtssinne gewesen ist, so ist der Kausalitätsablauf, der von dieser Bedingung ausgelöst worden ist, nicht deshalb später anders zu beurteilen, weil sich nachträglich feststellen läßt, daß der Erfolg zu einem späteren Zeitpunkt auch durch eine andere Bedingung und einen anderen Kausalitätsablauf ausgelöst worden wäre. Der Erfolg ist im Falle des Klägers das besondere "berufliche Betroffensein", wie es unstreitig nach dem Vergleich vom Jahre 1953 als Folge der Schädigung vorgelegen hat. Dieser "Erfolg" ist etwas anderes als eine etwaige berufliche Beeinträchtigung, die im Jahre 1956 oder 1957 aus anderen Gründen ohnehin eingetreten wäre; der Kläger ist zumindest vorzeitig in der Ausübung seines Berufs durch die Schädigungsfolgen beeinträchtigt worden; auch seine Altersversorgung ist möglicherweise dadurch schlechter geworden, daß er nicht mehr die qualifizierte Tätigkeit als Steiger hat ausüben können. Es ist zwar möglich, daß das Ausmaß der beruflichen Beeinträchtigung in einem späteren Zeitpunkt nicht mehr allein Folge der Schädigung ist, sondern daß die berufliche Beeinträchtigung deshalb größer wird, weil andere, nicht wehrdienstbedingte gesundheitliche Veränderungen hinzukommen; dann ist möglicherweise nur ein Teil des beruflichen Betroffenseins bei der Bewertung der MdE zu berücksichtigen; an der Tatsache, daß der Beschädigte infolge der Schädigung beruflich besonders betroffen worden ist, kann sich dadurch aber nichts ändern. Insoweit ist die Rechtslage ähnlich wie bei dem Beschädigten, der infolge der Schädigung hilflos geworden ist und deshalb die (einfache) Pflegezulage nach § 35 BVG erhalten hat; auch ihm kann die Pflegezulage später nicht deshalb entzogen werden, weil sich feststellen läßt, daß er auch ohne die Schädigung infolge fortschreitenden Alters hilflos geworden wäre; auch in diesem Falle kann es sich nur darum handeln, ob der Beschädigte später infolge wehrdienstbedingter oder infolge nicht wehrdienstbedingter Umstände hilfloser geworden ist und in welchem Maß deshalb die zunehmende Hilflosigkeit noch Folge der Schädigung oder Folge nicht wehrdienstbedingter Umstände ist (vgl. BSG SozR Nr. 9 zu § 35 BVG).

Das LSG hat sonach die §§ 62, 30 BVG unrichtig angewandt, das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden. Das LSG hat keine Feststellungen darüber getroffen, ob und inwieweit die Tatsache, daß sich das Leiden des Klägers geringfügig gebessert hat, für das besondere berufliche Betroffensein weiterhin erheblich ist und inwieweit dies für die Bewertung der MdE auch weiterhin zu berücksichtigen ist. Die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 172

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