Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 27.04.1961)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 27. April 1961 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I.

Der Kläger war von 1922 bis Anfang Mai 1958 als Arbeiter bei der Stadt Lübeck versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Seit dem 11. Mai 1958 war er krank und arbeitsunfähig. Am 10. November 1958 war er von der Krankenkasse ausgesteuert.

Am 8. Juli 1958 hatte er die Zahlung von Versichertenrente beantragt. Am 11. November 1958 wurde er von der Stadt Lübeck in den Ruhestand versetzt, wobei er auf Grund des Lübecker Arbeiterruhelohngesetzes einen Ruhelohn von monatlich 197,30 DM erhielt. Vom 18. Februar 1959 bis zum 18. März 1959 bewilligte ihm die Beklagte ein Heilverfahren sowie ein Übergangsgeld von 1,90 DM täglich für die Dauer dieses Heilverfahrens. Mit Bescheid vom 8. Juli 1959 gewährte sie ihm sodann Rente wegen Berufsunfähigkeit mit Wirkung vom 19. März 1959 an. Weiter bewilligte sie ihm Übergangsgeld für die Zeit vom 1. Mai 1958 bis zum 10. November 1958, sie lehnte es jedoch ab, ihm dieses auch für die Zeit vom 11. November 1958 bis zum 17. Februar 1959 zu zahlen, weil sie ihm auf das ihm an sich zustehende Übergangsgeld den Ruhelohn nach § 1241 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anrechnete.

Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben mit dem Antrage, die Beklagte zu verurteilen, ihm Übergangsgeld für die Zeit vom 11. November 1958 bis 17. Februar 1959 in Höhe von 5,50 DM täglich zu zahlen.

Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben und die Berufung zugelassen. Die von der Beklagten eingelegte Berufung ist erfolglos geblieben. Die Vorinstanzen sind davon ausgegangen, der Ruhelohn sei kein Arbeitsentgelt im Sinne des § 1241 Abs. 3 RVO. Er sei aber auch kein anderes Erwerbseinkommen im Sinne dieser Vorschrift. Der Gesetzgeber habe die Zahlung von Übergangsgeld nicht von der Bedürftigkeit des Versicherten abhängig gemacht und auch nicht die Anrechnung aller Einkommensarten in der genannten Vorschrift angeordnet.

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil vom 27. April 1961 die Revision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 1241 Abs. 3 RVO. Nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes seien einmal auf das Übergangsgeld alle dem Betreuten zufließenden Geldleistungen anzurechnen, die einen Ersatz für Arbeitsentgelt oder sonstiges Erwerbseinkommen darstellen. Außerdem bestehe diese Anrechnungspflicht für die gesamte Zeit des Bezuges von Übergangsgeld.

Die Beklagte und Revisionsklägerin beantragt, das Urteil des LSG vom 27. April 1961 sowie das Urteil des SG vom 3. Juni 1960 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger und Revisionsbeklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig. Das ihm gezahlte private Arbeiterruhegeld sei kein nach § 1241 Abs. 3 RVO anrechnungspflichtiges Arbeits- oder sonstiges Erwerbseinkommen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte und nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist nicht begründet. Die Beklagte durfte dem Kläger für die streitige Zeit die Zahlung des Übergangsgeldes nicht versagen.

Der nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG seit Anfang Mai 1958 berufsunfähige Kläger hatte im Juli 1958 die Zahlung von Rente wegen Berufsunfähigkeit beantragt. Mit Rücksicht auf das ihm in der Folgezeit gewährte Heilverfahren stand ihm damit, wie der Senat bereits entschieden hat (Urt. vom 9. August 1962, SozR § 1242 RVO Bl. Aa 1 Nr. 1), Rente nach § 1246 RVO vom 1. Mai 1958 an im Hinblick auf § 1242 RVO nicht zu. Wohl aber hatte der Kläger Anspruch auf Übergangsgeld, wie sich aus § 1241 Abs. 1 RVO ergibt. Danach hat der Träger der Rentenversicherung für die Zeit, in der er Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit durchführt, dem Betreuten ein Übergangsgeld zu gewähren. Hat der Betreute vor Beginn der Maßnahmen Antrag auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit oder auf erhöhte Rente nach § 1268 Abs. 2 Nr. 2 RVO gestellt, so beginnt das Übergangsgeld mit dem Zeitpunkt, von dem an die Rente oder der erhöhte Rentenbetrag zu zahlen gewesen wäre (§ 1241 Abs. 1 Satz 2 RVO). Das Gesetz unterscheidet hiernach zwei Leistungsabschnitte, nämlich einmal die Zeit „während” der Durchführung der genannten Maßnahmen (Abs. 1 Satz 1), ferner den vor dem Beginn dieser Maßnahmen liegenden, in Abs. 1 Satz 2 näher bezeichneten Zeitraum.

§ 1241 Abs. 3 schreibt hierzu vor, und zwar nach seinem klaren Wortlaut ausdrücklich nur für den ersten Zeitabschnitt (Abs. 1 Satz 1), daß das Übergangsgeld insoweit nicht gewährt wird, als der Betreute „während der Durchführung der Maßnahmen” Arbeitsentgelt, anderes Erwerbseinkommen oder eine Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter, der Rentenversicherung der Angestellten oder der knappschaftlichen Rentenversicherung bezieht. Diese Ausdrucksweise ist eindeutig. Denn wollte man die Bestimmung des Abs. 3 auch auf den Fall des Abs. 1 Satz 2 anwenden, so wäre der Zusatz „während der Durchführung der Maßnahmen” im Abs. 3 überflüssig und sinnentstellend.

Die von der Beklagten vertretene entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Anrechnungspflicht sonstigen Einkommens auf das vom Eintritt der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bis zum Beginn des Heilverfahrens zustehende Übergangsgeld würde die Grenzen einer zulässigen Auslegung überschreiten. Es besteht hierfür überdies auch sachlich keine echte Notwendigkeit. Während der Durchführung der Maßnahmen wird der Unterhalt des Betreuten vielfach bereits durch Sachleistungen des Versicherungsträgers sichergestellt sein; auf der anderen Seite hat der Betreute in dieser Zeit ohnehin in der Regel mit einem Fortfall seines sonstigen, auf eigener Tätigkeit, beruhenden Einkommens zu rechnen. Es würde daher ein Versicherter, wenn er ausnahmsweise während der Durchführung der Maßnahmen Einnahmen hat, bei einer Gewährung des Übergangsgeldes gegenüber den übrigen Betreuten in besonderem Maße bereichert sein, bei denen normalerweise dieses Einkommen entfällt. Ganz anders liegt es jedoch für den Zeitraum des Abs. 1 Satz 2. Hier wird das Übergangsgeld an Stelle der Rente gewährt, um nicht beim Betreuten ein Rentenbewußtsein aufkommen zu lassen, das dem Heilungsprozeß nicht dienlich sein könnte (vgl. das bereits erwähnte Urteil des Senats vom 9. August 1962). Der Versicherte hat jedoch bei Eintritt der Berufsunfähigkeit nach dem Willen des Gesetzgebers stets sofort einen Anspruch auf die ihm nach dem Gesetz gebührenden Leistungen. Wenn nun der Versicherungsträger nach Antragstellung Maßnahmen ergreift, die der Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit dienen, so kann es nicht dem Sinn und Zweck des Gesetzes entsprechen, solange diese Maßnahmen noch nicht begonnen haben, den Kläger schlechter zu stellen, als wenn ihm, der schon bei der Antragstellung dauernd berufsunfähig war, eine Dauerrente gewährt worden wäre, auf die sein etwaiger sonstiger Verdienst auch nicht anzurechnen wäre. Nach dem Willen des Gesetzes werden die vom Versicherungsträger dem Versicherten gegenüber obliegenden Leistungen, wenn Wiederherstellungsmaßnahmen ergriffen werden sollen, dadurch gewahrt, daß er ihm ein Übergangsgeld zuzubilligen hat, bis über seinen Antrag endgültig entschieden ist. Lediglich während der Durchführung von Maßnahmen zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten sollen diese Leistungen in bestimmtem Umfang ruhen, weil sonst der Versicherungsträger doppelte Leistungen an den Versicherten zu bewirken hätte. Für die Annahme eines Fehlgriffs der Fassung dergestalt, daß der Gesetzgeber nur versehentlich das völlige oder teilweise Ruhen des zu zahlenden Übergangsgeldes allein für die Zeit der Durchführung der Maßnahmen angeordnet hätte, sind keine Anhaltspunkte gegeben. Die Auslegung, die der Senat dem § 1241 Abs. 3 RVO nF gibt, entspricht im übrigen auch der herrschenden Meinung (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 3 S. 666 und 666a; Brockhoff in Dersch-Knoll-Brockhoff, Komm. zur RVO 1961, § 1241 RVO nF Anm. 10; Etmer, Komm. zur RVO, § 1241 RVO nF Anm. 5 sowie Bekemeier, Sozialversicherung 1961, 155, 156) sowie der überwiegenden Rechtsprechung (s. u. a. LSG Niedersachsen, Breithaupt 1961, 909; LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1962, 988 und Bayer. LSG, Breithaupt 1963, 43).

An der hier vertretenen Auslegung vermag der Einwand der Beklagten nichts zu ändern, die Gewährung von Übergangsgeld habe dem Versicherungsträger nur auferlegt werden sollen, wenn die soziale Betreuung des Versicherten mit Rücksicht auf fehlendes Einkommen erforderlich sei. Der Anspruch auf Leistungen aus dem Versicherungsverhältnis ist grundsätzlich nicht von der Bedürftigkeit des Versicherten abhängig. Deshalb greift auch dieser Einwand nicht durch. Der Gesetzgeber geht vielmehr, wie dargelegt, davon aus, daß das Übergangsgeld bis zum Beginn der Rente an deren Stelle gewährt wird.

Mithin konnte die Beklagte schon grundsätzlich nicht auf das dem Kläger bis zum Beginn des Heilverfahrens zu zahlende Übergangsgeld irgendwelche sonstigen Leistungen anrechnen. Darüber hinaus fällt aber auch der dem Kläger von der Stadt gezahlte Ruhelohn überhaupt nicht unter die nach § 1241 Abs. 3 RVO anrechnungspflichtigen Einkommensarten.

Der dem Kläger gezahlte Ruhelohn kann insbesondere weder zum Arbeitsentgelt noch zum übrigen Erwerbseinkommen im Sinne der genannten Bestimmung gezählt werden, da, wie die historische Entwicklung dieser Anrechnungsvorschrift ergibt, hierunter nur Einnahmen aus einem noch bestehenden Beschäftigungsverhältnis bzw. aus einer noch ausgeübten Tätigkeit zu verstehen sind. Denn § 1241 Abs. 3 RVO i.d.F. des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 entspricht dem früheren § 1312 Abs. 2 RVO aF. Danach fiel das für die Dauer eines Heilverfahrens zu zahlende Hausgeld weg, „solange und soweit Lohn oder Gehalt auf Grund eines Rechtsanspruchs gezahlt wird”. Hierzu hatte aber bereits das frühere Reichsversicherungsamt (RVA) in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, daß zwar ein nach dem Tarifvertrag im Falle der Arbeitsunfähigkeit zu zahlender Krankenlohn noch als Arbeitsentgelt im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist (EuM 38, 394). Im übrigen hatte es jedoch zu der entsprechenden Vorschrift des § 189 Abs. 1 Satz 1 RVO aF stets die Auffassung vertreten, daß das dort vorgesehene Ruhen des Krankengeldes voraussetzt, daß der Versicherte während der Krankheit Arbeitsentgelt erhält, d. h. eine solche Leistung des Arbeitgebers, welche die Gegenleistung für eine Arbeitsleistung des Versicherten im Rahmen des seinen Anspruch auf Krankengeld begründenden und noch fortbestehenden Beschäftigungsverhältnisses darstellt (EuM 32, 264; 36, 371; 39, 309; GE Nr. 4913, AN 1935, 343; s. auch die RAM-Schreiben vom 16.6.1941 und 8.1.1942, AN 1941, 259 und 1942, 44). Demzufolge hat das RVA weiter entschieden, daß zum Arbeitsentgelt im Sinne des § 189 Abs. 1 RVO nicht Pensionen, Ruhegelder und ähnliche Bezüge aus Beschäftigungsverhältnissen gehören, die zur Zeit der Entstehung des Anspruchs auf Kranken- oder Hausgeld bereits erloschen sind (EuM 31, 446 = AN 1932, 80). Denn nur eine solche Auslegung wird dem Sinn und Zweck dieser Anrechnungsvorschriften gerecht. Durch sie soll zwar einerseits einer doppelten Versorgung und damit einer dem Zweck des Kranken- bzw. des Übergangsgeldes widersprechenden Bereicherung des Versicherten vorgebeugt werden, andererseits aber sollen Ruhebezüge aller Art. letztlich nicht den Versicherungsträgern zum Vorteil gereichen, sondern den Versicherten. Das bedeutet, daß Leistungen, die mit Rücksicht auf ein bereits beendetes Dienstverhältnis gewährt werden, grundsätzlich nicht anrechnungspflichtig sind, weil sie in erster Linie als Ausgleich für den Verlust des bisherigen Beschäftigungsverhältnisses gedacht sind (EuM 39, 10).

An dieser Auslegung der früheren Ruhensvorschriften hat § 1241 Abs. 3 RVO nF ersichtlich nichts ändern wollen. Er hat lediglich insoweit eine Ergänzung gebracht, als nunmehr – abgesehen von Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen – nicht nur Arbeitsentgelt, sondern auch anderes Erwerbseinkommen anzurechnen ist. Dies stellt eine sinnentsprechende und angemessene Erweiterung der bisherigen Rechtslage dar. Mit dem sonstigen Erwerbseinkommen sollten vor allem die Einkünfte aus einer selbständigen Tätigkeit, z. B. aus dem Betrieb einer Land- oder Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb oder aus sonstiger selbständiger Arbeit, insbesondere freiberuflicher Tätigkeit, erfaßt werden. Stets muß es sich auch dabei jedoch um Einkünfte aus einer noch ausgeübten Tätigkeit handeln, da anderenfalls kein Erwerbseinkommen vorliegen würde, sondern sonstiges Einkommen, insbesondere Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) oder aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG). Diese Einkunftsarten sind aber in § 1241 Abs. 3 RVO gerade nicht für anrechnungspflichtig erklärt worden, woraus sich wiederum ergibt, daß unter den Begriff des „anderen Erwerbseinkommens” nur Einkünfte aus einer noch ausgeübten Tätigkeit fallen können.

Der Ruhelohn, den der Kläger erhält, wird jedoch nicht mehr für eine irgendwie geartete Tätigkeit oder Beschäftigung gezahlt, sondern gerade dafür, daß der Berechtigte nicht mehr erwerbstätig ist und endgültig aus dem Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden ist. Damit entfällt jede Möglichkeit, den Ruhelohn unter den Begriff des Arbeitsentgelts oder des sonstigen Erwerbseinkommens im Sinne des § 1241 Abs. 3 RVO zu bringen. Schließlich besteht aber auch kein Anlaß, ihn etwa einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gleichzustellen. Die Zahlung des Übergangsgeldes ist einerseits nach dem Gesetz nicht davon abhängig, daß der Versicherte bedürftig ist. Andererseits wird aber das Ruhegeld auf eine etwaige Rente aus der Rentenversicherung auch nicht angerechnet. Mit Rücksicht hierauf besteht zu einer Gleichstellung von Pensions- und Ruhegehaltsbezügen aller Art. mit den Renten aus den Rentenversicherungen kein Anlaß.

Damit konnte die Revision der Beklagten keinen Erfolg haben, da im übrigen die Höhe des Übergangsgeldes nicht streitig ist und von der Beklagten in der Revisionsinstanz noch wieder ausdrücklich anerkannt worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI929585

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