Leitsatz (amtlich)

In die Frist zur Nachentrichtung von Beiträgen für die eigene Invalidenversicherung wird der Zeitraum nicht eingerechnet, in dem ein Verfahren auf Gewährung von Witwenrente aus der Invalidenversicherung des verstorbenen Ehemannes schwebt, auch wenn die Gewährung der Witwenrente nicht mehr Invalidität der Witwe voraussetzt.

 

Normenkette

RVO § 1444 Fassung: 1937-12-21, § 1442 Fassung: 1937-12-21

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin bezieht auf Grund ihres Antrags vom 28. Dezember 1949 aus der Rentenversicherung ihres am 8. Dezember 1949 gestorbenen Ehemannes seit dem 1. Januar 1950 eine Hinterbliebenenrente von der Bundesbahnversicherungsanstalt (BVA.); diese wurde ihr durch einen am 4. März 1950 zugestellten Bescheid vom 16. Februar 1950 bewilligt. Sie beantragte am 10. November 1952 bei der Beklagten die Gewährung von Invalidenrente aus ihrer eigenen Versicherung. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 5. Mai 1953 mit der Begründung ab, die Klägerin sei zwar invalide, jedoch sei die Anwartschaft erloschen, da sie für das Jahr 1949 statt der erforderlichen 26 nur 22 Beiträge entrichtet habe; Halbdeckung sei nicht gegeben; mit den seit 1949 entrichteten 100 Beiträgen sei eine neue Wartezeit nicht erfüllt. Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Berufung zum Oberversicherungsamt (OVA.) eingelegt, die nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG.) übergegangen ist. Die Klägerin hat vorgetragen, die für 1949 fehlenden Beiträge seien im Jahre 1952 noch wirksam nachentrichtet worden, da die Frist zur Nachentrichtung (§ 1442 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F.) mit Rücksicht auf ihren Antrag auf Hinterbliebenenrente bei der BVA. gemäß § 1444 Abs. 2 RVO a. F. gehemmt worden sei. Das SG. hat durch Urteil vom 7. Oktober 1954 die Klage abgewiesen. Dagegen hat das Landessozialgericht (LSG.) durch Urteil vom 26. Oktober 1955 die Beklagte antragsgemäß verurteilt, da die Beiträge für das Jahr 1949 im Jahre 1952 gemäß §§ 1442, 1444 RVO a. F. noch rechtzeitig nachentrichtet seien. Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 7. Februar 1956 zugestellte Urteil am 27. Februar 1956 Revision eingelegt und ihr Rechtsmittel am 22. März 1956 begründet: Es verletze den Zweck des Gesetzes, § 1444 Abs. 2 RVO a. F. in den Fällen anzuwenden, in denen es sich um verschiedenartige Ansprüche - Invalidenrente einerseits und Witwenrente andererseits - handele. Zweck der Vorschrift sei es gewesen zu verhindern, daß ein Versicherter seine Anwartschaft verliere, wenn er in der Annahme invalide zu sein, keine Beiträge mehr entrichte und einen Antrag auf Rente stelle, über den er erst nach einem längeren Verfahren einen Bescheid erhalte. Bei der Witwenrente könne es sich daher nur um die Nachentrichtung von Beiträgen für die Versicherung des Verstorbenen selbst handeln. Selbst wenn man aber annehmen wollte, daß nach § 1444 Abs. 2 RVO a. F. auch ein Verfahren über die Gewährung der Witwenrente den Lauf der Frist zur Nachentrichtung von Beiträgen zur eigenen Invalidenversicherung der Witwe hemme, so sei dies nur solange sinnvoll gewesen, als der Bezug der Witwenrente auch tatsächlich Invalidität vorausgesetzt habe. Die Voraussetzungen für die Witwenrente seien aber seit dem Ausbaugesetz wiederholt geändert worden, die Witwenrente werde heute ohne das Vorliegen von Invalidität gewährt. Im Gegensatz zu dem früheren Rechtszustand fehle es daher an einer Wechselbeziehung zwischen der eigenen Invalidenversicherung und dem Verfahren auf Witwenrente.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 1955 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG. Düsseldorf vom 7. Oktober 1954 zurückzuweisen.

Die Klägerin bittet um

Zurückweisung der Revision.

II.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet. Das LSG. hat entgegen der Ansicht der Beklagten ohne Rechtsirrtum angenommen, die Anwartschaft sei erhalten. Es hat daher zutreffend die Beklagte zur Zahlung der Invalidenrente verurteilt, deren übrige Voraussetzungen unstreitig vorliegen.

Nach § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (SVAG) ist die Anwartschaft aus den bis zum 31. Dezember 1948 entrichteten Beiträgen erhalten, da der Versicherungsfall der Klägerin nach dem 1. Januar 1949 eingetreten ist. Die zur Erhaltung der Anwartschaft für das Jahr 1949 nach § 1264 RVO a. F. erforderlichen 26 Beiträge sind ebenfalls wirksam entrichtet, auch wenn die Klägerin in diesem Jahr tatsächlich nur 22 entrichtet hat. Denn sie hat nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher nach § 163 SGG für das Bundessozialgericht (BSG.) bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG. die fehlenden vier weiteren Beiträge im Jahre 1952 entrichtet, und zwar bis zum März d. J. Diese Beiträge sind aber noch rechtzeitig und damit wirksam entrichtet.

Nach § 1442 Abs. 1 RVO a. F. können Pflicht- und freiwillige Beiträge noch wirksam bis zum Ablauf von zwei Jahren nach Schluß des Kalenderjahres entrichtet werden, für das sie gelten sollen. In die Frist des § 1442 RVO werden nach § 1444 Abs. 2 RVO a. F. die Zeiträume nicht eingerechnet, in denen ein Verfahren über einen Anspruch auf Invaliden-, Alters-, Witwen- oder Witwerrente schwebt. Da nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG. das Witwenrentenverfahren aus der Invalidenversicherung des Ehemannes der Klägerin vom 28. Dezember 1949 bis zum 5. März 1950 gedauert hat, sind die bis März 1952 entrichteten vier Beiträge noch als wirksam für das Jahr 1949 anzusehen.

Die Beklagte meint allerdings, das Verfahren auf Witwenrente könne im Rahmen des § 1444 Abs. 2 RVO a. F. schon deshalb nicht berücksichtigt werden, weil es sich bei der Witwenrente und der Invalidenrente aus eigener Versicherung um zwei verschiedenartige Ansprüche handele; ferner könne ein Verfahren auf Witwenrente nicht einem solchen auf Gewährung von Invalidenrente gleich erachtet werden, weil die Gewährung von Witwenrente keine Invalidität mehr voraussetze. Dieser Auffassung kann sich der Senat nicht anschließen. Die Anwendung des § 1444 Abs. 2 RVO setzt nur voraus, daß ein Verfahren über einen Anspruch auf Witwenrente schwebt; es braucht sich dabei nicht um ein Verfahren aus demselben Versicherungsverhältnis zu handeln, vielmehr wirkt sich ein Verfahren über die Witwenrente auch auf die Frist zur Nachentrichtung von Beiträgen zur eigenen Invalidenversicherung der Witwe aus. Dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes kann nicht entnommen werden, daß das Witwenrentenverfahren nur Einfluß auf die Frist zur Nachentrichtung von Beiträgen zur Versicherung des Verstorbenen, nicht aber zur eigenen Invalidenversicherung der Witwe haben solle. Die Vorschrift des § 1444 Abs. 2 RVO a. F. steht in Zusammenhang mit der Vorschrift des § 1264 Abs. 3 RVO a. F., wonach für das Kalenderjahr, in dem der Versicherungsfall der Invalidität eintritt und für die folgenden Jahre zur Erhaltung der Anwartschaft keine Beiträge mehr erforderlich sind; diese Wirkung tritt auch bei Bezug einer Invaliden-, Witwen- oder Witwerrente ein. Zwar ist die Witwenrente nicht mehr an das Vorliegen von Invalidität geknüpft. Dem Wandel in den Voraussetzungen der Witwenrente kann jedoch im Hinblick auf die unverändert gebliebene Fassung der §§ 1444 Abs. 2 und 1264 Abs. 3 RVO a. F. keine entscheidende Bedeutung beigelegt werden. Zu § 1264 Abs. 3 RVO a. F. hat das BSG. schon wiederholt ausgesprochen, daß auch der Bezug einer unbedingten Witwenrente dem Eintritt der Invalidität gleichsteht, mithin die Anwartschaft in der eigenen Versicherung erhält. Das Gesetz unterscheidet nicht, wie bereits der 1. Senat des BSG. ausgeführt hat, zwischen den verschiedenen Arten der Witwenrenten, deren Voraussetzungen im einzelnen sich im Laufe der Jahre geändert haben (BSG. Bd. 1 S. 95). Nach der Neufassung des § 1264 Abs. 3 RVO a. F. durch das Ausbaugesetz, das die von Alter und Invalidität unabhängige Erziehungswitwenrente eingeführt hat, können auch Witwenrenten, die nicht an besondere Voraussetzungen in der Person der Witwe geknüpft sind, die Anwartschaft erhalten. Trotz mehrfacher Gesetzesänderungen und trotz Einführung der unbedingten Witwenrente blieb die Anwartschaftsvorschrift des § 1264 Abs. 3 RVO in ihrer weiten Fassung erhalten, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut allen Witwenrenten aus der Invalidenversicherung anwartschaftserhaltende Wirkung beilegt. Im gleichen Sinne hat der 4. Senat des BSG. in seinem Urteil vom 1. Juli 1959 - 4 RJ 61/58 - entschieden, eine in der Invalidenversicherung Versicherte brauche während des Bezuges einer Knappschaftswitwenrente oder einer Knappschaftswitwenvollrente keine Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft in der eigenen Versicherung zu entrichten, und zwar ebenfalls mit der Begründung, daß all diese Renten nunmehr unter gleichen Voraussetzungen bewilligt würden und daß sich auch bei der Einführung der unbedingten Witwenrente in der Invalidenversicherung an der Vorschrift des § 1264 Abs. 3 RVO a. F. nichts geändert habe. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an.

§ 1264 Abs. 3 RVO a. F. beruht auf dem Gedanken, daß die Invalidität und der ihr gleichstehende Bezug einer Invaliden-, Witwen- oder Witwerrente die Anwartschaft erhalten und grundsätzlich Beitragsfreiheit zur Folge haben. Die Vorschrift des § 1444 Abs. 2 RVO a. F. dient dem Schutz derjenigen Versicherten, die die Voraussetzungen des von ihnen erhobenen Rentenanspruches als gegeben ansehen und im Hinblick auf das schwebende Rentenverfahren die weitere Entrichtung von Beiträgen unterlassen, weil mit der Bewilligung und dem Bezug der Rente Beitragsfreiheit eintritt. § 1444 Abs. 2 RVO a. F. will verhindern, daß solchen Rentenbewerbern aus der unterlassenen Beitragszahlung Nachteile entstehen, wenn die Rente nicht oder erst von einem späteren Zeitpunkt an bewilligt wird. Deshalb wird die Zeit, in der dieses Verfahren schwebt, nicht in die Nachentrichtungsfrist des § 1442 RVO eingerechnet. Der Senat ist der Auffassung, daß auch die seit dem Ausbaugesetz mehrfach geänderten Voraussetzungen für die Witwenrente der weiteren Anwendung des § 1444 Abs. 2 RVO a. F. nicht entgegenstehen. Dies ergibt sich daraus, daß der Gesetzgeber diese Vorschrift genau wie die des § 1264 RVO a. F. nicht geändert hat, obwohl die Witwenrente nicht mehr an erschwerende Voraussetzungen (z. B. Alter oder Invalidität) geknüpft ist.

Die Revision der Beklagten ist daher zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2391746

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