Beteiligte

…, Kläger und Revisionskläger

…, Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I.

Der Kläger hat am 27. September 1979 bei der Arbeit an einer Kreissäge Verletzungen an den Fingern der linken Hand erlitten. Nach Begutachtung in der handchirurgischen Abteilung der Berufsgenossenschaftlichen Klinik in T. (Gutachten Dres. R. und M. vom 21. Juli 1980) gewährte die Beklagte dem Kläger durch Bescheid vom 11. September 1980 ab 5. Februar 1980 eine vorläufige Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH. Als Folgen des Unfalls an der linken Hand erkannte sie an: Amputation des Daumenendgliedes sowie des Zeigefingermittel- und endgliedes mit unvollständigem Faustschluss und dadurch eingeschränkter Gebrauchsfähigkeit der Hand, geringe Beweglichkeitseinschränkung des Handgelenkes, leichte Kalksalzminderung am 1. und 2. Fingerstrahl, Berührungsempfindlichkeit des Daumenstumpfes nach Kreissägeverletzung. Nicht als Folge des Arbeitsunfalls vom 27. September 1979 wurde ein Zustand nach Bruch des Kahnbeines der linken Hand (1969) anerkannt.

Durch Bescheid vom 25. Juni 1981 entzog die Beklagte die vorläufige Rente mit Ablauf des Monats Juli 1981 und lehnte die Gewährung einer Dauerrente ab, weil die Erwerbsfähigkeit des Klägers nur noch um 15 % gemindert sei. Die ärztliche Begutachtung (durch den Arzt für Orthopädie Dr. N. Gutachten vom 16. Mai 1981) habe ergeben, daß als Unfallfolgen der Verlust des linken Daumenendgliedes sowie Verlust des End-, Mittel- und 1/3 des Grundgliedes des linken Zeigefingers und geringe Muskelschwäche des linken Armes vorlägen.

Nachdem der Kläger dagegen beim Sozialgericht (SG) Freiburg Klage erhoben hatte, veranlaßte das SG eine Begutachtung des Klägers durch den ärztlichen Direktor der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in L. , Arzt für Chirurgie - Unfallchirurgie Dr. A. . Der Sachverständige führte im Gutachten vom 23. Juni 1982 aus, daß als Folgen des Unfalls vom 27. September 1979 ein Verlust des linken Daumens im Basisbereich des Endgliedes, eine Amputation des linken Zeigefingers mit Verlust des Endgliedes, des Mittelgliedes und einem Drittel des Grundgliedes sowie ein Teil der Muskelminderung des linken Armes festzustellen seien. Die Bewegungseinschränkung des linken Handgelenkes und ein Teil der Muskelminderung des linken Armes seien auf die 1969 erlittene Kahnbeinfraktur zurückzuführen. Zur Schätzung der unfallbedingten MdE führte der Sachverständige aus, daß nach den einschlägigen Rententabellen, zB Günther/Hymmen, Unfallbegutachtung, der Substanzverlust des Daumenendgliedes und des Zeigefingermittel- und endgliedes links mit einer MdE von 15 vH einzuschätzen sei. Der gleiche Verlust an der rechten Hand werde nach diesen Tabellen mit einer MdE von 20 vH eingeschätzt. Eine solche unterschiedliche Behandlung der linken wie der rechten Hand halte er für verfehlt. Nach seiner Überzeugung seien die Substanzverluste nach einer gewissen Zeit der Umgewöhnung als praktisch identisch anzusehen. Mit dem Teilverlust des linken Daumens, wobei auch die sehr wichtige Daumenendgliedsensibilität verloren gegangen sei, und dem Verlust von 2 1/3 Gliedern des wichtigen Zeigefingers sei der Kläger im beruflichen Alltag nicht besser gestellt als ein Unfallverletzter, der den linken Daumen ganz verloren habe.

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. November 1984). Der Kläger sei durch die Folgen des Unfalls vom 27. September 1979 nicht um mindestens 20 vH in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert. Folgen des Unfalls vom 11. November 1969 seien in meßbarem Grad nicht vorhanden. Dasselbe gelte hinsichtlich der Folgen eines am 7. März 1984 erlittenen weiteren Unfalls. Durch den Teilverlust des linken Daumens und Zeigefingers werde die Erwerbsfähigkeit des Klägers nur um 15 vH gemindert. Die etwas höhere Bewertung der gleichen Unfallfolgen an der rechten Hand (Gebrauchshand) entsprächen der generellen Beurteilungspraxis der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BSG Urteil vom 28. Juni 1979 - 8a Ru 68/78 - SozR 2200 § 622 Nr 19). Die einzige vom System her berechtigte Ausnahme sei die gleiche Bewertung des völligen - Daumenverlustes, da der Daumen an beiden Händen für die Greiffunktion dem Hand eine überragende Bedeutung habe.

Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg den Kläger durch den Leiter der Abteilung Physiotherapie und Sportorthopädie der Orthopädischen Klinik und Poliklinik der Universität Heidelberg, Prof. Dr. R. , begutachten lassen. In seinem Gutachten vom 26. August 1985 hat der Sachverständige abschließend ausgeführt, daß die Verletzungsfolgen des Unfalls vom 27. September 1979 nach den gültigen Begutachtungsregeln eine MdE von 15 vH bedingten. Er sei jedoch der Ansicht, daß, wie schon Dr. A.. vorgeschlagen habe und von Krösl/Zrubecky in deren Buch "Die Unfallrente" gefordert werde, kein Unterschied zwischen linker und rechter Hand in der Beurteilung der Unfallfolgen sinnvoll sei; er würde daher die MdE auf 20 vH schätzen. Die Unfälle des Klägers vom 11. November 1969 und 7. März 1984 hätten keine meßbare MdE verursacht.

Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 13. August 1986). Es ist hinsichtlich des Befundes der durch den Unfall vom 27. September 1979 verursachten Folgen den Gutachten von Dr. N. , Dr. A. und Prof. Dr. R. gefolgt. Es habe sich um solche Folgen gehandelt, wie sie im Normalfall vorzuliegen pflegten und es seien keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß - positiv oder negativ - Besonderheiten zu beachtet wären, die einer Beurteilung der MdE nach den im Regelfall geltenden Sätzen entgegenstünden. Die Frage nach dem Grad der unfallbedingten MdE sei eine Rechtsfrage, bei deren Beurteilung das Gericht nicht an ärztliche Gutachten gebunden sei. Das Urteil des SG sei nicht rechtsfehlerhaft, wenn es ungeachtet einer von den Gutachtern vorgenommenen höheren MdE-Bewertung die in der einschlägigen unfallmedizinischen Literatur erarbeiteten Erfahrungssätze zur Grundlage der MdE-Einschätzung gemacht und damit nur eine MdE von 15 vH angenommen habe. Dies müsse um so mehr gelten, als Dr. A.. und Prof. Dr. R. ausdrücklich darauf hingewiesen hätten, daß nach den einschlägigen Sätzen die vorliegende Amputation an der linken Hand nur eine MdE von 15 vH rechtfertige. Die aus wissenschaftlicher Überzeugung dagegen vorgebrachten Bedenken seien zumindest erwägenswert und wert, auf breiter Basis wissenschaftlich ausdiskutiert zu werden. Im gegenwärtigen Zeitpunkt könnten diese Bedenken nicht zu einer höheren Bewertung der MdE führen. Es könne nicht außer acht gelassen werden, daß die einschlägige unfallmedizinische Literatur, im Gegensatz zu den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", die Verletzungen bzw Amputationsfolgen im Bereich der "Gebrauchshand" einerseits und der "Hilfshand" andererseits unterschiedlich bewerte. Eine Gleichbewertung, wie sie auch von Dr. A. und Prof. Dr. R. befürwortet werde aber bisher von den Unfallversicherungsträgern und den Gerichten nicht geteilt werde (BSG Urteil vom 28. Juni 1979 - 8a RU 68/78 - SozR 2200 § 622 Nr 19), würde zu einer Ungleichbehandlung Unfallverletzter mit der Folge einer allgemeinen Rechtsunsicherheit Vorschub leisten, weil fürderhin die Gewährung oder Nichtgewährung der Rente davon abhinge, welche unfallmedizinischen Erfahrungswerte vom Gutachter oder vom Gericht für verbindlich angesehen. werden würden. Unter Bezugnahme auf die vom Bundessozialgericht (BSG) zu dieser Problematik im Urteil vom 28. Juni 1979 (aaO) angestellten Überlegungen sei aus derzeitiger Sicht davon auszugehen, daß sich noch kein allgemeiner Umschwung in der Beurteilung von Schäden an Gebrauchs- und Hilfshand durchgesetzt habe. Es könne also nicht davon ausgegangen werden, daß andere allgemeine Erfahrungswerte bereits in Anhaltspunkten, Leitlinien oder einschlägigem Schrifttum des Unfallversicherungsrechts allgemein verbindlichen Niederschlag gefunden hätten. Daher sei beim Kläger von einer MdE von 15 vH auszugehen, so daß eine Rente nicht gewährt werden könne, zumal da die anderen beiden Unfälle des Klägers keine Folgen hinterlassen hätten.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Die medizinischen Sachverständigen Dr. A. und Prof. Dr. R. hätten bejaht, daß die Folgen des Unfalls vom 27. September 1979 eine MdE von 20 vH bedingten. Daran hätte das LSG sich gebunden fühlen müssen, zumal da es nicht darlege, aus welchen Gründen es in Bezug auf diese eindeutige rein medizinische Beurteilung der Sachverständigen über eine bessere, eigene Fachkenntnis der durch die Unfallfolgen bedingte Erwerbsminderung verfüge. Eine Abweichung von der durch medizinische Gutachten festgestellten MdE von 20 vH sei auch nicht dadurch gerechtfertigt, daß die Unfallfolgen an der linken Hand nach den einschlägigen Rententabellen, zB von Günther/Hymmen, nur mit einer MdE um 15 vH einzuschätzen seien. Diese Anleitungen zur Unfallbegutachtung enthielten nämlich nur allgemeine Erfahrungssätze und schlössen Abweichungen im Einzelfall nicht aus. Daran ändere auch nichts, daß bei der Bemessung der MdE von Handverletzungen zwischen Gebrauchs- und Hilfshand unterschieden werde, denn auch dabei seien die im Einzelfall maßgebenden Verhältnisse zu berücksichtigen. Das LSG habe daher die Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung überschritten, indem es entgegen der eindeutigen Aussagen der medizinischen Sachverständigen die MdE für die Unfallfolgen an der linken Hand über den 31. Juli 1981 hinaus nicht mit 20 vH, sondern nur mit 15 vH bewertet habe; ohne seine eigene Sachkunde darzulegen. Wenn sich das LSG den Sachverständigen Dr. A. und Prof. Dr. R. nicht habe anschließen wollen, hätte es sich zu einer weiteren Sachaufklärung gedrängt fühlen und ein weiteres Gutachten einholen müssen.

Dem angefochtenen Urteil sei auch nicht darin zu folgen, daß im Unfallversicherungsrecht, im Gegensatz zu den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", Verletzungen bzw Amputationsfolgen im Bereich der Gebrauchshand einerseits und der Hilfshand andererseits bewertet werden müßten. Nachdem bereits Krösl/Zrubecky in "Die Unfallrente" schon in dritter Auflage die Auffassung vertreten hätten, daß eine Unterscheidung zwischen Gebrauchshand und Hilfshand sich nicht rechtfertigen lasse, könne nicht mehr davon ausgegangen werden, daß es sich hier nur um eine Mindermeinung handele. Angesichts der gegensätzlichen Ansichten auch im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht könne nicht mehr damit gerechnet werden, daß die Mehrzahl der medizinischen Gutachter wie auch der Versicherungsträger an dem bisherigen System der unterschiedlichen Bewertung von Gebrauchs- und Hilfshand festhalten würden. Mit der Aufgabe der auf die Unfallversicherung begrenzten unterschiedlichen Bewertung würde eine Gleichbehandlung aller Verletzten und damit eine Stärkung der Rechtssicherheit eintreten.

Der Kläger beantragt,unter Aufhebung des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 13. August 1986 und des SG Freiburg vom 29. November 1984, sowie des Bescheides vom 25. Juni.1981 die Beklagte zu verurteilen, ihm über den 31. Juli 1981 hinaus Verletztenrente auf Dauer nach einer MdE um 20 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, daß das LSG rechtsfehlerfrei und unter konkreter Würdigung der erhobenen Beweise entschieden habe, daß bei dem Kläger über den 31. Juli 1981 hinaus keine unfallbedingte MdE von mindestens 20 vH bestehe. In der unfallmedizinischen Literatur werde der komplette Verlust des linken Daumens grundsätzlich mit einer MdE von 15 vH bewertet. Zwar sei dem Revisionskläger zu folgen, daß diese Einschätzung nur allgemeine Erfahrungssätze wiedergebe und davon abgewichen werden könne, wenn im Einzelfall besondere Umstände vorliegen. Das sei aber bei dem Kläger gerade nicht der Fall. Von Bedeutung sei hier, daß. Dr. A. bezüglich der MdE-Bewertung von anderen Faktoren ausgehe, wie beispielsweise die Einschätzung in der Unfalliteratur, von Günther/Hymmen. Dr. A. sei der Auffassung, daß die Substanzverluste der rechten oder linken Hand nach einer gewissen Zeit der Umgewöhnung als identisch anzusehen seien. Aus dieser Überzeugung stelle er fest, daß der Kläger im beruflichen Alltag nicht besser gestellt sei als ein Unfallverletzter, der den linken Daumen gänzlich verloren habe. Damit vertrete Dr. A. der kein Handchirurg sei, eine von der Mehrheit seiner Kollegen nicht geteilte Meinung. In der juristisch-medizinischen Literatur bestehe jedoch nahezu vollständige Übereinstimmung dahingehend, daß zwischen Gebrauchs- und Beihand zu unterscheiden sei. Das LSG folge in seiner MdE-Bewertung der herrschenden Meinung, daß eine Gleichbehandlung der Gebrauchs- und Hilfshand sachlich nicht geboten sei. Darauf habe auch das BSG hingewiesen (Urteil vom 8. Dezember 1983 - 2 RU 72/82 -). Auch die Ansicht, daß bei Daumenverletzungen aufgrund der neueren medizinischen und arbeitsphysiologischen Erkenntnisse eine Gleichbehandlung angezeigt sei, habe sich in der Praxis nicht durchgesetzt.

Das LSG habe zudem weder die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten noch seine Sachaufklärungspflicht verletzt. Die medizinischen Grundlagen (Befunde) in tatsächlicher Hinsicht hätten festgestanden. Strittig sei allein gewesen, ob eine Gleich- oder Ungleichbehandlung von Gebrauchs- und Hilfshand vorzunehmen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Die gemäß § 1585 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) spätestens mit Ablauf von zwei Jahren festzustellende Dauerrente setzt weder eine Änderung der Verhältnisse voraus, noch ist für sie die vorher getroffene Feststellung der Grundlagen für die Rentenberechnung bindend. Im vorliegenden Fall hängt die Gewährung einer Dauerrente ab 11 August 1981 allein davon ab, ob die durch den Arbeitsunfall vom 27. September 1979 verursachten Verletzungsfolgen an der linken Hand des Klägers seine Erwerbsfähigkeit noch um wenigstens ein Fünftel mindern (§ 581 Abs 1 Nr 2 RVO). Die Entscheidung der Frage, in welchem Grad die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten gemindert ist, ist eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSGE 4, 147, 149; 6, 267; 13, 227, 228; BSG SozSich 1981, 156). Dabei richtet sich die Bemessung der unfallbedingten MdE nach dem Umfang der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung des Verletzten durch die Unfallfolgen und dem Umfang der dem Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 568g ff mwN). Zu berücksichtigen sind die gesamten Umstände des Einzelfalles (BSGE 4, 147, 149; 31, 185, 186; BSG SozR 2200 § 581 Nr 6 und 23; BSG Urteil vom 30. August 1984 - 2 RU 65/83). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet (BSGE 4, 147, 149; 41, 99, 101; BSG SozR 2200 § 581 Nr 23; BSG Urteil vom 30. August 1984 aaO; Brackmann aaO S 570a mwN). Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind.

Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend sind, aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden (BSGE 4, 147; 31, 185, 186; BSG SozR 2200 § 581 Nr 9 und 23; BSG Urteil vom 30. August 1984 aaO). Jene allgemeinen Erfahrungssätze unterliegen als Rechtssätze der Nachprüfung auf ihre inhaltliche Richtigkeit durch das Revisionsgericht (BSGE 10, 46, 49; 18, 179, 180; 36, 35; aA hinsichtlich medizinischer Erfahrungssätze BGH RzW 1971, 39). Die Tatsache, daß das LSG bei der Feststellung des Grades der MdE, des Klägers ab 1. August 1981 nicht den Schätzungen der medizinischen Sachverständigen Dr. A. (Gutachten vom 23. Juni 1982) und Prof. Dr. R. (Gutachten vom 26. August 1985) gefolgt ist, die beide den beim Kläger bestehenden Verlust des Daumenendgliedes und des Zeigefingermittel- und Endgliedes an der linken Hand mit einer MdE von 20 vH bewertet haben, läßt für sich allein nicht den Schluß zu, daß das LSG die gesetzlichen Grenzen, seines Rechts zur freien Beweiswürdigung überschritten hat (BSGE 6, 267, 268). Eine in dieser Schätzung der MdE des Klägers durch das LSG mit 15 vH etwa liegende unrichtige Beweiswürdigung betrifft nicht den Gang den Verfahrens, sondern allenfalls den Inhalt der getroffenen Entscheidung. Sie wäre daher grundsätzlich auch kein Verfahrensmangel, sondern ein Mangel in der Urteilsfindung. Ein Mangel des Verfahrens läge allenfalls dann vor, wenn das LSG die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten, zB gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder gegen Denkgesetze verstoßen hätte (BSGE 2, 236, 237). Nun hat das LSG sich mit der Schätzung der MdE gerade an Erfahrungssätze gehalten, wie sie im einschlägigen Schrifttum für Verletzungen der beim Kläger vorhandenen Art angeführt sind. Zusätzlich hat es unter Hinweis auf das Urteil des BSG vom 28. Juni 1979 - 8a RU 68/78 - SozR 2200 § 622 Nr 19 dargelegt, daß - aus seiner Sicht - "sich noch kein allgemeiner Umschwung in der Beurteilung Von Schäden an Gebrauchs- und Hilfshand durchgesetzt" habe. Unter diesen Umständen brauchte das LSG sich auch nicht gedrängt zu fühlen, den Sachverhalt durch Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens aufzuklären.

Das BSG hat im vorerwähnten Urteil vom 26. Juni 1979 (aaO) ua ausgeführt, daß in der Kriegsopferversorgung im Hinblick auf die Verwaltungsvorschriften zu § 30 Bundesversorgungsgesetz (BVG) (Nr. 5: Mindestvomhundertsatz für erhebliche äußere Körperschäden) und den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" sowie im Schwerbehindertenrecht nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Beurteilung Behinderter nach dem Schwerbehindertengesetz" Fingerverluste ohne Unterscheidung nach Gebrauchs- oder Hilfshand - im Gegensatz zu früher - einheitlich bewertet würden, dies im Bereich der Unfallversicherung jedoch nicht der Fall sei. Nach den jahrzehntelangen Erfahrungen werde in diesem Bereich überwiegend zwischen Gebrauchs- und Hilfshand unterschieden, wenngleich vereinzelt eine solche Unterscheidung auch nicht mehr als gerechtfertigt angesehen werde. Im vorliegenden Fall bedarf es angesichts der Fingerverletzung des Klägers nicht der Entscheidung, ob eine unterschiedliche Beurteilung der MdE bei einer Schädigung der Gebrauchs- oder Haupthand gegenüber der Hilfs- oder Beihand in der Unfallversicherung allgemein gerechtfertigt ist. Die Tatsache, daß nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz von 1983, die eine Zusammenfassung der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" und der "Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem Schwerbehindertengesetz" sind, Schädigungen an der Gebrauchshand und der Hilfshand gleich bewertet werden, verlangt nicht nach einer gleichen Bewertung der MdE dieser Verletzungsfolgen auch in der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Senat hat hierzu bereits in seinem Urteil vom 26. Juni 1985 - 2 RU 60/84 - (SozR 2200 § 581 Nr 23) ausführlich Stellung genommen; darauf wird verwiesen. Der Senat verkennt nicht, daß auch im Bereich der Unfallversicherung teilweise eine gleiche Bewertung der MdE bei Verletzungen der Gebrauchshand und der Hilfshand befürwortet wird (Krösl/Zrubecky, Die Unfallrente, 3. Aufl, 1980, S 39; Marx, Medizinische Begutachtung, 4. Aufl, 1981, S 288, 306; a.A. 5. Aufl 1987 S. 349, 354). Andere halten dagegen daran fest, daß Verletzungsfolgen an Gebrauchs- und Hilfshand unterschiedlich, bei der Hilfshand niedriger als bei der Gebrauchshand, zu bewerten sind (Rompe/Erlenkämper, Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane, 1978, S 161). Eine weitere Gruppe spricht sich zwar ebenfalls für eine unterschiedliche Bewertung der Gebrauch- und Hilfshand aus, aber mit Ausnahme des Daumens, dessen Verlust rechts wie links gleich bewertet wird (Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl, Anhang 12, Stand VI/84; Günther/Hymmen/Izbicki, Unfallbegutachtung, 8. Aufl, 1987, S 106, 124; Mollowitz [früher: Liniger/Molineus] Der Unfallmann, 10. Aufl, 1986, S 237, 249, 253; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 3. Aufl, 1984, S 458 f). Die letztgenannte Gruppe befindet sich in Übereinstimmung mit den vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften herausgegebenen "Anhaltspunkte für die gutachterliche Beurteilung von Handverletzungen in der gesetzlichen Unfallversicherung", Ausgabe 1980 (Anlage zum Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften VB 154/81 vom 9. Juli 1981). Der erkennende Senat hat bereits in seinem Urteil vom 8. Dezember 1983 - 2 RU 72/82 - (durch das ein Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 30. September 1982 - L 7 U 931/82 - aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen wurde) darauf Bezug genommen. Wie im vorliegenden Fall hat es sich auch dort um die Verletzung des Daumens und des Zeigefingers der linken Hand gehandelt, wofür die Gewährung einer Dauerrente abgelehnt wurde, weil die unfallbedingte MdE nur noch 15 vH betrage. Der erkennende Senat hat dabei zusätzlich ua auf einen dem Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften VB 154/81 beigefügten Auszug eines Vortrages von H. G. Haas "Die Begutachtungs- und Bewertungskriterien bei Handverletzungen aus berufsgenossenschaftlicher Sicht" (Heft 43 der Schriftenreihe Unfallmedizinische Tagungen der Landesverbände der gewerblichen Berufsgenossenschaften, herausgegeben vom Bundesverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften eV Bonn) hingewiesen, wonach die grundsätzlich für berechtigt erachtete unterschiedliche Bewertung von Schädigungen an der Haupthand und der Hilfshand nicht auf die Daumen anzuwenden sei, denen eine überragende funktionelle Bedeutung zukomme, ohne die kein Spitz- oder Feingriff möglich sei und die kein anderer Finger ersetzen könne. Da das LSG bei der Schätzung des Grades der MdE die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie sie den "Anhaltspunkten für die gutachtliche Bewertung von Handverletzungen in der gesetzlichen Unfallversicherung", Ausgabe 1980, zugrunde liegen, bei seiner Entscheidung noch nicht berücksichtigt hat und das BSG keine eigene Schätzung der MdE unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse vornehmen kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird gehalten sein, zB durch Anhörung eines in der Handchirurgie besonders erfahrenen Arztes, die Auswirkungen der beim Kläger vorliegenden Unfallfolgen auf die Erwerbsfähigkeit unter Berücksichtigung der neuesten medizinischen und arbeitsphysiologischen Kenntnisse zu überprüfen.

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518028

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