Leitsatz (amtlich)

1. Hat die geschiedene Frau eines Versicherten, der in der Zeit zwischen dem 1942-05-01 und dem 1956-12-31 gestorben ist, Hinterbliebenenrente vor dem 1957-01-01 beantragt, so richten sich die Voraussetzungen, von denen die Gewährung einer vor dem 1957-01-01 beginnenden Hinterbliebenenrente abhängt, nach altem Recht (RVO § 1256 Abs 4 Fassung: 1937-12-21). Sind hiernach die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente nicht gegeben, so ist "in schwebenden Verfahren" (ArVNG Art 2 § 44) zu prüfen, ob für die Zeit vom 1957-01-01 an ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach neuem Recht (RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23) begründet ist.

2. Bei der Prüfung, ob der verstorbene Ehemann seiner geschiedenen Frau zur Zeit des Todes nach dem Ehegesetz Unterhalt zu leisten hatte (RVO § 1256 Abs 4 Fassung: 1937-12-21, RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23), ist das Ehegesetz maßgebend, das zur Zeit des Todes galt (Anschluß an BSG 1957-06-06 5 RKn 47/55). ## Hängt die Gewährung einer Hinterbliebenenrente an die geschiedene Frau eines Versicherten davon ab, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes nach den Vorschriften des Ehegesetzes Unterhalt zu leisten hatte (RVO § 1256 Abs 4 Fassung: 1937-12-21, RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23), so kann die Rente nur gewährt werden, wenn der frühere Ehemann zur Zeit des Todes auch unter Berücksichtigung seiner Unterhaltspflichten gegenüber Kindern und der neuen Ehefrau fähig war, an die geschiedene Frau einen Unterhaltsbeitrag, wenn auch nur in geringer Höhe, zu leisten.

 

Normenkette

RVO § 1256 Abs. 4 S. 1 Fassung: 1937-12-21; ArVNG Art. 2 § 19 Fassung: 1957-02-23, § 25 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23, S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 44 S. 1 Hs. 2; EheG § 66; EheG 1938 § 66; EheG § 67; EheG 1938 § 67; EheG §§ 58-59

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 14. Juni 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts B. vor dem Bundessozialgericht wird auf ... DM festgesetzt.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Ehe der im Jahre 1887 geborenen Klägerin mit dem Melker A K ist im Jahre 1930 aus alleinigem Verschulden des Ehemanns geschieden worden. Der Ehe entstammen sieben Kinder. A K ist im Jahre 1944 verstorben.

Anträge der Klägerin auf Gewährung einer Geschiedenen-Witwenrente sind von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA.) in den Jahren 1951 und 1953 abschlägig beschieden worden. Eine Beschwerde, die der jetzige Prozeßbevollmächtigte der Klägerin in ihrem Namen gegen diese Ablehnungsbescheide bei der beklagten LVA. am 5. Juni 1954 einlegte, wurde von dieser als erneuter Antrag auf Gewährung einer Geschiedenenrente angesehen. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 27. Juli 1954 erneut abgelehnt. Der Widerspruch der Klägerin gegen diesen Ablehnungsbescheid wurde von der Widerspruchsstelle der beklagten LVA. durch Bescheid vom 29. Oktober 1954 zurückgewiesen: Der Klägerin könne nach § 1256 Abs. 4 RVO (alter Fassung) nur dann eine Geschiedenenrente gewährt werden, wenn ihr früherer Ehemann ihr nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) zur Zeit seines Todes hätte Unterhalt leisten müssen. Da die Ehe aus dessen alleinigem Verschulden geschieden worden sei, habe der Klägerin auch nach § 58 des EheG in der Fassung des Gesetzes Nr. 16 des Kontrollrats vom 20. Februar 1946 (Amtsblatt des Kontrollrats S. 77) - EheG 1946 - ein Anspruch auf Unterhaltsleistung zugestanden, soweit die Einkünfte aus ihrem etwa vorhandenen Vermögen und die Erträgnisse ihrer Erwerbstätigkeit nicht ausgereicht hätten. Bei der "Geschiedenen-Witwenrente" nach § 1256 Abs. 4 RVO handele es sich jedoch um eine "Kann"-Leistung. Die LVA. verlange deshalb in ständiger Verwaltungspraxis zusätzlich, daß zur Unterhaltspflicht des Versicherten noch die tatsächliche Unterhaltsleistung bis zu seinem Tode hinzutreten müsse; diese "über die Vorschrift des § 1256 Abs. 4 RVO hinausgehende Forderung" sei aus der in den Motiven zur Einführung des § 1256 Abs. 4 RVO enthaltenen Erwägung gerechtfertigt, daß § 1256 Abs. 4 RVO die geschiedene Ehefrau beim Tode ihres früheren Ehemannes nicht besser stellen, sondern nur vor einer Benachteiligung bewahren wolle. Da die Klägerin von ihrem geschiedenen Ehemann zur Zeit seines Todes keinen Unterhalt bezogen habe, seien die Leistungsvoraussetzungen für die Bewilligung einer Geschiedenenrente an die Klägerin nicht gegeben.

Die Klägerin hat, nachdem ihr der Bescheid der Widerspruchsstelle am 5. November 1954 zugestellt worden war, am 9. November 1954 Klage beim Sozialgericht (SG.) Schleswig mit dem Antrag erhoben,

unter Aufhebung aller seit 1951 ergangenen Bescheide und der Entscheidung der Widerspruchsstelle vom 29. Oktober 1954 die beklagte LVA. zu verurteilen, ihr nach Maßgabe der aus dem Versicherungsverhältnis resultierenden Rentengrundlagen eine Witwenrente, beginnend mit dem 1. Januar 1951, zu gewähren.

Das SG. hat durch Urteil vom 15. Februar 1955 der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der beklagten LVA. hat das LSG. durch Urteil vom 14. Juni 1955 unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, daß die Frage der Ermessensüberschreitung seitens der beklagten LVA. erst dann von Bedeutung sei, wenn feststehe, daß die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Rentengewährung nach § 1256 Abs. 4 RVO gegeben seien. Eine dieser Voraussetzungen - nämlich die Unterhaltspflicht des Versicherten gegenüber seiner geschiedenen Ehefrau - könne jedoch nicht als erfüllt angesehen werden; denn der frühere Ehemann der Klägerin habe seit dem Jahre 1943 bis zu seinem Tode am 30. Juli 1944 als Erwerbsunfähiger mit seiner zweiten Frau und zwei kleinen Kindern ausschließlich von einer Rente in Höhe von 96,90 RM monatlich gelebt, von der er ohne Gefährdung seines notdürftigen Lebensunterhalts keinen noch so geringen Beitrag zur Unterhaltsleistung an die Klägerin habe abzweigen können. Mangels Leistungsfähigkeit sei er daher der Klägerin gegenüber zur Zeit seines Todes nicht unterhaltsverpflichtet gewesen.

Gegen dieses - der Klägerin am 19. August 1955 zugestellte - Urteil hat diese am 25. August Revision mit dem Antrag eingelegt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückweisung der Berufung das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen.

Die Klägerin rügt in erster Linie, das LSG. habe den Rechtsbegriff der Unterhaltsverpflichtung in § 1256 Abs. 4 RVO verkannt. Der verstorbene Ehemann der Klägerin habe sich nicht auf seine Leistungsunfähigkeit berufen dürfen, weil er sich arglistig seiner Unterhaltspflicht entzogen habe; das sei bereits im Scheidungsurteil vom Jahre 1930 festgestellt worden. Im übrigen komme es überhaupt nicht darauf an, ob die die "Erschöpfungseinrede" des § 59 EheG 1946 begründenden Tatsachen vorlägen; solange die Einrede nicht vom Verpflichteten geltend gemacht sei, lasse sie den Unterhaltsanspruch nach § 58 EheG 1946 unberührt; dieser setze lediglich voraus, daß die Ehe aus dem Verschulden des Ehemanns geschieden sei und die geschiedene Ehefrau von ihren beruflichen Einkünften und den Erträgen ihres Vermögens nicht leben könne. Außerdem dürfte es nicht Aufgabe des Versicherungsträgers sein, die mit der Frage der Unterhaltsverpflichtung zusammenhängenden Fragen, die Gegenstand eines Unterhaltsprozesses sein müßten, selbständig zu prüfen und zu entscheiden. - Zur Frage der Veränderung der Rechtslage durch das Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 45) - ArVNG - hat die Klägerin sich dahin geäußert, daß nach ihrer Auffassung § 1265 RVO (neuer Fassung) in Verbindung mit Art. 2 § 19 ArVNG im Hinblick auf Art. 2 § 25 Abs. 2 ArVNG nicht die Prüfung erübrige, ob für die Zeit bis zum 31. Dezember 1956 die Vorschrift des § 1256 Abs. 4 RVO (alter Fassung) anzuwenden sei.

Die Beklagte hat um

Zurückweisung der Revision

gebeten. Sie ist der Auffassung, daß der Versicherungsträger bei der Prüfung, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes nach den Vorschriften des EheG hätte Unterhalt leisten müssen, alle die Unterhaltspflicht betreffenden Vorschriften des EheG zu berücksichtigen habe, gleichgültig, ob sie etwa im Zivilprozeß nur auf Einrede einer Partei hin zu berücksichtigen seien. Das ergebe sich auch aus § 1272 Abs. 4 RVO, der die Höhe der Hinterbliebenenrente auf die Höhe des Unterhaltsanspruchs beschränke; diese lasse sich aber nur nach § 67 des für den vorliegenden Fall maßgebenden EheG vom 6. Juli 1938 (RGBl. I S. 708) - EheG 1938 - ermitteln. Selbst wenn aber eine Unterhaltsverpflichtung des verstorbenen Ehemanns der Klägerin zur Zeit seines Todes angenommen werden könnte, sei sie - die beklagte Landesversicherungsanstalt - berechtigt gewesen, im Rahmen ihres Ermessens die Gewährung der Rente von der - unstrittig hier nicht vorliegenden - tatsächlichen Unterhaltsgewährung abhängig zu machen. Die Veränderung der Rechtslage durch das ArVNG beurteilt die Beklagte dahingehend, daß § 1265 RVO neuer Fassung im vorliegenden Fall anstelle des § 1256 Abs. 4 RVO alter Fassung anzuwenden sei, daß die neue Vorschrift aber in der entscheidenden Frage der Unterhaltspflicht des Versicherten nicht anders als § 1256 Abs. 4 RVO alter Fassung verstanden werden könne.

II

Mit der Klage macht die Klägerin einen Anspruch auf Geschiedenenrente für die Zeit vom 1. Januar 1951 ab geltend. Für die Frage, nach welchem Recht dieser Anspruch zu beurteilen ist, sind die Übergangsvorschriften des ArVNG maßgebend, das hinsichtlich der hier in Betracht kommenden Bestimmungen am 1. Januar 1957 in Kraft getreten ist (Art. 3 § 8 Satz 1 ArVNG). Nach Art. 2 § 19 ArVNG ist § 1265 RVO neuer Fassung auch dann anzuwenden, wenn - wie im vorliegenden Falle - der frühere Ehemann vor dem Inkrafttreten des ArVNG, aber nach dem 30. April 1942 gestorben ist. Dabei macht es keinen Unterschied, ob über die Rente der geschiedenen Frau erst nach dem Inkrafttreten des ArVNG entschieden wird oder vom Versicherungsträger bzw. vom Gericht bereits vorher entschieden worden ist, sofern nur das Verfahren bei Inkrafttreten des ArVNG noch schwebt (Art. 2 § 44 Satz 1 ArVNG); die Nichtberücksichtigung des Art. 2 § 19 ArVNG stellt im Rahmen einer zulässigen Revision einen Revisionsgrund dar, auch wenn die Vorinstanz diese Vorschrift noch nicht anwenden konnte (Art. 2 § 44 Satz 1, 2. Halbsatz ArVNG). Hieraus ergibt sich aber nicht, daß in solchen schwebenden Verfahren auch die Gewährung der Geschiedenenrente für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 nach § 1265 RVO (neuer Fassung) zu beurteilen ist. Die Vorschrift des Art. 2 § 44 Satz 1 ArVNG hat nur verfahrensrechtliche Bedeutung. Sie stellt klar, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit trotz des Umstandes, daß das Rentenverfahren bereits vor dem 1. Januar 1957 begonnen hat, nicht gehindert sind, in dem schwebenden Verfahren neues Recht anzuwenden. Auch ist der Vorschrift zu entnehmen, daß es in schwebenden Verfahren eines "Antrags" nach Art. 2 § 25 Abs. 2 Satz 1 ArVNG selbst dann nicht bedarf, wenn erst durch das ArVNG ein Anspruch auf eine Rente begründet wird. Hingegen besagt Art. 2 § 44 Satz 1 ArVNG nichts darüber, von welchem Zeitpunkt an die Geschiedenenrente zu gewähren ist. Insoweit muß auf Art. 2 § 25 Abs. 2 Satz 2 ArVNG zurückgegriffen werden, wonach die Rente, soweit erst durch das ArVNG ein Anspruch auf sie begründet wird, nicht vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes beginnt. Demnach ist im vorliegenden Fall zunächst zu prüfen, ob der Anspruch auf Geschiedenenrente nach altem Recht begründet und - verneinendenfalls - ob er für die Zeit vom 1. Januar 1957 an nach neuem Recht gegeben ist.

Die Gewährung der Geschiedenenrente unterliegt nach § 1256 Abs. 4 RVO (alter Fassung) dem Ermessen des Versicherungsträgers.

Ob die beklagte LVA. im vorliegenden Fall ihr Ermessen rechtmäßig ausgeübt hat, kann jedoch erst geprüft werden, wenn feststeht, daß die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Gewährung einer Rente erfüllt sind. Zutreffend ist das LSG. davon ausgegangen, daß für eine Ermessensentscheidung kein Raum ist und ein - möglicherweise gegebener - Ermessensmißbrauch ohne Einfluß auf die Rechtmäßigkeit des Ablehnungsbescheids der beklagten LVA. ist, wenn die Ablehnung des Rentenbegehrens schon infolge Fehlens einer Leistungsvoraussetzung gerechtfertigt ist (vgl. BSG. 3, 197 (199)).

Eine dieser Voraussetzungen ist, daß der Versicherte seiner früheren Ehefrau nach den Vorschriften des Ehegesetzes zur Zeit des Todes Unterhalt zu leisten hatte (§ 1256 Abs. 4 Satz 1 RVO alter Fassung). Da diese Vorschrift hinsichtlich der Unterhaltsverpflichtung des verstorbenen Versicherten auf einen bestimmten Zeitraum, nämlich den seines Todes, abstellt und Grund sowie Höhe dieser Verpflichtung nur nach den in diesem Zeitpunkt gültigen Vorschriften des Ehegesetzes beurteilt werden können, ist im vorliegenden Fall für die Unterhaltsverpflichtung des im Jahre 1944 verstorbenen Versicherten das Ehegesetz in der Fassung vom 6. Juli 1938 (RGBl. I S. 807) - EheG 1938 - maßgebend (vgl. Urteil des BSG. vom 6. Juni 1957 - 5 RKn 47/55 -).

Nach Auffassung der Revision, die sich insoweit auf - in dieser Hinsicht nicht näher begründete - Entscheidungen des Bayerischen Landesversicherungsamts berufen kann (vgl. Breithaupt 1951, 1330 und 1952, 175), ist dem Erfordernis der Unterhaltsverpflichtung in § 1256 Abs. 4 RVO (alter Fassung) genügt, wenn die Voraussetzungen des § 66 EheG 1938 zugunsten der früheren Ehefrau gegeben sind, d. h. wenn die Frau "unterhaltsbedürftig" war. Es ist der Revision einzuräumen, daß die Aufgabe des Versicherungsträgers, der über einen Anspruch auf Geschiedenenrente zu entscheiden hat, wesentlich vereinfacht würde, wenn er sich für die Frage der Unterhaltsverpflichtung auf die Prüfung der Bedürftigkeit der Frau im Sinne des § 66 EheG 1938 beschränken könnte, anstatt in eine Gesamtwürdigung aller für die Unterhaltspflicht bedeutsamen Umstände einzutreten. Indessen wird dem Versicherungsträger die Prüfung der Unterhaltsberechtigung auch in anderen Bereichen der Sozialversicherung zugemutet (vgl. z. B. § 205 RVO). Die Klärung solcher Fragen bietet im übrigen nicht mehr Schwierigkeiten als andere rechtlich und tatsächlich komplizierten Sachverhalte. Sie wird dadurch vereinfacht, daß die unterhaltsberechtigte geschiedene Ehefrau häufig darauf dringen wird, daß die Unterhaltsverpflichtung des früheren Ehemannes im Unterhaltsprozeß (Urteil, Vergleich) oder durch Unterhaltsvereinbarung geklärt wird; vollstreckbare Unterhaltstitel begründen nach der Verwaltungspraxis die Vermutung, daß die Unterhaltsverpflichtung auch in dem nach § 1256 Abs. 4 RVO (alter Fassung) maßgebenden Zeitpunkt des Todes des früheren Ehemanns noch bestanden hat (vgl. Rundschreiben des RVA. vom 10.3.1943 - II 1/2212/42-607 - und Richtlinien des BMA. vom 20.4.1956 (BABl. S. 295)). Nur in den wohl selteneren Fällen, in denen solche Nachweise der Unterhaltsverpflichtung nicht erbracht werden können, würde der Versicherungsträger gehalten sein, genauere Ermittlungen zur Frage der Unterhaltsverpflichtung des verstorbenen Versicherten zur Zeit seines Todes anzustellen. Wie schwierig solche Ermittlungen und die Beurteilung der Unterhaltspflicht im Einzelfall auch sein mögen, so kann damit allein jedenfalls nicht eine Beschränkung der in § 1256 Abs. 4 RVO (alter Fassung) geforderten Nachprüfung der Unterhaltsverpflichtung begründet werden.

Der Revision kann auch darin nicht gefolgt werden, daß die für die Unterhaltsverpflichtung bedeutsamen Umstände des § 67 EheG 1938 im Zivilprozeß - und auch im sozialgerichtlichen Verfahren über die Gewährung einer Geschiedenenrente - nur berücksichtigt werden dürfen, wenn sich der Verpflichtete auf sie beruft oder berufen hat. Wenn nach der Wortfassung des Satzes 1 des § 67 Abs. 1 EheG 1938 - "braucht nur ... zu leisten" - in dieser Hinsicht Zweifel bestehen mögen, so läßt doch schon Satz 2 dieser Vorschrift - "so sind auch ... zu berücksichtigen" - klar erkennen, daß § 67 EheG 1938 nicht ein Leistungsverweigerungsrecht im materiell-rechtlichen Sinn ("Einrede") begründet. Dagegen spricht vor allem der Zweck dieser Vorschrift, die den § 66 EheG für den Fall ergänzen soll, daß außer der Unterhaltspflicht gegenüber dem geschiedenen Gatten noch sonstige Verpflichtungen bestehen und die Erfüllung aller dieser Pflichten zu einer Gefährdung des eigenen angemessenen Unterhalts des Verpflichteten führen würde (vgl. für die im wesentlichen gleichlautenden Bestimmungen der §§ 58, 59 EheG 1946, Hoffmann-Stephan, EheG Anm. 2 zu § 59; Soergel, BGB 8. Aufl. Anm. 2 zu § 59; Palandt, BGB 15. Aufl. Anm. 2 zu § 59). Die in §§ 66, 67 EheG 1938 zum Ausdruck gebrachte Trennung zwischen anspruchsbegründenden (§ 66) und anspruchshindernden (§ 67) Tatsachen hat allein für die Verteilung der Behauptungs- und Beweislast Bedeutung. Sie beansprucht daher Beachtung im wesentlichen in Verfahren - so im Zivilprozeß -, in denen die Beteiligten eine echte Behauptungslast trifft. Sie verliert hingegen, abgesehen von der Frage der Beweislastverteilung, ihre Bedeutung für Verfahren, in denen die Verwaltungsbehörde oder das Gericht ohne Rücksicht auf das Vorbringen der Beteiligten den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat. Da im Rentenstreit sowohl dem Versicherungsträger als auch dem Sozialgericht eine solche Amtsermittlungspflicht obliegt (§ 103 SGG), ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des Anspruchs auf Geschiedenenrente von Amts wegen zu ermitteln, ob der Unterhaltsanspruch der geschiedenen Ehefrau durch mangelnde Leistungsfähigkeit des Mannes zur Zeit des Todes des Versicherten eingeschränkt oder ganz ausgeschlossen war. Zur Beurteilung der Unterhaltspflicht des geschiedenen Gatten dem Grunde und der Höhe nach müssen mithin die Vorschriften der §§ 66 ff. EheG 1938 in ihrer Gesamtheit berücksichtigt werden; denn nur eine solche umfassende Würdigung ermöglicht die in § 1256 Abs. 4 RVO (alter Fassung) geforderte Feststellung, ob und in welcher Höhe der geschiedene Gatte "nach den Vorschriften des EheG" zur Zeit seines Todes zur Unterhaltsleistung verpflichtet war.

Daß diese Auffassung allein dem Sinn der Verweisung in § 1256 Abs. 4 RVO (alter Fassung) auf die Vorschriften des EheG gerecht wird, wird durch § 1272 Abs. 4 RVO (alter Fassung) bestätigt. Hiernach wird die Höhe der Geschiedenenrente durch die Höhe des Unterhaltsanspruchs begrenzt, den die geschiedene Ehefrau gegen den Versicherten zur Zeit seines Todes hatte. Damit hat der Gesetzgeber dem Gedanken der Unterhaltsersatzfunktion, die der Geschiedenenrente zukommt, auch bei der Bemessung dieser Rente der Höhe nach dadurch Rechnung getragen, daß § 1256 Abs. 4 RVO die Gewährung der Geschiedenenrente von dem Bestehen eines Unterhaltsanspruchs der geschiedenen Frau in bestimmter Höhe - nicht nur, wie die Revision meint, dem Grunde nach - abhängig macht. Im Rahmen der Prüfung nach §§ 1256 Abs. 4, 1272 Abs. 4 RVO (alter Fassung) müssen somit sämtliche Umstände, die für Grund und Höhe des Unterhaltsanspruchs in dem maßgebenden Zeitpunkt erheblich sind, erschöpfend geklärt und gewürdigt werden.

Zutreffend hat das Berufungsgericht weiterhin angenommen, daß die Verpflichtung des geschiedenen Gatten zur Unterhaltsleistung bei Abwägung aller für die Unterhaltspflicht bedeutsamen Umstände wenigstens zeitweise völlig entfallen kann (vgl. BSG. 3 S. 199 mit weiteren Hinweisen). Aus der vom LSG. festgestellten Tatsache, daß der verstorbene Versicherte seit dem Jahre 1943 bis zu seinem Tode am 30. Juli 1944 erwerbsunfähig gewesen ist und mit seiner zweiten Frau sowie zwei kleinen Kindern ausschließlich von einer monatlichen Rente in Höhe von 96,90 RM gelebt hat, hat das LSG. den Schluß gezogen, daß der frühere Ehemann der Klägerin zur Zeit seines Todes ohne Gefährdung seines notdürftigen Unterhalts keinen noch so geringen Beitrag zur Unterhaltsleistung an die Klägerin hätte abzweigen können. Diese Schlußfolgerung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Zeitraum, auf den sich die Feststellung des LSG. bezieht, ist groß genug, um mehr zufällige Umstände vorübergehender Natur auszuschließen, die den Unterhaltsanspruch "zur Zeit des Todes" des Versicherten nicht beeinträchtigen würden. Da es nur auf diesen Zeitpunkt ankommt, kann es dahingestellt bleiben, ob sich der frühere Ehemann der Klägerin, wie die Revision behauptet, zu anderen Zeiten - etwa während seiner Ehe mit der Klägerin oder auch nach der Scheidung, als er noch erwerbsfähig war, - seiner Unterhaltspflicht arglistig entzogen hat; für die Zeit seines Todes jedenfalls sind solche Umstände nicht ersichtlich. Demnach ist der von der Klägerin erhobene Anspruch auf Geschiedenenrente unbegründet, soweit er auf § 1256 Abs. 4 RVO (alter Fassung) gestützt ist.

Auch nach der Neugestaltung des Vierten Buchs der RVO durch das ArVNG erweist sich die Klage - für die Zeit vom 1. Januar 1957 an (Art. 2 § 25 Abs. 2 ArVNG) - als unbegründet. Zwar sind die Voraussetzungen für den Anspruch der geschiedenen Ehefrau auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO (neuer Fassung) in mehrfacher Hinsicht anders als im früheren Recht geregelt; insbesondere ist aus der Kann-Leistung eine "Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht", im Sinne des § 54 Abs. 4 SGG geworden. Indessen sind diese Erweiterungen der Anspruchsgrundlage für den Klageanspruch ohne Bedeutung. Es steht fest, daß der frühere Ehemann der Klägerin dieser im letzten Jahr vor seinem Tode nicht Unterhalt geleistet hat und daß sie ihren Unterhaltsanspruch nicht auf andere Gründe als allenfalls die Vorschriften des EheG stützen kann. Für den Anspruch der Klägerin auf Geschiedenenrente ist daher auch nach § 1265 RVO (neuer Fassung) entscheidend, ob ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte.

Der Senat hat erwogen, ob diese Anspruchsvoraussetzung trotz des gegenüber der Fassung des § 1256 Abs. 4 RVO (alter Fassung) im wesentlichen unveränderten Wortlauts einen Bedeutungswandel erfahren hat. In dieser Hinsicht muß beachtet werden, daß die Neuregelung des Anspruchs auf Geschiedenenrente - über das alte Prinzip der Unterhaltsersatzfunktion hinausgreifend - neuen Gedanken Raum gegeben hat. Während § 1272 Abs. 4 RVO (alter Fassung) in folgerichtiger Durchführung des Grundsatzes der Unterhaltsersatzfunktion eine Begrenzung der Geschiedenenrente durch die Höhe des der geschiedenen Frau zustehenden Unterhaltsanspruchs vorschrieb, kennt das neue Recht diese Begrenzung nicht. Es beschränkt jedoch in § 1268 Abs. 4 RVO (neuer Fassung) - wenn der Versicherte nach Inkrafttreten des ArVNG gestorben ist (Art. II § 21 ArVNG) - die Leistungspflicht des Versicherungsträgers auf die Höhe einer Witwenrente, auch wenn mehrere Frauen anspruchsberechtigt sind; beim Vorhandensein mehrerer berechtigter Frauen wird die eine Witwenrente unter diese anteilmäßig nach der Dauer der Ehen verteilt. In dieser Neuregelung kommt der Gedanke zum Ausdruck, daß die Rechtsstellung der geschiedenen Ehefrau wesentlich durch die Dauer der früheren Ehe mit dem Versicherten bestimmt wird. Da der Versicherte während der Dauer seiner früheren Ehe im allgemeinen bereits Beiträge zur Sozialversicherung entrichtet und die frühere Ehefrau nach neuerer Auffassung schon durch ihre Haushaltsführung zum gemeinsamen Familienunterhalt beigetragen hat, erscheint es grundsätzlich gerechtfertigt, sie an der während ihrer Ehezeit durch Beiträge finanzierten künftigen Witwenrente zu beteiligen. Indessen hat der Gedanke, daß die Dauer der Ehe und die während ihres Bestehens gemeinsam getragenen Beitragslasten für die Versicherungsansprüche der früheren Ehefrau von Bedeutung sind, nach der klaren Regelung des Gesetzes ihren Niederschlag allein bei der Bemessung der Rente der geschiedenen Ehefrau gefunden. Für die Frage, ob der geschiedenen Ehefrau ein Anspruch auf Geschiedenenrente dem Grunde nach zusteht, ist auch bei der Neugestaltung der Anspruchsvoraussetzungen in § 1265 RVO (neuer Fassung) der Gedanke bestimmend geblieben, daß die Rente den bisher vom Versicherten geleisteten Unterhalt - dem der Unterhaltsanspruch gleichgestellt wird - ganz oder teilweise ersetzen soll (vgl. § 70 Abs. 2 Satz 2 EheG 1946; zur Unterhaltsersatzfunktion der Geschiedenenrente vgl. Begründung zur Regierungsvorlage in Bundestags-Drucksache 2437, 2. Wahlperiode S. 76 "Zu § 1269" - entspricht § 1265 RVO neuer Fassung -). Dieser Leitgedanke kommt in § 1265 RVO neuer Fassung noch stärker als nach altem Recht vor allem dadurch zum Ausdruck, daß nunmehr auch allein die Tatsache der Unterhaltsgewährung im Jahre vor dem Tode des Versicherten - ohne Rücksicht auf das Bestehen einer Unterhaltspflicht - ausreicht, um den Anspruch auf Geschiedenenrente bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen des § 1265 RVO neuer Fassung zu begründen. Diese Regelung ist ersichtlich auf das gesetzgeberische Motiv zurückzuführen, die Unterhaltsersatzfunktion der Geschiedenenrente auch zu verwirklichen, soweit sie nach bisherigem Recht noch nicht voll in Erscheinung getreten war. Da der tragende Grundgedanke in § 1256 Abs. 4 RVO alter Fassung und § 1265 RVO neuer Fassung somit der gleiche ist und auch der Wortlaut der Vorschriften - soweit er die hier zu entscheidende Frage der Unterhaltspflicht betrifft - im wesentlichen unverändert geblieben ist, kann die Vorschrift in § 1265 RVO neuer Fassung, wonach die Gewährung einer Geschiedenenrente davon abhängt, ob der Versicherte der geschiedenen Ehefrau zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte, nicht anders als die gleichlautende Vorschrift in § 1256 Abs. 4 RVO alter Fassung verstanden werden. Demnach ist der Anspruch der Klägerin aus den gleichen Gründen, die bei Auslegung des § 1256 Abs. 4 RVO alter Fassung dargelegt sind, auch nach § 1265 RVO neuer Fassung für die Zeit vom 1. Januar 1957 ab nicht begründet.

Die Revision ist somit in vollem Umfange als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG, die Festsetzung der Gebühr für die Berufstätigkeit des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin auf § 196 Abs. 4 Satz 1 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1958, 160

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