Leitsatz (amtlich)

Bestandsschutz nach AVG § 145 Abs 2 Nr 2:

1. Der Bestandsschutz des AVG § 145 Abs 2 Nr 2 (= RVO § 1423 Abs 2 Nr 2) bewirkt, daß der Versicherungsträger die in der Aufrechnung der Versicherungskarte bescheinigten höheren Beitragsmarken auch dann als rechtswirksam verwendet gelten lassen muß, wenn in der Versicherungskarte niedrigere Beitragsmarken verwendet sind.

2. In einem solchen Fall ist auch eine Berichtigung wegen offenbarer Unrichtigkeit nicht möglich.

 

Normenkette

AVG § 145 Abs. 2 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 138 S. 1

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. November 1972 und das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 31. März 1971 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom 24. Februar 1970 dahin zu ändern, daß dem Kläger das Altersruhegeld unter Berücksichtigung von 9 Beiträgen der Klasse E anstelle von 9 Beiträgen der Klasse D für die Zeit vom 1. Januar bis 30. September 1934 gewährt wird.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

I

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Altersruhegeldes des Klägers streitig. Dabei geht es jetzt nur noch darum, ob bei der Berechnung der Versichertenrente für das Jahr 1934 9 Beiträge der Gehaltsklasse E anstelle von 9 Beiträgen der Gehaltsklasse D zu berücksichtigen sind.

Die für den im Jahre 1904 geborenen Kläger am 18. Oktober 1932 ausgestellte Versicherungskarte Nr. 5 enthält u.a. 9 Beitragsmarken der Gehaltsklasse D, welche für die Zeit von Januar bis September 1934 entwertet sind. In der auf dieser Karte von der Allgemeinen Ortskrankenkasse am 16. Oktober 1934 vorgenommenen Aufrechnung wurden dagegen - übereinstimmend mit der dem Kläger erteilten Aufrechnungsbescheinigung - für das Jahr 1934 9 Beitragsmonate in Gehaltsklasse E bescheinigt.

Nach Vollendung seines 65. Lebensjahres erhielt der Kläger von der Beklagten das Altersruhegeld vom 1. Juli 1969 an. Aufgrund neuer Beweismittel hob die Beklagte den ersten Rentenbescheid vom 10. Oktober 1969 auf und stelle die Rente des Klägers mit einem monatlichen Zahlbetrag von 647,30 DM neu fest (Bescheid vom 24. Februar 1970). Dabei berücksichtigte sie - wie bereits im Erstbescheid - für die Zeit vom 1. Januar 1934 bis 30. September 1934 9 Beiträge der Klasse D. In der Aufrechnungsspalte der Versicherungskarte Nr. 5 nahm die Beklagte eine entsprechende Berichtigung vor.

Mit der gegen den Rentenbescheid vom 24. Februar 1970 erhobenen Klage wandte sich der Kläger - u.a. - gegen die Nichtanrechnung der in der Aufrechnung der Versicherungskarte Nr. 5 für das Jahr 1934 bescheinigten 9 Beiträge der Klasse E. Insoweit trug die Beklagte vor, es habe sich hierbei um einen Schreibfehler gehandelt, den zu berichtigen sie in analoger Anwendung des § 138 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) berechtigt gewesen sei. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 31. März 1971). Mit der Berufung begehrte der Kläger allein noch die Berücksichtigung von 9 Beiträgen der Klasse E für die Zeit von Januar bis September 1934 bei der ihm gewährten Rente. Er führte dazu aus, daß - anders als bei einer Abweichung zwischen Versicherungskarte und Aufrechnungsbescheinigung - im vorliegenden Fall das Vertrauen des Versicherten auf die Richtigkeit der Aufrechnung geschützt werden müsse. Eine Berichtigung sei daher nicht zulässig. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Klägers zurück: Die Aufrechnung der Versicherungskarte stelle, falls ihr überhaupt eine selbständige Bedeutung zukomme, eine öffentliche Urkunde im Sinne von § 418 der Zivilprozeßordnung (ZPO) dar, gegen welche wie bei der Aufrechnungsbescheinigung der Beweis der Unrichtigkeit zulässig sei und wie dort durch das Markenbild der Versicherungskarte geführt werden könne. § 145 Abs. 2 Nr. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) stehe dem nicht entgegen, weil die in dieser Vorschrift getroffene Regelung sprachlich voraussetze, daß Beitragsmarken der bescheinigten Art überhaupt verwendet worden seien (Urteil vom 28. November 1972).

Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und rügt die unrichtige Anwendung des § 145 Abs. 2 AVG durch das LSG.

Er beantragt, das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 28. November 1972 und das Urteil des SG Freiburg vom 31. März 1971 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 1970 zu ändern und diese zu verurteilen, für die Zeit ab 1. Juli 1969 ein höheres Altersruhegeld unter Anrechnung von 9 Beiträgen der Klasse E anstelle von 9 Beiträgen der Klasse D für die Zeit vom 1. Januar bis 30. September 1934 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision ist begründet.

Der Auslegung des § 145 Abs. 2 Nr. 2 AVG (= § 1423 Abs. 2 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) durch das LSG dahin, daß sich der dort festgelegte Schutz lediglich auf die in der Versicherungskarte verwendeten Beitragsmarken beziehe und demzufolge der tatsächliche Markeninhalt der Karte vorgehe, wenn die Aufrechnungsspalte nachweislich falsche Eintragungen enthalte (ebenso aber ohne nähere Begründung Elsholz/Theile, Die gesetzliche Rentenversicherung, Anm. 2 c zu § 145 AVG, S. 331), kann bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht gefolgt werden. Danach bezieht sich die Unanfechtbarkeit der Rechtsgültigkeit der Verwendung nicht auf die in der Versicherungskarte tatsächlich entrichteten, sondern - was das LSG nicht beachtet - auf die in der Aufrechnung der Versicherungskarte bescheinigten Beitragsmarken. Die Fassung der nach Ablauf von 10 Jahren nach Aufrechnung der Versicherungskarte unbedingten Schutzvorschrift des § 145 Abs. 2 Nr. 2 AVG weicht damit augenfällig von den für Aufrechnungsbescheinigungen in § 134 Abs. 2 AVG und für rechtzeitig umgetauschte Versicherungskarten in § 145 Abs. 1 AVG getroffenen Regelungen ab, welche beide auf die verwendeten Beitragsmarken abstellen. Gegenüber der eine bloße Beweisvermutung enthaltenden Vorschrift des § 134 Abs. 2 AVG (vgl. Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 5. Aufl., Anm. 3 zu § 134 AVG) und der gesetzlichen Vermutung des § 145 Abs. 1 AVG ist durch § 145 Abs. 2 Nr. 2 AVG indes - was das LSG verkennt - nicht der Inhalt der Versicherungskarte, sondern der Inhalt der Aufrechnung geschützt. Bei einer Differenz zwischen dem tatsächlichen Markeninhalt der Versicherungskarte und den Eintragungen in der Aufrechnungsspalte sind demnach allein letztere rechtserheblich.

Nach der im Schrifttum herrschenden Meinung bewirkt daher die Unanfechtbarkeit der Eintragung im Sinne von § 145 Abs. 2 Nr. 2 AVG, daß selbst nicht entrichtete - aber in der Aufrechnungsspalte der Versicherungskarte bescheinigte - Beiträge als entrichtet gelten (so übereinstimmend Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, 7. Aufl., S. 658 g; Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 6. Aufl., Anm. 11 zu § 1423; Hanow/Lehmann/Bogs/v. Altrock, RVO, 4. Buch Rentenversicherung der Arbeiter, 5. Aufl., Rd.Nr. 6 zu § 1423). Im vorliegenden Fall kann daher aber hinsichtlich der in der Aufrechnungsspalte der Versicherungskarte Nr. 5 für das Jahr 1934 eingetragenen Klasse der Beitragsmarken nichts anderes gelten: Die dort bescheinigten Beitragsmarken sind bei der Rentenberechnung in vollem Umfang zugrunde zu legen (so ausdrücklich Brackmann und Hanow/Lehmann/Bogs/v. Altrock aaO sowie Baumgarten in Mitt.LVA Berlin 1968, S. 219).

Ein abweichendes Ergebnis ist auch dann nicht gerechtfertigt, wenn - wie das LSG und die Beklagte meinen - die Voraussetzungen für ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers in die Richtigkeit des Aufrechnungsvermerks nicht vorliegen. Da der in § 145 Abs. 2 Nr. 2 AVG garantierte gesetzliche Bestandsschutz nur dann entfällt, wenn die Eintragung in die Entgeltbescheinigung oder die Verwendung der Marken in betrügerischer Absicht herbeigeführt wurde (§ 145 Abs. 2 Satz 2 AVG) - Ausnahmetatbestände, die hier ohnehin ausscheiden -, kann nicht gefragt werden, welches Vertrauen des Versicherten durch die Eintragung der streitigen 9 Beitragsmarken in die Aufrechnungsspalte der Versicherungskarte Nr. 5 denn zu schützen sei. Anderenfalls würde man dem Kläger verwehren, sich auf die ihm vom Gesetz bewußt durch bloßen Zeitablauf eingeräumte Rechtsposition zu stützen (vgl. BSG-Urteil vom 26.9.1972 in SozR Nr. 9 zu § 1423 RVO). Im übrigen beachtet das LSG nicht, daß die absolute Schutzvorschrift des § 145 Abs. 2 Nr. 2 AVG nicht allein dem Interesse des Versicherten, sondern auch dem allgemeinen Rechtsfrieden dient (ebenso BSG-Urteil vom 26.9.1972 aaO; nach Koch/Hartmann/v. Altrock/Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, Kommentar, Teil II, Anm. 6 zu § 190 AVG aF, § 1445 RVO aF i.V.m. Teil V, Anm. C III zu § 145 AVG dient die Vorschrift überhaupt nicht dem Vertrauensschutz, sondern allein dem Rechtsfrieden). 10 Jahre nach der Aufrechnung der Versicherungskarte sollen die durch die Aufrechnung erfaßten Beiträge allen weiteren Feststellungen über die Rechtsgültigkeit ihrer Verwendung entzogen werden. Ob es mit dem der Vorschrift innewohnenden Gedanken des Rechtsfriedens noch zu vereinbaren ist, dem tatsächlichen Markeninhalt gegenüber den Eintragungen in der Aufrechnung den Vorzug zu geben, wenn dies für den Versicherten günstiger ist (so übereinstimmend - aber nur für diesen Fall -, Baumgarten aaO, Hanow/Lehmann/Bogs/v. Altrock aaO Rd.Nr. 5 zu § 1423 RVO und Verbandskommentar aaO Anm. 8 zu § 1423 RVO unter Berufung auf den der Regelung des § 1300 RVO bzw. des § 79 AVG zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsgedanken), kann dahingestellt bleiben, weil hier der gegenteilige Sachverhalt vorliegt.

Die in den zu § 1423 Abs. 2 Nr. 1 RVO bzw. zu § 145 Abs. 2 Nr. 1 AVG ergangenen Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. August 1971 (Az.: 4 RJ 187/70) und vom 9. Mai 1974 (Az.: 11 RA 79/73) offen gelassene Frage, ob Eintragungen in der Versicherungskarte auch noch nach Ablauf von 10 Jahren nach der Aufrechnung wegen offenbarer Unrichtigkeiten berichtigt werden können, ist entgegen der Auffassung der Beklagten jedenfalls in dieser Allgemeinheit zu verneinen. Zwar sind nach der ständigen Rechtsprechung des BSG die für die Berichtigung von Schreibfehlern, Rechenfehlern und ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten in Urteilen erlassenen Vorschriften (vgl. u.a. § 138 SGG, § 118 VwGO, § 319 ZPO) auch für das dem sozialgerichtlichen Verfahren vorausgehende Verwaltungsverfahren der Versicherungsträger entsprechend anzuwenden (vgl. BSG 15, 96; 24, 203; SozR Nrn. 36, 43, 48 und 81 zu § 77 SGG). Dies kann aber nur dann gelten, wenn die gesetzliche Regelung im Einzelfall nicht die entsprechende Anwendung der besagten Vorschriften ausschließt. Im Hinblick auf die Bedeutung, die der Gesetzgeber den Eintragungen in der Versicherungskarte nach einem bestimmten Zeitablauf beigemessen hat, käme eine Berichtigung allenfalls dann in Betracht, wenn diese unmittelbar aus dem Inhalt der durch § 145 Abs. 2 Nr. 2 AVG geschützten Eintragungen in der Aufrechnung der Versicherungskarte erkennbar wäre - etwa wenn in der Aufrechnung für ein Jahr mehr als 12 Monatsbeiträge oder Beitragsmarken bescheinigt wären, die es zur Zeit der Aufrechnung noch nicht gegeben hat (vgl. auch BSG-Urteil vom 9. Mai 1974 aaO). Mit der vom Gesetz gewollten unabdingbaren Unanfechtbarkeit der Eintragung wäre eine weitergehende Berichtigungsmöglichkeit nicht zu vereinbaren. Sie wäre auch nach dem ganzen Aufbau der Schutzvorschrift des § 145 AVG, welche von einer widerlegbaren gesetzlichen Vermutung in Abs. 1 durch bloßen Zeitablauf gemäß der Regelung in Abs. 2 dem Versicherungsträger uneingeschränkt das Recht des Gegenbeweises verwehrt und damit zu einem unbedingten Schutz für den Versicherten führt, systemwidrig. Dies gilt nicht zuletzt auch deshalb, weil in § 145 Abs. 2 Satz 2 AVG die einzige Ausnahme von der Nichtanfechtbarkeit der durch Zeitablauf gedeckten Tatbestände gesetzlich bestimmt worden ist (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 26. September 1972 aaO).

Da somit das Klagebegehren allein aufgrund der Schutzvorschrift des § 145 Abs. 2 Nr. 2 AVG begründet ist, kommt es nicht darauf an, ob das Vertrauen des Klägers auf die mit dem Inhalt der Aufrechnung der Versicherungskarte Nr. 5 übereinstimmende Aufrechnungsbescheinigung beim gegebenen Sachverhalt geschützt werden müßte. Es erübrigt sich deshalb ein Eingehen auf die insoweit gegensätzlichen Auffassungen im angefochtenen Urteil und in der Revisionsbegründung. Desgleichen können die Ausführungen des LSG über die Beweiskraft der Versicherungskarte als öffentliche Urkunde auf sich beruhen.

Nach alledem sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und dem Klagebegehren ist stattzugeben (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 219

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