Entscheidungsstichwort (Thema)

Versicherungslast

 

Leitsatz (amtlich)

Eine vor 1921 geborene Frau, die mit ihrem Mann in Frankreich lebte, als er dort nach seiner Kriegsgefangenschaft “freier Arbeitnehmer” war, erhält Leistungen wegen Kindererziehung für ihr damals in Frankreich geborenes Kind.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 62

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 10.04.1992; Aktenzeichen L 3 J 75/91)

SG Düsseldorf (Urteil vom 20.12.1990; Aktenzeichen S 3 J 1119/90)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. April 1992 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Leistungen wegen Kindererziehung bezüglich ihrer 1949 in Frankreich geborenen Tochter Rita.

Die 1916 geborene Klägerin heiratete 1944. Ihr Ehemann wurde 1947 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, nachdem er sich verpflichtet hatte, als “Freiarbeiter” bzw als “Fremdarbeiter” in Frankreich tätig zu sein. Aus der Ehe der Klägerin gingen drei Töchter hervor. Die 1949 geborene Tochter Rita wurde in Frankreich geboren, wo sich die Klägerin bei ihrem Ehemann aufhielt. 1950 kehrte der Ehemann der Klägerin nach Deutschland zurück. Bei der Berechnung des ihm gezahlten Altersruhegeldes sind für den Zeitraum von Januar 1947 bis August 1950 Pflichtbeitragszeiten berücksichtigt worden (Bescheid der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz ≪LVA≫ vom 25. August 1983). Zur Erläuterung ist ausgeführt, daß die in Frankreich zurückgelegten Versicherungszeiten nach der 4. Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die Soziale Sicherheit vom 10. Juli 1950 (4. ZV) zu Lasten der deutschen Versicherung gingen.

Im Juni 1989 beantragte die Klägerin bei der Beklagten zu ihrer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die sie seit 1979 erhielt, Kindererziehungsleistungen für ihre Töchter zu zahlen. Während die Beklagte diese Leistungen für die beiden in Deutschland geborenen Töchter erbrachte, lehnte sie Kindererziehungsleistungen für die 1949 in Frankreich geborene Tochter Rita ab (Bescheid vom 26. September 1989).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine Leistung wegen Kindererziehung für die Tochter Rita zu gewähren (Urteil vom 20. Dezember 1990). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 10. April 1992). Es hat ausgeführt: Zur Begründung des Anspruches reiche es aus, wenn der Ehemann die Voraussetzungen erfülle, unter denen das Gesetz eine Geburt im Ausland der Geburt im Inland gleichstelle. Der Ehemann der Klägerin habe in Frankreich Versicherungszeiten zurückgelegt, die durch Übernahme der Versicherungslast als deutsche Zeiten behandelt würden.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des Art 2 § 62 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) und des Art 3 § 1 der 4. ZV (BGBl II 1951, 177, 195). Auch aus Art 2 § 62 Abs 3a ArVNG lasse sich das vom LSG gewonnene Ergebnis nicht stützen. Dieser Absatz beziehe sich nur auf Gebiete, die den Staatsverband gewechselt hätten oder in denen während der deutschen Besetzung das Sozialversicherungsrecht gewechselt habe. Es würden also nur die Fälle erfaßt, in denen deutsches Recht zur Zeit der Geburt des Kindes gegolten habe.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Düsseldorf vom 20. Dezember 1990 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf eine Leistung für Kindererziehung bezüglich ihrer Tochter Rita ab dem 1. Oktober 1989.

Der Anspruch der Klägerin richtet sich noch nach Art 2 § 62 ArVNG, obwohl das Sechste Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VI) bereits mit Wirkung vom 1. Januar 1992 das ArVNG ersetzt hat (Art 85 Abs 1; Art 83 Nr 7 Rentenreformgesetz 1992 ≪RRG 1992≫). Nach § 300 Abs 2 SGB VI sind aufgehobene Vorschriften weiter anzuwenden, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird. Die Klägerin hat ihren Anspruch bereits 1989 erhoben.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte (Art 2 § 64 Abs 2 Satz 1 ArVNG) einen Anspruch auf Leistung für Kindererziehung (Art 2 § 62 Abs 1 Satz 1 ArVNG) wegen der Geburt ihrer Tochter Rita. Nach Art 2 § 62 ArVNG erhalten Mütter, die vor dem 1. Januar 1921 geboren sind, für jedes Kind, das sie im Geltungsbereich “dieses Gesetzes”, also des ArVNG, geboren haben, eine Leistung für Kindererziehung. Der Geburt im Geltungsbereich dieses Gesetzes steht die Geburt im jeweiligen Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze oder in Berlin vor dem 1. Februar 1949 gleich. Zwar hat die Klägerin die Tochter Rita außerhalb des Geltungsbereiches des ArVNG, nämlich in Frankreich, geboren. Doch steht diese Geburt einer Geburt im Inland deshalb gleich, weil die Klägerin sich zu dieser Zeit bei ihrem Ehemann befand, der in Frankreich rentenversichert war und dessen Versicherungsrechte durch Vereinbarung zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland in die deutsche Versicherungslast übernommen worden sind. Insoweit ist eine entsprechende Anwendung des Art 2 § 62 Abs 3 Nr 3 ArVNG geboten, wonach die Absätze 1 und 2 der Vorschrift – ua – auch für Mütter gelten, die sich – wie die Klägerin – im Zeitpunkt der Geburt des Kindes zusammen mit ihrem Ehemann in einem Staat außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes oder des jeweiligen Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze gewöhnlich aufgehalten haben und ihr Ehemann in diesem Staat zur Zeit der Geburt des Kindes oder unmittelbar vorher Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung hat. Diese deutschen Pflichtbeitragszeiten müssen indes ausländischen Beitragszeiten, die in die deutsche Versicherungslast fallen, gleichgesetzt werden. Dies ergibt sich aus folgendem:

Nach Art 2 § 62 Abs 3a ArVNG reicht die Geburt im Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze dann zur Begründung des Anspruches nicht aus, wenn Beitragszeiten zum Zeitpunkt der Geburt aufgrund einer Versicherungslastregelung mit einem anderen Staat nicht in die Versicherungslast der Bundesrepublik Deutschland fallen würden. Damit sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, daß die Reichsversicherungsgesetze in Gebieten gegolten haben, die mittlerweile zu Staaten gehören, welche durch Vereinbarungen mit der Bundesrepublik Deutschland die Versicherungslast für rentenversicherte Zeiten übernommen haben, die zu einem früheren Zeitpunkt in den nunmehr nicht mehr zu Deutschland gehörenden Gebieten zurückgelegt worden sind. Das gilt insbesondere für Zeiten, die in Österreich oder in dem (wieder) zu Frankreich gehörenden Elsaß zurückgelegt sind, wo auch zeitweise die Reichsversicherungsgesetze gegolten haben (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 23. April 1990 in SozR 3-5050 § 28b Nr 1 sowie Bundessozialgericht ≪BSG≫ in SozR 3-5750 Art 2 § 62 Nr 5). Die Vorschriften über die Anrechnung von Versicherungszeiten für Kinder (§ 1251a Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫) ebenso wie die Leistungen nach Art 2 § 62 ArVNG gehen von dem Gedanken aus, daß nicht nur Beitragszeiten, sondern auch Kindererziehungszeiten für die Rentenversicherung und die Altersversorgung der vorangegangenen Generation bestandssichernde Bedeutung haben und daher durch Rentenleistungen honoriert werden sollen. Lediglich aus Zweckmäßigkeitsgründen ist für Mütter der Jahrgänge vor 1921 ein vereinfachtes Verfahren gewählt und deshalb nicht an die Erziehungsleistung, sondern an die Geburt des Kindes angeknüpft worden (BT-Drucks 11/197 S 9). An die Stelle von Versicherungszeiten, etwa Beitragszeiten, tritt bei Leistungen für Kindererziehung (bei vor 1921 geborenen Müttern) die Geburt des Kindes (BSG-Urteil vom 28. Juni 1990 – 4 RA 26/90 – S 6). Würden aufgrund des Aufenthaltes der Mutter im Zeitpunkt der Geburt Versicherungsleistungen in eine fremde Versicherungslast fallen, so gehören auch die Lasten aus der Erziehungsleistung zu der fremden Versicherung. Sie werden so behandelt, als wenn die Mutter ihre Erziehungsleistung für die fremde Versicherung erbracht hätte. Daß die Rentenversicherungsträger der Bundesrepublik Deutschland von der Leistung an die Mutter frei werden, findet dann seinen rechtfertigenden Grund darin, daß für die betreffende Zeit die fremde Rentenversicherung die Versicherungslast und damit auch die Verpflichtung übernommen hat, die früheren Beiträge und sonstigen Leistungen für die Versicherung durch Leistungen im Versicherungsfall zu honorieren.

Aus diesem Zweck des Art 2 § 62 Abs 3a ArVNG ist dann andererseits aber auch der Wille des Gesetzgebers erkennbar, dann eine Erziehungsleistung im Inland wie eine inländische Erziehungsleistung zu behandeln, wenn Deutschland seinerseits die Versicherungslast eines fremden Trägers übernommen hat. Das ergibt sich aus der bewertenden – wenn auch nicht gesetzestechnischen – Gleichsetzung der Erziehungsleistung mit einer Versicherungszeit (etwa einer Beitragszeit). So wie die Versicherungslast in anderen Fällen von Deutschland hinweg auf fremde Träger übertragen wurde und mit ihr auch die Verpflichtung, den Müttern Leistungen für die Erziehung zu erbringen – soweit diese Leistungen im Ausland vorgesehen sind –, so besteht umgekehrt auch die Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, die fremden Zeiten in die eigene Versicherung einzustellen und mit ihr auch die Verpflichtung, die Erziehungsleistung der Mütter in gleicher Weise anzuerkennen, wenn die Bundesrepublik Deutschland eine Versicherungslast übernommen hat. Letzteres trifft hier zu. In Art 3 § 1 Abs 1 und 2 der 4. ZV (BGBl II 1951, 195) heißt es: “Abweichend von den Bestimmungen des allgemeinen Abkommens und der 1. und 3. Zusatzvereinbarung erhalten die zu freien Arbeitnehmern gewordenen ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen sowie die nach dem 8. Mai 1945 aus Frankreich gekommenen deutschen zivilen Arbeitskräfte, die in Frankreich zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 30. Juni 1950 beschäftigt waren und Frankreich vor dem 1. Januar 1951 verlassen haben oder werden, vom Zeitpunkt ihrer Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland von den deutschen Versicherungsträgern die Leistungen, auf die sie Anspruch hätten erheben können, wenn die in der Bundesrepublik Deutschland geltende Gesetzgebung über die Sozialversicherung auf sie während ihrer Beschäftigungszeit in Frankreich anwendbar gewesen wäre. Die Bestimmungen im ersten Absatz des Artikels gelten auch für anspruchsberechtigte Familienangehörige der bezeichneten Arbeitnehmer, wenn und solange diese Angehörigen in der Bundesrepublik Deutschland wohnen.” Die Klägerin und ihr Ehemann erfüllen die in den zitierten Vorschriften genannten Voraussetzungen. Dies ergibt sich aus den von der Revision nicht angegriffenen und damit für den erkennenden Senat bindenden Tatsachenfeststellungen (§ 163 SGG).

Die genannte Regelung hat den Sinn, die Personen, die in der genannten Art in Frankreich gearbeitet hatten, aber auch ihre anspruchsberechtigten Familienangehörigen, in das deutsche Rentenversicherungsrecht wieder einzugliedern, während die französischen Arbeitnehmer, die in ähnlicher Weise in Deutschland gearbeitet hatten, durch das gleiche Abkommen wieder in die französische Versicherung übernommen wurden. Zweck dieser Vorschriften ist die “volle Eingliederung” der betroffenen Personen in das Sozialversicherungssystem ihres Heimatlandes, unabhängig davon, ob sie während der Zeit ihrer Beschäftigung im fremden Land von der dortigen Versicherung erfaßt waren oder nicht. Die Arbeitsleistung, die sie in ihrem Beschäftigungsland erbracht haben, wird so behandelt, als seien im Heimatland für sie Beiträge abgeführt worden (BSG SozR 2200 § 1250 Nr 16). Nichts anderes kann für die Ehefrauen der deutschen Arbeiter gelten, die das Schicksal ihres Mannes geteilt haben. Wenn sie Erziehungsleistungen im fremden Land erbracht haben und, wie das Abkommen es vorsieht, wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, gelten auch die Erziehungsleistungen als im Heimatland erbracht.

Die Klägerin hat nach alledem, wie die Vorinstanzen zu Recht ausgesprochen haben, gegen die Beklagte Anspruch auf Leistungen für Kindererziehung für die am 30. Juli 1949 geborene Tochter Rita. Der Revision der Beklagten mußte somit der Erfolg versagt bleiben; sie war zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 915586

BSGE, 202

Breith. 1994, 128

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