Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 20.11.1996; Aktenzeichen L 2 J 38/96)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. November 1996 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Leistungen für Kindererziehung (KEL) an Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 für ihren in Schweden geborenen Sohn Detlev hat.

Die 1919 geborene Klägerin lebte nach dem Kriege mit ihrem Ehemann, einem Geophysiker, und ihrem in Sachsen geborenen Sohn Reinhard aufgrund einer Zwangsevakuierung in Hessen. Der Ehemann war zunächst bis Februar 1946 mit Übersetzungsarbeiten für die britische Militärregierung, von Januar bis November 1947 sodann als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität G. … beschäftigt. Am 21. Dezember 1947 reiste die Familie nach Schweden aus, wo der Ehemann der Klägerin in der Zeit vom 1. Januar 1948 bis 31. August 1949 an der Technischen Hochschule in G. … und vom 1. September 1949 bis März 1952 bei der Firma A. -E. … M. … in S. … jeweils in unbefristeten Arbeitsverhältnissen beschäftigt war. Für die Zeit 1949 bis 1952 wurden ihm vier Jahre Versicherungszeiten in der schwedischen Rentenversicherung angerechnet. Im März 1952 kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Seit Februar 1981 bezieht der Ehemann der Klägerin schwedische Alterspension, seit März 1981 zudem Altersrente der BfA. Die Klägerin selbst war weder in Schweden noch in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. Am 29. Oktober 1950 gebar sie in A. … /Schweden den Sohn Detlev.

Ihren im November 1990 erstmals gestellten Antrag auf Gewährung von KEL lehnte die Beklagte für den in Schweden geborenen Sohn Detlev der Klägerin ab, weil sich die Klägerin zum Zeitpunkt der Geburt gewöhnlich in Schweden aufgehalten habe und die Voraussetzungen des Art 2 § 62 ArVNG nicht erfülle (Bescheid vom 29. Mai 1991; Widerspruchsbescheid vom 4. November 1991). Den am 21. Juni 1994 gestellten zweiten Antrag unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 25. Januar 1994 (4 RA 48/92 – AmtlMittLVA Rheinpr 1994, 274) lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 15. Juli 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 1995 ab, weil der Ehemann der Klägerin in Schweden nicht aufgrund einer „Entsendung” eines Arbeitgebers in Deutschland gearbeitet habe und das genannte Urteil auf ihn daher keine Anwendung finde.

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des SG vom 21. Dezember 1995; Urteil des LSG vom 20. November 1996).

Das LSG hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe zum Zeitpunkt der Geburt ihres Sohnes Detlev im Oktober 1950 nicht ihren gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 30 SGB I in Deutschland gehabt. Denn mit der Aufnahme eines unbefristeten Beschäftigungsverhältnisses in Schweden durch den Ehemann mit der Entrichtung von Beiträgen zum schwedischen Rentenversicherungsträger habe die Familie ihren Lebensmittelpunkt nach Schweden verlegt. Bei der Beschäftigung des Ehemannes handele es sich auch nicht um eine „Entsendung”; das Beschäftigungsverhältnis habe nicht als unselbständiger Bestandteil eines fortbestehenden Beschäftigungsverhältnisses in Deutschland bestanden. Ausländische Pflichtbeitragszeiten erfüllten aber nicht den Tatbestand von Beitragszeiten iS des Art 2 § 62 Abs 3 Nr 2 ArVNG. Ein Anspruch auf KEL bestehe auch nicht gemäß § 294 Abs 2 SGB VI, weil die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift mit denen des Art 2 § 62 Abs 3 ArVNG identisch seien. Schließlich könne der Anspruch nicht aus Vorschriften des über- oder zwischenstaatlichen Rechts hergeleitet werden.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§ 30 Abs 3 SGB I; § 294 Abs 2 SGB VI) und macht im wesentlichen geltend: Sie sei in Schweden mit ihrer Familie jeweils nur befristet aufenthaltsberechtigt gewesen; von einem dauerhaften Schwerpunkt der Lebensverhältnisse iS eines Lebensmittelpunktes geprägt und von einer rechtlichen Beständigkeit begleitet sei dieser Aufenthalt nicht gewesen. Die Familie sei in Schweden quasi wie eine Gastfamilie behandelt worden, so daß sie ihre Lebensplanung darauf hätten einstellen müssen, nach Deutschland zurückzukehren. Eine Einwanderung sei nicht vorgesehen gewesen.

Eine weitergehende Verletzung des § 294 Abs 2 SGB VI hat die Klägerin nur behauptet.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Sozialgerichts Lüneburg vom 21. Dezember 1995 und des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. November 1996 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 1995 und den Bescheid vom 29. Mai 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. November 1991 aufzuheben und die Beklagte zur verurteilen, ihr Leistungen für Kindererziehung an Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 für ihren Sohn Detlev zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision ist unbegründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß die Beklagte den ersten Antrag der Klägerin auf Gewährung von KEL für den Sohn Detlev im Jahre 1991 zu Recht abgelehnt hat, so daß der im Jahre 1994 gestellte Überprüfungsantrag nicht zu einer Aufhebung dieses Bescheides führt, die diesbezügliche Ablehnung im Bescheid vom 15. Juli 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 1995 vielmehr rechtmäßig ist.

Gemäß Art 2 § 62 Abs 1 Sätze 1 und 2 ArVNG, der inhaltsgleich mit § 294 Abs 1 Sätze 1 und 2 SGB VI ist, erhält eine Mutter, die vor dem 1. Januar 1921 geboren ist, für jedes Kind, das sie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland lebend geboren hat, eine Leistung für Kindererziehung. Der Geburt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht die Geburt im jeweiligen Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze gleich. Da der Sohn Detlev der Klägerin nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in Schweden geboren ist, scheidet ein Anspruch auf KEL der Klägerin nach dieser Vorschrift aus.

Die Klägerin erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des Art 2 § 62 Abs 3 ArVNG. Danach gelten die Abs 1 und 2 der Vorschrift auch für Mütter, die ein Kind außerhalb des Geltungsbereichs des ArVNG oder des jeweiligen Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze lebend geboren haben, wenn sie im Zeitpunkt der Geburt des Kindes ihren gewöhnlichen Aufenthalt

  1. in diesen Gebieten hatten (Art 2 § 62 Abs 3 Nr 1 ArVNG);
  2. zwar außerhalb dieser Gebiete hatten, aber im Zeitpunkt der Geburt des Kindes oder unmittelbar vorher entweder sie selbst oder ihr Ehemann, mit dem sie sich zusammen dort aufgehalten hatten, wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten haben oder nur deshalb nicht haben, weil sie selbst oder ihr Ehemann versicherungsfrei oder von der Versicherung befreit waren (Art 2 § 62 Abs 3 Nrn 2, 3 ArVNG).

Gemäß § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts erfolgt aufgrund vorausschauender Betrachtungsweise „Prognoseentscheidung”), wobei alle für die Beurteilung der künftigen Entwicklung bei Beginn des streitigen Zeitraums erkennbaren Umstände zu berücksichtigen sind (BSG Urteil vom 22. März 1988 – 8/5a RKn 11/87 – SozR 2200 § 205 Nr 65). Wie das LSG hiernach zutreffend entschieden hat, hatte die Klägerin im Zeitpunkt der Geburt des Sohnes Detlev – im Oktober 1950 – ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Dies ergibt sich aus folgendem:

Im Oktober 1950 lebte die Klägerin mit ihrer Familie schon fast drei Jahre in Schweden. Der Ehemann der Klägerin war seit dem 1. September 1949 erstmals versicherungspflichtig beschäftigt. Dieses Beschäftigungsverhältnis war – wie schon das vorangegangene – nicht befristet, sondern auf Dauer angelegt. Zudem waren die Klägerin und ihre Familie – beide Eheleute sprechen fließend schwedisch – nach Schweden ausgewandert, um eine neue Existenz zu gründen, da ihnen dies in Deutschland nicht möglich erschien. Daß der Klägerin und ihrer Familie in Schweden stets nur zeitlich befristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse erteilt wurden, steht der Tatsache nicht entgegen, daß sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Schweden hatte. Bei der Vergabe von Aufenthalts- bzw Arbeitserlaubnissen handelt es sich um ordnungspolitische Maßnahmen, die nur dann eine Bedeutung für den gewöhnlichen Aufenthalt haben, wenn sich der Ausländer nach den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nur auf eine kurze Verweildauer einrichten kann (BSG Urteil vom 28. Juni 1984 – 3 RK 27/83BSGE 57, 93 = SozR 2200 § 205 Nr 56). Für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts in Schweden spricht jedoch, daß die Klägerin sich dort im Oktober 1950 mit ihrer Familie bereits drei Jahre lang aufgehalten hatte und zu diesem Zeitpunkt bereits seit zweieinhalb Jahren über eine eigene Wohnung verfügte. Zudem war die seinerzeit noch gültige Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre (15. März 1948 bis 1. Juli 1951) ausgestellt. Der persönliche Eindruck der Klägerin, man werde in Schweden wie „Gastarbeiter” behandelt, mag entscheidendes Motiv für die spätere Rückkehr nach Deutschland gewesen sein; für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts ist dies jedoch unerheblich.

Der Ehemann der Klägerin befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis, aus dem er Beiträge zum schwedischen Rentenversicherungsträger leistete. Eine Beitragsentrichtung zur deutschen Rentenversicherung erfolgte nicht. Die Beschäftigung bei der Firma A. -E. … M. … in S. … hatte auch keinerlei Bezug zu einem deutschen Beschäftigungsverhältnis, so daß iS der „Ausstrahlungstheorie” auch keine Versicherungspflicht nach deutschen Vorschriften bestand.

Die Klägerin kann auch weder aus über- noch aus zwischenstaatlichem Recht eine Gleichstellung der in Schweden geleisteten Beitragszeiten mit solchen nach deutschem Recht herleiten. Denn weder dem bilateralen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Schweden über Soziale Sicherheit vom 27. Februar 1976 iVm dem dazugehörigen Schlußprotokoll (BGBl II 1977, 665 ff) noch dem hierzu vereinbarten Zusatzabkommen vom 26. Oktober 1989 (BGBl II 1991, 514 ff) läßt sich entnehmen, daß die in Schweden für eine versicherungspflichtige Beschäftigung geleisteten Beitragszeiten rentenrechtliche Zeiten iS der deutschen Rentenversicherung darstellen. Zwar enthält Art 22 des Abkommens aus dem Jahre 1976 Regelungen über die Anrechenbarkeit schwedischer Versicherungszeiten, wenn nach den Rechtsvorschriften beider Vertragsstaaten anrechnungsfähige Versicherungszeiten vorhanden sind. Die Klägerin hat jedoch in der Bundesrepublik Deutschland keine Versicherungszeiten zurückgelegt, so daß diese Vorschrift auf sie keine Anwendung findet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174055

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