Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum Umfang der nach § 185 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewährenden "häuslichen Krankenpflege

 

Beteiligte

…, Kläger und Revisionskläger

…, Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I

Die Beteiligten streiten über den Umfang der dem Kläger nach § 185 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewährenden "häuslichen Krankenpflege". Während Satz 1 der Vorschrift bestimmt, daß Versicherte neben der ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege erhalten, "wenn Krankenhauspflege geboten, aber nicht ausführbar ist, oder Krankenhauspflege dadurch nicht erforderlich wird", heißt es in Satz 2, die Satzung könne bestimmen, "daß häusliche Krankenpflege auch dann gewährt wird, wenn diese zur Sicherung der ärztlichen Behandlung erforderlich ist".

Die Beklagte hat in ihrer (der Mustersatzung des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen nachgebildeten) Satzung die Bestimmung aufgenommen, daß häusliche Krankenpflege "im Rahmen ärztlich verordneter medizinischer Maßnahmen auch dann gewährt (wird), wenn diese zur Sicherung der ärztlichen Behandlung erforderlich ist". Die Beklagte hatte die Kosten der häuslichen Krankenpflege des Klägers, der an Multipler Sklerose im fortgeschrittenen Stadium, ausgedehnten Ödemen und einer Hypertonie leidet, bis zum 31. Januar 1984 in vollem Umfang übernommen. Nachdem der Hausarzt des Klägers am 9. Februar 1984 die häusliche Krankenpflege zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung verordnet hatte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. Februar 1984 die weitere Kostenübernahme für die häusliche Krankenpflege ab. Im Widerspruchsverfahren bescheinigte der Hausarzt die Notwendigkeit häuslicher Krankenpflege anstelle einer stationären Krankenhausbehandlung für die Zeit vom 23. Februar bis 24. Mai 1984 und ab 25. Mai 1984 die Notwendigkeit der häuslichen Krankenpflege zur Sicherung der ambulanten Behandlung. Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 1984 hat die Beklagte dem Widerspruch insoweit abgeholfen, als die Kosten für die angeführte Zwischenzeit (23. Februar bis 24. Mai 1984) voll übernommen wurden. Darüber hinaus hat sie nur die Kosten von sogenannter Behandlungspflege (medizinische Hilfeleistungen) übernommen, die Kosten für die sogenannte Grundpflege, worunter im Gegensatz zur Behandlungspflege rein pflegerische Maßnahmen verstanden werden, in Abzug gebracht. Der Versicherte hat Klage erhoben; er hält die Aufteilung in Grundpflege und Behandlungspflege für unzulässig. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers wurde vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers. Er beantragt,das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Juli 1986 - L 11 Kr 55/85 - sowie das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 9. Mai 1985 - S 17 Kr 58/84 - aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 1984 zu verurteilen, ihm die Grundpflege auch für die Zeit vom 1. bis 23. Februar 1984 sowie ab 25. Mai 1984 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

II

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Nach § 185 Abs 1 Satz 1 RVO erhalten Versicherte neben der ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege, wenn Krankenhauspflege geboten, aber nicht ausführbar ist, oder Krankenhauspflege dadurch nicht erforderlich wird. Nach Abs 1 Satz 2 der Vorschrift kann die Satzung bestimmen, daß häusliche Krankenpflege auch dann gewährt wird, wenn diese zur Sicherung der ärztlichen Behandlung erforderlich ist.

1. Die häusliche Krankenpflege nach § 185 Abs 1 Satz 2 RVO, die nach der Satzung zu gewähren der Gesetzgeber dem Versicherungsträger freigestellt hat (- satzungsmäßige häusliche Krankenpflege -), setzt voraus, daß sie "zur Sicherung der ärztlichen Behandlung erforderlich ist". Eine solche Erforderlichkeit ist aber auch Voraussetzung der häuslichen Krankenpflege nach Satz 1, zweite Alternative der genannten Vorschrift (- klinikvermeidende häusliche Krankenpflege -), also einer Krankenpflege, welche als gesetzliche Leistung (soweit sie nicht durch eine im Haushalt lebende Person erbracht werden kann - Absatz 2 der Vorschrift) die sonst in der Klinik zu gewährende Krankenpflege ersetzt.

2. Auch die klinikvermeidende häusliche Krankenpflege (Satz 1) setzt voraus, daß sie die ärztliche Behandlung zu sichern imstande ist. Wäre dies nicht der Fall, so könnte dieser häuslichen Krankenpflege (Satz 1) nicht die anspruchsbegründende Eigenschaft zukommen, daß gerade durch sie die Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung nach § 184 Abs 1 RVO entfällt. Gerade darin also, daß die klinikvermeidende häusliche Krankenpflege (Satz 1) die ärztliche Behandlung zu sichern vermag, liegt ihre Eigenschaft, den Klinikaufenthalt zu vermeiden. Die Sicherung der ärztlichen Behandlung durch die häusliche Krankenpflege ist demnach die Bedingung, ohne die die sonst notwendige Krankenhauspflege (§ 184 RVO) gar nicht entfallen kann. Mit anderen Worten: Wäre die häusliche Krankenpflege nach Satz 1 nicht notwendig, um die ärztliche Behandlung zu sichern, so könnte sie auch nicht die Ursache für den Wegfall der Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung sein.

3. Der Anspruch auf die klinikvermeidende häusliche Krankenpflege (Satz 1) wird allein dadurch bestimmt, daß sonst zur Sicherstellung der ärztlichen Behandlung eine "Pflege" in der Klinik erforderlich wäre. Denn wäre die Krankenhausbehandlung (§ 184 RVO) noch durch einen anderen Klinikumstand (als dem der "Pflege") erforderlich, so würde er nicht durch die bloße häusliche Krankenpflege (Satz 1) entfallen. Ist der Klinikaufenthalt aber allein durch die Erforderlichkeit der klinischen Pflegemaßnahmen bestimmt, dann bedeutet dies, daß es ausschließlich diese Maßnahmen sind, die zur Sicherung der ärztlichen Behandlung einen Klinikaufenthalt erforderlich machen.

4. Die genannte Vorschrift des § 185 Abs 1 Satz 1 RVO - klinikvermeidende häusliche Krankenpflege - ist insoweit durchaus konsequent konzipiert, als sie voraussetzt, daß ein Krankenhausbehandlungsanspruch nach § 184 RVO schon dann gegeben ist, wenn allein die im Krankenhaus gegebenen pflegerischen Mittel die ärztliche Behandlung sicherstellen können. Ein solcher Anspruch nach § 184 RVO setzt zunächst unabhängig von den Mitteln des Krankenhauses voraus, daß eine ärztlich behandlungsbedürftige Krankheit vorliegt, daß die Krankheit also einer ärztlichen Behandlung (§ 122 RVO) im Sinne der Diagnoseerstellung bzw der Heilung, Linderung oder der Verhütung einer Verschlimmerung zugänglich ist (BSGE 62, 83, 84 mwH). Da ein Anspruch nach § 184 RVO nicht besteht, solange die derart erforderliche Behandlung ambulant erfolgen kann, bedarf der Krankenhausbehandlungsanspruch einer besonderen zusätzlichen Begründung. Die damit angesprochenen besonderen Mittel des Krankenhauses werden zwar in erster Linie durch besondere Umstände des ärztlichen Klinikpersonals (- besondere fachliche Qualifikation, ständige ärztliche Präsenz -) und durch eine besondere Apparateausstattung gegeben sein. Sie können jedoch - was durch die klinikvermeidende häusliche Krankenpflege nach § 185 Abs 1 Satz 1 RVO gerade vorausgesetzt wird - auch darin liegen, daß allein bestimmte pflegerische Umstände des Krankenhauses die ärztliche Heilbehandlung sicherzustellen vermögen. Sie sind es dann, die den Krankenhausbehandlungsanspruch nach § 184 RVO erst begründen und deren Ersetzung durch die häusliche Krankenpflege nach § 185 Abs 1 Satz 1 zweite Alternative RVO die Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung gerade in Wegfall kommen lassen. Ein Anspruch auf Krankenhausbehandlung allein aufgrund der pflegerischen Umstände der Klinik kann indessen aber nur dann vorliegen, wenn die klinischen Pflegemaßnahmen - wie auch im Falle der besonderen ärztlichen oder apparativen Umstände - die Bedingung darstellen, ohne die (mit hinreichender Wahrscheinlichkeit) der Behandlungserfolg entfiele. Es muß sich dabei also um klinische Pflegemaßnahmen handeln, die im konkreten, durch den Patienten und seine Erkrankung bestimmten Einzelfall den Erfolg der ärztlichen Behandlung gewährleisten und sicherstellen sollen. Alle anderen, sich von solcher "Heilpflege" unterscheidenden Maßnahmen, die also keine Bedingungen des Behandlungserfolges darstellen, haben hier selbst dann auszuscheiden, wenn eine behandlungsunterstützende Wirkung zwar nicht auszuschließen, aber jedenfalls nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu begründen ist.

5. Nach § 185 Abs 1 Satz 2 RVO kann die Satzung bestimmen, "daß häusliche Krankenpflege auch dann gewährt wird, wenn diese zur Sicherung der ärztlichen Behandlung erforderlich ist". Ist letzteres aber der Fall, ist die häusliche Krankenpflege also als notwendige Heilpflegemaßnahme anzusehen, dann hätte der Versicherte ohne diese satzungsgemäße häusliche Krankenpflege ohnehin einen gesetzlichen Anspruch nach § 185 Abs 1 Satz 1 RVO, weil damit zugleich alle Voraussetzungen des Anspruchs auf die klinikvermeidende häusliche Krankenpflege erfüllt wären: ohne sie müßte der Versicherte in der Klinik behandelt werden, weil deren Heilpflege zur Sicherung der ärztlichen Behandlung erforderlich wäre. Die systematische Unvereinbarkeit der beiden Vorschriften besteht also darin, daß es eines satzungsmäßigen Anspruchs (auf häusliche Krankenpflege zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung) deshalb gar nicht bedarf, weil mit seinen Voraussetzungen immer schon ein Anspruch auf die klinikvermeidende häusliche Krankenpflege (Satz 1) gegeben ist und daß selbst dann, wenn ein nicht bloß satzungsmäßiger, sondern ein gesetzlicher Anspruch auf häusliche Krankenpflege zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Versorgung bestünde, kein Grund mehr dafür vorhanden wäre, den Krankenhausbehandlungsanspruch nach § 184 RVO allein schon wegen der sonst fehlenden Heilpflege zu gewähren, was aber, wie oben ausgeführt, im § 185 Abs 1 Satz 1 RVO gerade vorausgesetzt wird.

§ 185 Abs 1 Satz 2 RVO (satzungsmäßige häusliche Krankenpflege) wurde durch das Gesetz zur Dämpfung der Ausgabenentwicklung und zur Strukturverbesserung in der gesetzlichen Krankenversicherung (Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz -KVKG-) vom 27. Juni 1977 eingeführt (BGBl I, 1069). Gesetzgeberische Motive für die gewählte Formulierung sind nicht ersichtlich (vgl BT-Drucks 8/652). Demnach bleibt als sinnvolle Auslegung nur die Möglichkeit, die "Erforderlichkeit" der Heilpflege zur Sicherung der ärztlichen Behandlung nach § 185 Abs 1 Satz 2 RVO entgegen dem Wortlaut nicht im Sinne der Wahrscheinlichkeit zu sehen, wie sie bei einer Krankenhauspflege zu verlangen ist, sondern bloß im Sinne einer in hohem Grade bestehenden Zweckmäßigkeit. Bei dem gegebenen Zusammenhang des § 185 Abs 1 Satz 2 RVO mit den Vorschriften der §§ 185 Abs 1 Satz 1, 184 RVO entspricht nur diese Auslegung dem Charakter der satzungsmäßigen häuslichen Krankenpflege als einer Mehrleistung gegenüber der obengenannten Pflichtleistung nach § 185 Abs 1 Satz 1 RVO.

6. Der Kläger begehrt häusliche Krankenpflege auch in der Form der sogenannten Grundpflege. Ist die Beklagte nach dem Gesetz in den Fällen nicht erforderlicher Krankenhausbehandlung zu einer Gewährung der häuslichen Krankenpflege überhaupt nicht verpflichtet, so konnte sie dann, wenn die häusliche Krankenpflege nicht zur Abwendung der Krankenhausbehandlung erforderlich, sondern zur Sicherung der (ambulanten) ärztlichen Behandlung nur (in hohem Grade) zweckmäßig erscheint, sich auch zumindest im Sinne einer Beschränkung auf die medizinische Behandlungspflege zu einer Teilgewährung verpflichten. Das hat sie hier getan, und sie hat diese Beschränkung satzungsmäßig auch hinreichend zum Ausdruck gebracht. Das LSG hat jedoch nicht untersucht, ob dem Kläger schon ein Anspruch auf die klinikvermeidende häusliche Krankenpflege nach § 185 Abs 1 Satz 1 RVO zusteht. Zur häuslichen Krankenpflege im Sinne dieser Vorschrift gehört jedoch, wie das LSG zutreffend dargelegt hat, auch die Grundpflege. Damit war aufgrund des Begehrens des Klägers auch der Anspruch nach § 185 Abs 1 Satz 1 RVO zu untersuchen. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger für sein Vorbringen, das LSG habe § 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG- (Aufklärungspflicht) verletzt, einen zur Begründung der Verfahrensrüge hinreichenden Revisionsvortrag erbracht hat, ob er insbesondere darlegte, aus welchen Gründen das Gericht sich zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen, um welche Beweismittel es sich dabei handelt und zu welchen Ergebnissen entsprechende Beweiserhebungen geführt hätten (vgl Meyer-Ladewig, Komm SGG, 3. Aufl 1987, RdNr 12 zu § 164 mwN). Wird bei der hier gegebenen Rechtslage die Überprüfung des Klageanspruchs auf § 185 Abs 1 Satz 2 RVO beschränkt, so liegt jedenfalls eine unrichtige Anwendung des materiellen Rechts vor. Das LSG wird daher zu prüfen haben, ob ein Anspruch des Klägers auf Gewährung der häuslichen Krankenpflege schon nach Satz 1 des § 185 Abs 1 RVO deshalb besteht, weil (im streitigen Zeitraum) die Krankheit des Klägers ohne häusliche Heilbehandlungspflege nur mit dem Mittel der klinischen Heilbehandlungspflege mit Aussicht auf Erfolg hätte behandelt werden können (vgl diesbezüglich die Erklärung des Prozeßbevollmächtigten des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG vom 9. Juli 1986). Hierzu bedarf es genauerer medizinischer Feststellungen, die bisher nicht getroffen wurden; die bisher vorliegenden Äußerungen des Hausarztes reichen dafür nicht aus.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.BUNDESSOZIALGERICHTAz: 3/8 RK 16/86

Verkündet am 20. April 1988

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518847

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