Leitsatz (amtlich)

Die Entscheidung des Sozialgerichtes über die Zulassung oder die Nichtzulassung der Berufung nach SGG § 150 Nr 1 stellt eine das weitere Verfahren gestaltende Nebenentscheidung dar, die vom Berufungsgericht nicht auf ihre Richtigkeit hin nachgeprüft werden kann.

 

Normenkette

SGG § 150 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. Dezember 1954 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 22. Februar 1954 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Ehefrau des Beigeladenen, Frau M K, hat am 16. August 1952 entbunden. Sie war vom September 1951 bis zur Entbindung mit kurzen Unterbrechungen versicherungspflichtiges Mitglied der klagenden Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK.), und zwar insgesamt 295 Tage. Ihr Ehemann ist als Straßenbahnschaffner seit Oktober 1948 bei der beklagten Betriebskrankenkasse pflichtversichert. Anläßlich der Entbindung gewährte die Klägerin der Frau K, da diese die Wartezeit nach § 195 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht erfüllt hatte, Leistungen nach § 13 des Mutterschutzgesetzes (MuSchG). Nach Gewährung dieser Leistungen beanspruchte sie von der Beklagten Ersatz in Höhe des Familien-Wochenhilfeanspruchs nach der RVO und berechnete den Ersatzanspruch auf 150,50 DM. Da die Beklagte die Befriedigung dieses Ersatzanspruches ablehnte, erhob die AOK. Klage beim Versicherungsamt München mit dem Antrag, den Ersatzanspruch als zu Recht bestehend anzuerkennen. Im Laufe des Verfahrens erkannte die Beklagte den Ersatzanspruch hinsichtlich des Wochen- und Stillgeldes an, lehnte jedoch den weiteren Anspruch in Höhe von 53,50 DM (Hebammenhilfe, Wochenbettpackung und Entbindungskostenbeitrag) ab. Gegen die Vorentscheidung des Vorsitzenden des Versicherungsamts, der die Klage abwies, legte die Klägerin Berufung beim Oberversicherungsamt M ein. Das Sozialgericht (SG.) München, auf das die Sache nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage übergegangen war (§ 215 Abs. 2 und 4 SGG), wies die Klage durch Urteil vom 22. Februar 1954 ab: Nach der ausdrücklichen Vorschrift in § 13 Abs. 9 MuSchG könne auf die Leistungen nach den Absätzen 1 und 5 nur das nach den Bestimmungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlende Wochen- und Stillgeld angerechnet werden. Die Klägerin habe bei Gewährung der nicht anrechenbaren Leistungen eine ihr nach § 13 Abs. 6 MuSchG obliegende Verpflichtung erfüllt, so daß ein Ersatzanspruch nicht begründet sei.

Das SG. hat die Berufung nicht zugelassen und ausgeführt, daß ein Anlaß hierzu nicht bestehe, weil im Hinblick auf den klaren Wortlaut des § 13 MuSchG eine grundsätzliche Entscheidung überflüssig erscheine und das Gericht von einem Urteil des im Rechtszug übergeordneten Landessozialgerichts (LSG.) nicht abweiche.

Mit der rechtzeitig eingelegten Berufung machte die Klägerin geltend, die Entscheidung der Streitsache sei für die Regelung der Ersatzansprüche beim Zusammentreffen von Ansprüchen auf Grund des MuSchG und der RVO von grundsätzlicher Bedeutung; das SG. habe die Notwendigkeit der Zulassung der Berufung zu Unrecht verneint, deshalb müsse das LSG. die Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Rechtsstreits selbst zulassen.

Das Bayerische LSG. gab der Berufung der Klägerin statt und erklärte unter Aufhebung der Vorentscheidung des Versicherungsamts vom 28. Januar 1953 und des Urteils des SG. vom 22. Februar 1954 die Beklagte für verpflichtet, an die Klägerin 53,50 DM zu erstatten. Das Vordergericht ging davon aus, daß die vorliegende Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe, und daß das SG. die Berufung gemäß § 150 Nr. 1 SGG hätte zulassen müssen; die Unterlassung der Zulassung stelle einen wesentlichen Mangel des Verfahrens dar, der die Berufung nach § 150 Nr. 2 SGG zulässig mache. In sachlicher Hinsicht hielt das LSG. den Erstattungsanspruch der Klägerin aus dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung für begründet.

Die Beklagte hat gegen das Urteil, in dem die Revision zugelassen war, frist- und formgerecht Revision eingelegt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage aus sachlich-rechtlichen Gründen abzuweisen. Die Klägerin hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend und beantragt Zurückweisung der Revision.

II.

Die Revision ist statthaft, weil sie das LSG. zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch begründet, denn das Berufungsgericht hätte in der Sache selbst keine Entscheidung treffen dürfen.

Das Revisionsgericht hatte zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die Prozeßvoraussetzungen für das Klage- und Berufungsverfahren vorliegen (BSG. 2 S. 225).

Das LSG. ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß in dem vorliegenden Rechtsstreit die Berufung nach § 149 SGG ausgeschlossen ist, weil es sich um einen Ersatzstreit zwischen Körperschaften des öffentlichen Rechts handelt und der Beschwerdewert 300,- DM nicht übersteigt. Der Auffassung des LSG., daß die Nichtzulassung der Berufung durch das SG. entgegen § 150 Nr. 1 SGG einen wesentlichen Verfahrensmangel darstelle, der die Berufung nach § 150 Nr. 2 SGG zulässig mache, kann aber nicht beigetreten werden.

Das SGG hat die Entscheidung über die Zulassung der Berufung ausdrücklich den Sozialgerichten übertragen und im Gegensatz zu der Nichtzulassungsbeschwerde des § 53 Abs. 3 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVerwGG) eine Anfechtung der Nichtzulassung nicht vorgesehen. Das übergeordnete Gericht ist daher an die Entscheidung des Vordergerichts über die Nichtzulassung gebunden und ist nicht befugt, diese Entscheidung auf ihre Richtigkeit hin nachzuprüfen (vgl. Urteil des BSG. vom 1.3.1956 - 4 RJ 156/54 - SozR. SGG § 150 Bl. Da 4 Nr. 12 und die dort weiter angeführten Entscheidungen des BSG.). Ist aber die Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung nach dem Willen des Gesetzgebers einer Nachprüfung durch das Berufungsgericht hinsichtlich ihrer Begründetheit entzogen, so wäre es widerspruchsvoll, wenn man dem Berufungsgericht das Recht einräumen wollte, diese Entscheidung unter dem Gesichtspunkt der Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels (§ 150 Nr. 2 SGG) der Rechtskontrolle des Berufungsgerichts zu unterstellen. Hätte das Gesetz eine Nachprüfung der Zulassungsentscheidung durch das Berufungsgericht überhaupt zulassen wollen, so wäre der gegebene Weg für eine solche Rechtsgestaltung gesehen, die Zulässigkeit der Berufung allein von der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache abhängig zu machen; damit wäre dann für die Entscheidung über die Frage der grundsätzlichen Bedeutung und mithin der Zulässigkeit der Berufung - entsprechend der Regelung in § 150 Nr. 3 SGG - das Berufungsgericht zuständig gewesen. Eine solche Regelung war auch im Regierungsentwurf vorgesehen (BT-Drucksache, 1. Wahlperiode Nr. 4357, Entwurf einer Sozialgerichtsordnung § 98). Die Fassung des Gesetzes weicht aber eindeutig von der Regierungsvorlage ab, indem das Gesetz nunmehr die Zulässigkeit der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG nicht unmittelbar von der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, sondern von einer besonderen Zulassungsentscheidung der ersten Instanz abhängig gemacht hat (vgl. zur Entstehungsgeschichte Urteil des 8. Senats vom 30. August 1956 - 8 RV 307/54 -). Diese Regelung erscheint nur sinnvoll, wenn in der Zulassung der Berufung durch das SG. eine das weitere Verfahren gestaltende Nebenentscheidung gesehen wird, die als besondere Prozeßvoraussetzung des Berufungsverfahrens der Prüfung durch das Berufungsgericht grundsätzlich nur hinsichtlich ihres Vorhandenseins, nicht aber hinsichtlich ihrer Richtigkeit unterliegt.

Hat das SG. die Voraussetzungen für die Zulassung zu Unrecht verneint und deshalb die Berufung nicht zugelassen, so handelt es sich zwar um eine fehlerhafte Entscheidung - error in judicando -, nicht aber um einen Verfahrensmangel im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG - error in procedendo - (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 20. Dezember 1956 - 3 RK 22/55 -); denn wenn eine wirksame Zulassungsentscheidung vorliegt, hat das SG. dem verfahrensrechtlichen Gebot, in den Fällen des Ausschlusses der Berufung nach §§ 144 bis 149 eine Entscheidung über die Frage der Zulassung der Berufung zu treffen, entsprochen. Ob die Unterlassung einer solchen Entscheidung durch das SG. einen Verfahrensmangel im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG darstellt, kann hier dahingestellt bleiben, denn das SG. hat, wie sich aus seinem Urteil eindeutig ergibt, die Frage der Zulassung tatsächlich geprüft.

Da das LSG. die Berufung somit zu Unrecht als zulässig angesehen hat, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2290928

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