Leitsatz (amtlich)

Ein ehemaliger Schriftsetzergehilfe, der diesen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auszuüben vermag, kann auf die Verrichtung von Büroarbeiten der Vergütungsgruppe BAT VIII verwiesen werden, wenn er eine solche Tätigkeit schon seit vielen Jahren ausübt.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Juni 1962 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger begehrt eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung; streitig ist, ob er berufsunfähig ist.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hat der Kläger nach vierjähriger Lehrzeit die Gesellenprüfung als Schriftsetzer abgelegt und anschließend etwa vier Jahre als Schriftsetzergehilfe gearbeitet. Dann wurde er zum Wehrdienst eingezogen. Während dieser Zeit erlitt er im Jahre 1940 durch Unfall eine Gehirnverletzung, die zu einer Anerkennung als Kriegsbeschädigter mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. führte. Nach seiner Genesung arbeitete er zunächst von Oktober 1940 bis November 1944 wiederum bei seiner Lehrfirma. 1946 nahm er die auch noch jetzt von ihm ausgeübte Tätigkeit als Verwaltungsangestellter beim Arbeitsamt Düren auf. Er wurde und wird nach Vergütungsgruppe BAT (früher TOA) VIII bezahlt.

Im November 1957 beantragte der Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab (Bescheid vom 25. Juli 1958). Das Sozialgericht (SG) verurteilte sie, "dem Kläger ab 1. November 1957 Rente wegen Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren"; im übrigen wies es die Klage ab. Es war der Auffassung, daß die Berufsunfähigkeit Wanderversicherter getrennt nach Versicherungszweigen zu beurteilen sei, und kam zu dem Ergebnis, daß der Kläger nur in seinem arbeiterrentenversicherungspflichtigen Beruf als Schriftsetzer, nicht hingegen als Verwaltungsangestellter berufsunfähig sei, weshalb ihm die Rente allein aus der Arbeiterrentenversicherung (ArV) zu gewähren sei (Urteil vom 2. Februar 1961).

Die Berufung der Beklagten führte zur Abänderung des Urteils und Abweisung der Klage. Nach der Meinung des LSG muß sich der Kläger als gelernter Schriftsetzer mit nur kurzer Berufserfahrung auf seine jetzige Tätigkeit als Verwaltungsangestellter der Gruppe BAT VIII verweisen lassen. Die in BAT VIII aufgezählten Tätigkeiten entsprächen in der sozialen Wertung der eines jungen Facharbeiters. Auch finanziell seien beide Gruppen gleichgestellt. Der Kläger sei ferner durch diese Tätigkeit weder gesundheitlich noch geistig überfordert (Urteil vom 28. Juni 1962).

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision beantragte der Kläger,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Er meint, das LSG habe nicht ausreichend berücksichtigt, daß er, der Kläger, seine derzeitige Stellung allein dem Schwerbeschädigtengesetz verdanke. Die von ihm ausgeübte Tätigkeit müsse vorwiegend als eine Art Arbeitstherapie angesehen werden. Im übrigen sei die Verweisung eines qualifizierten Facharbeiters auf primitivste Büroarbeiten nicht zumutbar.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, daß der Kläger in seiner derzeitigen Tätigkeit nicht überfordert sei und daß er einen entsprechenden Arbeitsplatz heute auch ohne den Schutz des Schwerbeschädigtengesetzes erhalten würde.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet; die Auffassung des LSG, der Kläger sei noch nicht berufsunfähig und habe deshalb keinen Anspruch auf die von ihm begehrte Rente, ist nicht zu beanstanden.

Der Kläger ist Wanderversicherter der ArV und der Angestelltenversicherung (AnV). Nach § 1310 Abs. 1 RVO (= § 89 Abs. 1 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -) gilt der Rentenantrag für alle beteiligten Versicherungszweige, es sei denn, daß er ausdrücklich auf einzelne Versicherungszweige beschränkt wird. Der Kläger hat zwar bei der Beantragung der Rente keine derartige Einschränkung gemacht. Er hat jedoch das Urteil des SG, das ihm eine Leistung - ob zu Recht oder zu Unrecht sei hier dahingestellt - nur aus der Rentenversicherung der Arbeiter zusprach, nicht angefochten; er hat wegen der Versagung der Leistung aus der AnV auch keine Anschlußberufung gegen das Urteil eingelegt, dieses vielmehr hingenommen. Das Berufungsgericht geht deshalb zutreffend davon aus, daß über den Anspruch des Klägers auf Leistungen (Leistungsanteile) aus der AnV nicht mehr zu entscheiden sei. Damit stimmt auch überein, daß der Kläger mit der Revision gegen das den Rentenanspruch gänzlich ablehnende Urteil des LSG nur die Wiederherstellung des sozialgerichtlichen Urteils begehrt.

Wenn auch demnach das Klage- und Revisionsbegehren so anzusehen ist, als hätte der Kläger den Rentenantrag auf Leistungen aus der ArV beschränkt, so folgt daraus doch nicht, daß auch die Frage seiner Berufsfähigkeit nur nach dem in der ArV versicherten Beruf zu beurteilen ist. Ein Wanderversicherter der ArV und der AnV, der den Leistungsantrag auf den Versicherungszweig der ArV beschränkt hat, bleibt Wanderversicherter. Deshalb richtet sich auch seine etwaige Berufsunfähigkeit nicht allein nach dem in der ArV ausgeübten Beruf; sie muß vielmehr in der Regel einheitlich nach dem gesamten Berufsleben des Versicherten beurteilt werden (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 24. März 1965 - SozR § 1246 RVO Nr. 48). Beim Kläger bedeutet dies, daß sowohl seine Beschäftigung als Schriftsetzergehilfe als auch diejenige als Verwaltungsangestellter zu berücksichtigen sind, um beurteilen zu können, welche Beschäftigung als bisheriger Beruf im Sinne des § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG anzusehen ist (vgl. BSG, Urteil des 11. Senats vom 16. September 1965 - 11/1 RA 328/62). Allerdings sind hier gewisse Einschränkungen zu machen. Falls der Kläger sich von dem früheren Beruf als Schriftsetzergehilfe endgültig gelöst hätte (BSG 16, 34), wäre die Angestelltentätigkeit die für die Beurteilung seiner Berufsfähigkeit maßgebende bisherige Berufstätigkeit. Dagegen wäre, wenn er den ursprünglichen Beruf als Schriftsetzergehilfe aus gesundheitlichen Gründen - gezwungenermaßen - aufgegeben hätte (vgl. BSG 2, 182, 187), dieser Beruf wohl auch weiterhin noch als der bisherige Beruf anzusehen. Das LSG hat hierzu keine Feststellungen getroffen. Es hat offengelassen, ob der Kläger noch die Kräfte und Fähigkeiten zur Ausübung des Schriftsetzerberufs besitzt; es hat auch nicht geklärt, weshalb der Kläger seinerzeit einen anderen Beruf ergriffen hat. Auch der Senat kann diese Frage offenlassen; denn selbst wenn bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers - wie er meint - allein von dem früheren Schriftsetzerberuf als dem bisherigen Beruf auszugehen wäre, könnte die Revision keinen Erfolg haben, weil der Kläger dann auf die Tätigkeiten in dem von ihm seit 1946 ausgeübten Beruf eines Verwaltungsangestellten verwiesen werden kann. Diese Verweisung ist nach den von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen gerechtfertigt (vgl. BSG 9, 254).

Nach den §§ 1246 Abs. 2 RVO, 23 Abs. 2 AVG umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zu diesen Tätigkeiten hat das LSG mit Recht die nach der Vergütungsgruppe VIII BAT bezahlten Büroarbeiten gerechnet, wie sie der Kläger schon seit Jahren beim Arbeitsamt verrichtet; es hat auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme festgestellt, daß der Kläger durch solche Arbeiten weder gesundheitlich noch wissens- oder könnensmäßig überfordert werde. Diese Feststellung liegt im wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet. Der Einwand des Klägers, dem LSG hätte sich im Hinblick auf den Inhalt einer Auskunft des Arbeitgebers aufdrängen müssen, die "Rechtsfrage", ob der Kläger seine Stellung allein dem Schwerbeschädigtengesetz verdanke, im besonderen Maße zu prüfen, ist unberechtigt. Abgesehen davon, daß das LSG in den Gründen seiner Entscheidung die fragliche Auskunft des Arbeitgebers als durch ein Schreiben des Personalrats und eine Stellungnahme des Arbeitsamtsarztes als widerlegt angesehen hat, übersieht der Kläger, daß es bei der Verweisung auch eines Schwerbeschädigten entscheidend darauf ankommt, ob er die Tätigkeit, auf die er verwiesen wird, im wesentlichen auszufüllen vermag und daß entsprechende Arbeitsplätze auch tatsächlich vorhanden sind (vgl. BSG 16, 18). Diese beiden Voraussetzungen sind beim Kläger erfüllt; denn er kann noch die erwähnten Tätigkeiten der Vergütungsgruppe VIII BAT ausüben, ohne überfordert zu sein; auch entsprechende Arbeitsplätze sind bei den Verwaltungen in hinreichender Zahl vorhanden. Daran ändert auch nichts, wenn er seinen gegenwärtigen Arbeitsplatz vorwiegend Gründen einer Arbeitstherapie zu verdanken hätte.

Schließlich kann dem Kläger die Verrichtung der Büroarbeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen, auch zugemutet werden. Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger eine mehrjährige Berufsausbildung als Schriftsetzer aufzuweisen hat, die ihm mögliche Bürotätigkeit als Verwaltungsangestellter dagegen eine bestimmte Berufsausbildung nicht voraussetzt. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat (vgl. BSG 9, 254), können neben den im Gesetz zwingend vorgeschriebenen Merkmalen (wie z. B. Dauer und Umfang der Ausbildung) im Einzelfall auch noch sonstige Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Dazu gehört hier, daß die Vergütungsgruppe VIII BAT u. a. auch Handwerksmeister an kleineren Arbeitsstätten mit geringerer Verantwortung und Meister mit mehrjähriger Tätigkeit als Handwerker oder Facharbeiter, die eine angestelltenversicherungspflichtige Tätigkeit auf handwerklichem Gebiet ausüben, umfaßt. Wenn auch nach den Feststellungen des LSG der Kläger keine handwerkliche Tätigkeit, sondern Büroarbeiten einfacherer Art verrichtet, so ändert das doch nichts daran, daß jedenfalls die in Vergütungsgruppe VIII BAT zusammengefaßten Tätigkeiten in ihrer Gesamtheit dem früher vom Kläger ausgeübten Beruf als Schriftsetzergehilfe in der sozialen Wertung nicht nachstehen. Hierfür spricht ferner - wenn auch die einkommensmäßige Einstufung für sich allein noch nicht zu einem Rückschluß auf Art, Bedeutung und Wertung der Tätigkeit zwingt -, daß nach den Feststellungen des LSG ein Schriftsetzergehilfe und ein Angestellter der Vergütungsgruppe VIII BAT ein annähernd gleiches Einkommen haben. Hierbei haben etwa möglich gewesene Aufstiegschancen des Klägers als Schriftsetzer außer Betracht zu bleiben, weil von dem zuletzt ausgeübten Beruf als Schriftsetzergehilfe auszugehen ist. Der Zumutbarkeit der Verweisung steht auch das Urteil des 11. Senats vom 16. September 1965 (11/1 RA 328/62) nicht entgegen; denn in jenem Streitfall erschien die Verweisung auf den einfachen Postdienst (als Postschaffner) vor allem deshalb unzumutbar, weil sie mit dem Umfang und der Dauer der Ausbildung des Klägers (nach zweijähriger Lehrzeit viersemestriges Studium an einer höheren Fachschule für die Textilindustrie mit staatlicher Abschlußprüfung als Textilingenieur und anschließend mehr als einjähriger Tätigkeit als Betriebsassistent einer Weberei) nicht zu vereinbaren sei. Der vorliegende Fall unterscheidet sich von jenem nicht nur dadurch, daß der Kläger in jenem Fall eine erheblich eingehendere Ausbildung genossen hatte, sondern auch darin, daß hier aus den dargelegten Gesichtspunkten von einem wesentlichen sozialen Abstieg des Klägers nicht die Rede sein kann. Auch der Umstand, daß der Kläger nach den Feststellungen des LSG nur eine beschränkte Anzahl der nach Vergütungsgruppe VIII BAT entlohnten Büroarbeiten - wie z. B. die Bearbeitung laufender oder gleichartiger Geschäfte nach Anleitung oder ständig wiederkehrende Geschäfte in Anlehnung an ähnliche Vorgänge - verrichten kann, steht dem nicht entgegen, weil die soziale Wertung der Tätigkeit davon nicht entscheidend berührt wird. Die Verweisung auf diese Arbeiten ist ihm deshalb - nicht zuletzt im Hinblick auf ihre fast zwanzigjährige Ausübung - zuzumuten.

Die Revision des Klägers kann somit keinen Erfolg haben; sie ist deshalb nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 97

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