Orientierungssatz

Zur Frage der zumutbaren Verweisungstätigkeiten eines Gerüstbauvorarbeiters.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 21.01.1976; Aktenzeichen L 6 J 18/74)

SG Berlin (Entscheidung vom 11.01.1974; Aktenzeichen S 21 J 65/73)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 21. Januar 1976 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger beansprucht Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er ist 1922 geboren, war bis 1953 in der elterlichen Landwirtschaft und anschließend bis 1970 als Gerüstbauer (Rüster) tätig. Nach einem häuslichen Unfall, bei dem er sich den linken Oberarmkopf brach, erhielt er von der Beklagten bis März 1972 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Seinen neuen Rentenantrag vom September 1972 lehnte die Beklagte ab, weil er weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig sei (Bescheid vom 20. November 1972). Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 11. Januar 1974).

Auf seine Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte zur Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente seit Oktober 1972 verurteilt, nachdem das LSG Auskünfte des letzten Arbeitgebers, ferner der Fachgemeinschaft Bau von G und der Industrie- und Handelskammer zu B eingeholt und den Kläger fachärztlich hatte untersuchen lassen: Nach dem Gutachten des Chirurgen Dr. D könne er zwar noch mittelschwere Arbeiten ganztägig verrichten, jedoch nicht mehr als Rüstervorarbeiter, als der er seit 1961 eingesetzt gewesen sei, arbeiten. Soweit er andere Tätigkeiten gesundheitlich noch ausüben könne, sei er auf sie nicht verweisbar, weil seine Tätigkeit als Gerüstbauvorarbeiter nach einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) der eines Facharbeiters gleichwertig sei (BSGE 33, 231) und es sich bei den anderen Tätigkeiten ausschließlich um solche handele, die keine besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten verlangten und die sich auch nicht durch besondere Anforderungen von den reinen Hilfsarbeitertätigkeiten unterschieden. Bei einer Tätigkeit als Magaziner könnte er seine erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten als Rüstervorarbeiter nicht verwerten. Ähnliches gelte für eine Beschäftigung in der Landwirtschaft; die von ihm insoweit erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten könne er, da er seit 1953 nicht mehr als Landwirt tätig gewesen sei, nicht mehr nutzen. Eine Umschulung komme für ihn nicht in Betracht (Urteil vom 21. Januar 1976).

Die Beklagte hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie macht geltend, der Kläger könne zumutbar auch auf Tätigkeiten außerhalb seiner Berufsgruppe verwiesen werden; nach seiner Persönlichkeit gehöre er zu einem Personenkreis, dem ohne weiteres hervorgehobene Tätigkeiten zuzumuten seien. Wenn das LSG insoweit unterlassen habe, die Arbeitswelt zu erforschen, habe es gegen §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen,

hilfsweise den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet, ohne daß der Senat den Rechtsstreit schon abschließend entscheiden kann.

Das LSG ist bei der Abgrenzung der für den Kläger in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten (§ 1246 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) zutreffend von dem zuletzt vom Kläger ausgeübten Beruf eines Gerüstbauers, und zwar von der Tätigkeit als Gerüstbauvorarbeiter, ausgegangen. Entgegen seiner Ansicht kann der Kläger jedoch nicht ohne nähere Prüfung seiner Tätigkeitsmerkmale einem Gerüstbauvorarbeiter, dessen Berufsfähigkeit der 5. Senat des BSG in der vom LSG angeführten Entscheidung vom 25. November 1971 (BSGE 33, 231) zu beurteilen hatte, gleichgestellt werden. In jenem Falle hatte der Versicherte als Vorarbeiter andere Beschäftigte mit einer Mindestberufserfahrung von zwei Jahren beaufsichtigt und dafür nach den damals getroffenen Feststellungen über die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Gerüstbauers hinaus zusätzliche (in der genannten Entscheidung im einzelnen angeführte) Kenntnisse und Fähigkeiten benötigt, die erst in einer Zeit von weiteren zwei Jahren zu erwerben waren, so daß die gesamte Berufsentwicklung bis zum Vorarbeiter vier Jahre betragen hätte. Im vorliegenden Fall benötigte der Kläger nach der Auskunft seines Arbeitgebers als Vorarbeiter keine besonderen Kenntnisse, die über die von einem Gerüstbauer zu fordernden hinausgehen und nach zweijähriger Berufserfahrung vorhanden zu sein pflegen. Die Fachgemeinschaft Bau hat in ihrer Auskunft sogar nur eine Anlernzeit von etwa einem Jahr angegeben (ebenso Molle, Wörterbuch der Berufs- und Berufstätigkeitsbezeichnungen, 1975, S 657 unter: Rüster in Rüstkolonnen: nach einjähriger betrieblicher Einarbeitungszeit in Rüstkolonnen tätige Bauhilfskraft). Bei dieser Sachlage hätte das LSG - jedenfalls nicht ohne weitere Ermittlungen über die Merkmale der vom Kläger seit 1961 ausgeübten Tätigkeit eines "Vorarbeiters" - davon ausgehen dürfen, daß der Kläger nach seinem bisherigen Beruf einem Facharbeiter gleichzustellen sei, obwohl der Beruf eines Gerüstbauers nicht zu den anerkannten Ausbildungsberufen gehört (vgl die Bekanntmachung des Verzeichnisses der anerkannten Ausbildungsberufe vom 10. Juli 1977, Beilage zum Bundesanzeiger Nr 178 vom 22. September 1977).

Um den Kläger einem Facharbeiter gleichzustellen, genügt auch der Hinweis in der Auskunft der Industrie- und Handelskammer nicht, "der Rüster sei im Bauwesen eine hochqualifizierte Fachkraft und werde in den einschlägigen Tarifen als Baufachwerker geführt". Offenbar gibt es, wie schon die unterschiedlichen Angaben über die benötigte Anlernzeit zeigen, unter der Sammelbezeichnung eines Gerüstbauers verschieden hoch zu qualifizierende Tätigkeiten (vgl die vom Statistischen Bundesamt herausgegebene Klassifizierung der Berufe, Ausgabe 1975, wo zur Kennziffer 453 14 verschiedene Tätigkeitsformen des Gerüstbauers genannt sind). Ob die vom Kläger bis 1970 ausgeübte Tätigkeit so hoch zu bewerten ist, daß sie der eines Facharbeiters gleichsteht - wobei allerdings die tarifliche Einstufung ein gewichtiges Indiz sein kann (vgl BSGE 41, 129, 134) -, bedarf noch weiterer Ermittlungen.

Selbst wenn sich hiernach ergeben sollte, daß die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit der eines Facharbeiters gleichwertig war, ist nach dem bisherigen Verfahrensstand die Folgerung des LSG nicht gerechtfertigt, unter den dem Kläger gesundheitlich noch möglichen Tätigkeiten gebe es keine ihm zumutbaren. Insoweit durfte das LSG - wegen der schon dargelegten Unterschiede in den beruflichen Anforderungen, die an den Kläger und die an den in der früheren Entscheidung des BSG beurteilten Versicherten gestellt wurden - die früheren Ausführungen des BSG zur Frage der Berufsunfähigkeit eines Gerüstbauvorarbeiters nicht ohne weiteres übernehmen; vielmehr hätte es eigene Ermittlungen über die dem Kläger gesundheitlich noch möglichen und beruflich zumutbaren Verweisungstätigkeiten anstellen müssen. Wenn es den Kläger auf den (als Beispiel angeführten) Beruf eines "Magaziners" nicht für verweisbar gehalten hat, weil er dabei seine als Rüstervorarbeiter erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht verwerten könnte, so hat das LSG verkannt, daß der Verweisungsrahmen des § 1246 Abs 2 RVO sich nicht auf Tätigkeiten beschränkt, bei denen früher erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten verwertet werden können. Auch ohne eine Umschulung, die für den Kläger nicht mehr in Betracht kommen soll, müßte er sich auch noch auf für ihn neue Tätigkeiten umstellen, die seinem körperlichen Leistungsvermögen und der - durch den Berufswechsel von der Landwirtschaft zum Rüstgewerbe und den späteren Aufstieg zum Vorarbeiter gezeigten - geistigen Beweglichkeit entsprechen und sich aus dem Kreis der einfachen ungelernten Tätigkeit durch besondere berufliche Anforderungen deutlich herausheben (vgl SozR RVO § 1246 Nr 103, 104, 107), was jedenfalls für solche Tätigkeiten zutrifft, die tariflich wie Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl BSGE 41, 129, 136). Welche Tätigkeiten dabei im einzelnen in Betracht kommen, wird das LSG unter Berücksichtigung der von der Beklagten gegebenen und noch zu ergänzenden Hinweise zu prüfen haben. Zur Nachholung dieser Ermittlungen hat der Senat den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen. Es wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651473

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