Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiederholter Zugunstenbescheid. neuer Zugunstenbescheid nach rechtskräftigem Urteil

 

Orientierungssatz

1. Die Verwaltung muß gegebenenfalls selbst dann einen neuen Zugunstenbescheid erteilen, wenn sie zuvor schon einmal oder gar wiederholt abgelehnt hat, einen Zugunstenbescheid zu erteilen und dies durch rechtskräftige Gerichtsurteile als rechtmäßig bestätigt worden ist (vgl BSG 1981-01-28 9 RV 29/80 = SozR 3900 § 400 Nr 15).

2. Rechtskräftige Urteile binden die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (§ 141 Abs 1 SGG). Diese Bindungs- und Rechtskraftwirkung ist Ausdruck des Gebots der Rechtssicherheit. Dieses Gebot ist gleichrangig mit dem Postulat der materiellen Gerechtigkeit. Beide Gebote geraten dann in Widerstreit, wenn sich nachträglich herausstellt, daß die ergangene Verwaltungsentscheidung von Anfang an, dh zum Zeitpunkt ihres Erlasses mit dem seinerzeit geltenden Recht nicht übereinstimmte. Zur Lösung dieses Konflikts eröffnet § 40 KOVVfG der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit, eine Korrektur vorzunehmen (vgl BSG 1980-01-30 9 RV 40/79 = SozR 1500 § 78 Nr 16).

3. § 44 SGB 10 und § 40 KOVVfG stimmen insoweit überein, als dem Berechtigten ein neuer Bescheid zu erteilen ist, wenn die rechtsverbindlich gewordene Regelung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unrichtig war und nicht der materiellen Rechtslage entsprach.

 

Normenkette

SGB 10 § 44; KOVVfG § 40; SGG § 141 Abs 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 14.01.1981; Aktenzeichen L 11 V 126/78)

SG Aachen (Entscheidung vom 05.06.1978; Aktenzeichen S 18 V 127/77)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt im fünften Zugunstenverfahren eine Versorgungsrente.

Von 1947 bis 1962 bezog der Kläger eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 % wegen der Schädigungsfolgen "geringer Myocardschaden, orthostatische Kollapsneigung, periphere Kreislaufregulationsstörung". Mit Bescheid vom 9. Oktober 1962 wurde die Rente wieder entzogen, weil Schädigungsfolgen nicht mehr vorlägen. Nach Ausschöpfung des Rechtsweges wurde dieser Bescheid bestandskräftig.

In dem im Februar 1964 begonnenen Zugunstenverfahren machte der Kläger als Schädigungsfolgen geltend: "Coronarsklerose, Herzmuskelerkrankung, Herzklappenfehler, Angioneuropathie, Nervenwurzelreizsyndrom im Bereich des Ischiasnervs mit orthostatischen Hirndurchblutungsstörungen, psychische Erkrankungen des vegetativen Nervensystems bzw organische Hirnerkrankung, Schwerhörigkeit rechts, Schwachsichtigkeit links, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Stauungsbronchitis infolge Herzmuskelerkrankung, Leberzirrhose, Gallensteine, große Hinterwandkaskade (Magenleiden) und entzündliche Schleimhautveränderungen im Magen". In dem sich an den ablehnenden Bescheid anschließenden Gerichtsverfahren holte das Landessozialgericht (LSG) von Dr B ein Gutachten ein. Der Sachverständige meinte, im Vordergrund stehe eine vegetative Dystonie, deren multiple, uncharakteristische Beschwerden überbewertet würden; außerdem bestünden eine Cholelithiasis mit periduodenitischen Verziehungen sowie eine hyperazide Gastritis und ein leichter Myocardschaden. Eine Verursachung durch Einflüsse des Kriegsdienstes hielt der Sachverständige nicht für wahrscheinlich. Er schätzte die schädigungsbedingte MdE auf weniger als 20 %. Das LSG wies daraufhin die Berufung zurück, die Revision wurde als unzulässig verworfen.

Weitere Zugunstenanträge des Klägers von 1970, 1971 und 1973 blieben erfolglos.

Im November 1976 stellte der Kläger abermals den Antrag auf Gewährung von Versorgungsbezügen, und zwar von 1947 an. Zu dieser Zeit befand er sich in psychiatrischer Behandlung und bat um Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens zur Klärung der Frage, ob ein Zusammenhang seiner jetzigen Krankheit mit den früher anerkannten Schädigungsfolgen bestehe. Aus dem vom Versorgungsamt beigezogenen Entlassungsbericht ergab sich folgende Diagnose: Akute Exacerbation einer seit langem bestehenden chronisch verlaufenden Schizophrenie.

Nach Ablehnung seines Begehrens durch Bescheid vom 5. Mai 1977 und Widerspruchsbescheid vom 3. August 1977 erhob der Kläger Klage und machte geltend, die bei ihm festgestellte psychische Erkrankung sei Schädigungsfolge. Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten von Dr A eingeholt, der zu dem Ergebnis kam, daß der Kläger an einer Kernneurose mit Herzbeschwerden leide und ein Zusammenhang mit dem Kriegsdienst bzw der Gefangenschaft wahrscheinlich sei. In ergänzenden Stellungnahmen führte der Sachverständige jedoch aus, daß die beim Kläger eingetretene neurotische Fehlentwicklung aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur auch infolge sonstiger, etwa beruflicher oder familiärer Belastungen eingetreten wäre. Der Krieg sei insoweit nur auslösender Faktor gewesen.

Das SG hat die Klage abgewiesen und ausgeführt, es sei zwar wahrscheinlich, daß auch schon früher beim Kläger nicht nur eine vegetative Dystonie oder bewußtseinsnahe Simulation vorgelegen habe, sondern eine nicht mehr zu kontrollierende Kernneurose mit herzbezogenen Beschwerden. Dennoch seien die früheren Bescheide im Ergebnis nicht unrichtig, weil die Neurose nicht mit Wahrscheinlichkeit auf Kriegsereignisse zurückgeführt werden könne.

Die Berufung hat der Kläger insbesondere auf das schriftliche Gutachten des Dr A gestützt und außerdem geltend gemacht, daß er an einem organischen Hirnschaden leide.

Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und dazu ausgeführt, das SG hätte die Klage als unzulässig abweisen müssen, weil über denselben tatsächlichen und rechtlichen Sachverhalt mehrfach rechtskräftig entschieden worden sei. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er vertritt die Meinung, die Rechtskraft einer im Zugunstenverfahren ergangenen Entscheidung könne nicht einer erneuten gerichtlichen Sachentscheidung in einem weiteren, dieselbe Sach- und Rechtslage betreffenden Zugunstenverfahren im Wege stehen.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen und die angefochtenen

Bescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen,

wegen einer psychischen Erkrankung rückwirkend ab 1. August

1947 Versorgungsrente nach einer MdE um 100 vH,

Berufsschadensausgleich, Pflegezulage und

Schwerstbehindertenzulage zu gewähren,

ferner dem Kläger Prozeßkostenhilfe zu gewähren

und Rechtsanwalt Dr C beizuordnen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist zurückzuweisen. Zwar ergeben die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils eine Gesetzesverletzung, die Entscheidung stellt sich jedoch im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig dar (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).

Das LSG hat mit Recht die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Indes hätte es nicht die Klage als unzulässig beurteilen dürfen, sondern ebenso wie das SG hätte es aufgrund einer Sachprüfung entscheiden müssen. Dies hat die Revision mit Recht beanstandet. Gleichwohl kann das Revisionsgericht aufgrund von ausreichenden Feststellungen im Berufungsurteil, an die das Bundessozialgericht (BSG) mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen (§ 163 SGG) gebunden ist, über die Sache befinden.

Der Kläger begehrt in diesem Verfahren, daß eine Kernneurose mit Herzbeschwerden bzw eine Schizophrenie oder ein organischer Hirnschaden als Schädigungsfolgen erkannt und ihm entsprechende Versorgungsleistungen gewährt werden. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, daß es sich hierbei um ein Zugunstenverfahren handelt, weil der Kläger Versorgungsleistungen für diesen Zustand bereits von 1947 an beantragt hat.

Es kann dahinstehen, ob es sich bei diesem Verfahren - wie das LSG annimmt - in sachlicher und rechtlicher Hinsicht um denselben Streitgegenstand handelt, wie er schon in den vorhergegangenen Verfahren den Gerichten vorgelegen hat. Unabhängig davon sind die Gerichte nämlich verpflichtet, in der Sache selbst zu entscheiden; ein rechtskräftiges Urteil würde trotz der Bindungswirkung nach § 141 Abs 1 SGG dem nicht entgegenstehen.

Die Klage ist nicht etwa deshalb unzulässig, weil bereits über dasselbe Sachbegehren ablehnend mit Rechtskraftwirkung entschieden worden ist (vgl BSG 9 RV 29/80 Urteil vom 28. Januar 1981). Diese Urteile binden zwar die Beteiligten nach § 141 Abs 1 SGG, soweit über den Streitgegenstand befunden worden ist. Das schließt aber eine neue Sachprüfung nach § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) oder § 44 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) nicht aus. Der gegenteiligen Meinung des LSG vermag der Senat nicht zuzustimmen. Der Senat hat bereits in den beiden vom LSG zur Rechtskraftwirkung zitierten Urteilen ausgeführt, daß gegebenenfalls "der Beklagte einen neuen Zugunstenbescheid nach § 40 KOVVfG erteilen müßte, was auch nach Gerichtsurteilen zulässig wäre" (BSG 9 RV 46/78 Urteil vom 19. September 1979). Rechtskräftige Urteile binden die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (§ 141 Abs 1 SGG). Diese Bindungs- und Rechtskraftwirkung ist Ausdruck des Gebots der Rechtssicherheit. Dieses Gebot ist gleichrangig mit dem Postulat der materiellen Gerechtigkeit. Beide Gebote geraten dann in Widerstreit, wenn sich nachträglich herausstellt, daß die ergangene Verwaltungsentscheidung von Anfang an, dh zum Zeitpunkt ihres Erlasses mit dem seinerzeit geltenden Recht nicht übereinstimmte. Zur Lösung dieses Konflikts eröffnet § 40 KOVVfG der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit, eine Korrektur vorzunehmen (9 RV 40/79 vom 30. Januar 1980 = SozR 1500 § 78 Nr 16).

Im Anschluß an diese Urteile hat der Senat in dem Urteil vom 28. Januar 1981 (9 RV 29/80, SozR 3900 § 40 Nr 15) ausgesprochen, daß sich an dieser Rechtslage nichts dadurch ändert, daß zuvor schon einmal oder gar wiederholt die Verwaltung abgelehnt hat, einen Zugunstenbescheid zu erteilen und dies durch rechtskräftige Gerichtsurteile als rechtmäßig bestätigt worden ist. An dieser Rechtsprechung wird festgehalten.

Der Senat kann jedoch in der Sache entscheiden und die Revision zurückweisen. Das angefochtene Urteil enthält genügend Feststellungen, um das Begehren des Klägers sachlich zu überprüfen. Dabei kann es dahinstehen, ob diese Überprüfung nach § 40 KOVVfG oder nach § 44 SGB 10 zu erfolgen hat (vgl dazu BSG 9 RV 29/80 vom 28. Januar 1981 und 9 RV 39/80 vom 5. März 1981). Denn beide Vorschriften stimmen insoweit überein, als dem Berechtigten ein neuer Bescheid zu erteilen ist, wenn die rechtsverbindlich gewordene Regelung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unrichtig war und nicht der materiellen Rechtslage entsprach. Dem Kläger steht aber die Versorgung trotz der nunmehr als Schizophrenie oder Kernneurose mit Herzbeschwerden bezeichneten Leiden nicht zu. Unabhängig davon, ob sich nunmehr bei unverändertem Befund lediglich die Leidensbezeichnung geändert hat oder ob sich der früher bestehende Zustand weiterentwickelt hat oder ob er mit neuen Erscheinungsformen erkennbar geworden ist, ist dieses Zustandsbild nicht ursächlich auf Krieg oder Kriegsgefangenschaft zurückzuführen. Diese Feststellung hat das LSG unwidersprochen ebenso wie schon das SG getroffen. Daran ist das BSG gebunden (§ 163 SGG), selbst wenn sich inzwischen andere Erkenntnisse ergeben haben sollten.

Dem Antrag auf Prozeßkostenhilfe war nicht zu entsprechen, weil keine hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung bestand.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652142

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