Entscheidungsstichwort (Thema)

Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes. Entbehrlichkeit des Vorverfahrens

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bescheide gemäß KOVVfG § 40 Abs 1 enthalten Ermessensentscheidungen; sie sind vor Klageerhebung im Vorverfahren nachzuprüfen.

2. Zum Erlaß eines Zwischenurteils, wenn eine Behörde sich weigert, ein gesetzlich vorgeschriebenes Vorverfahren während des Prozesses nachzuholen.

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage des Widerstreits zwischen der Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes und dem Postulat der materiellen Gerechtigkeit.

2. Zur Entbehrlichkeit eines vorgeschriebenen Vorverfahrens, wenn ein mit Sachargumenten begründeter Klageabweisungsantrag der Verwaltung vorliegt.

 

Normenkette

SGG § 78 Abs 1 Fassung: 1974-07-30, § 78 Abs 2 Fassung: 1974-07-30, § 202 Fassung: 1953-09-03; KOVVfG § 40 Abs 1 Fassung: 1960-06-27; ZPO § 303 Fassung: 1950-09-12

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 21.05.1979; Aktenzeichen L 11 V 34/79)

SG Konstanz (Entscheidung vom 15.12.1978; Aktenzeichen S 6 V 914/78)

 

Tatbestand

I.

Der Kläger hatte sich während des Krieges wegen Diphtherie und dadurch verursachte Lähmungen in Lazarettbehandlungen befunden. Den 1950 gestellten Versorgungsantrag lehnte die Versorgungsverwaltung nach medizinischer Begutachtung mit Bescheid vom 29. September 1952 ab: Die Lungentuberkulose sei durch eine im Jahre 1947 akut aufgetretene Rippenfellentzündung verursacht; Folgen diphtherischer Lähmungen bestünden nicht. Der 1959 erneut gestellte Antrag verfiel unter Berufung auf die Rechtsverbindlichkeit der ergangenen Verwaltungsentscheidungen der Ablehnung. Der nurmehr auf die Folgen einer Diphtherie mit Lähmungen beschränkte Widerspruch wurde zurückgewiesen. Das dagegen anhängige Klageverfahren bzw Berufungsverfahren blieb erfolglos.

Einen weiteren Versorgungsantrag vom Juli 1978, Lähmungen an beiden Beinen, Kreislaufschwäche sowie Herzerkrankung und Lungenerkrankung als Schädigungsfolge anzuerkennen, blieb der Erfolg versagt. Das Versorgungsamt berief sich bei seiner ablehnenden Entscheidung vom 9. August 1978 auf die Bindungswirkung der bisher ergangenen Verwaltungsbescheide sowie auf die Rechtskraft der Urteile des Sozialgerichts (SG) Stuttgart bzw Landessozialgerichts (LSG) Stuttgart vom 28. Juni 1961 und 8. August 1963. Nach der dem angefochtenen Bescheid beigegebenen Rechtsmittelbelehrung wurden wahlweise Widerspruch oder Klage für zulässig erklärt.

Das SG wies die Klage als zur Zeit unzulässig ab und verurteilte den Beklagten, einen Widerspruchsbescheid zu erlassen. Das LSG wies den Hauptantrag des Klägers, als Schädigungsfolgen "Lähmungen an beiden Beinen, Kreislaufschwäche und Erkrankungen an Herz und Lunge" anzuerkennen und ab Antragstellung Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH zu gewähren, in gleicher Weise wie die Berufung des Beklagten als unbegründet zurück.

Es entsprach jedoch dem Hilfsantrag und verurteilte den Beklagten, die Klage als Widerspruch zu behandeln, das Widerspruchsverfahren durchzuführen und dieses mit einem über den Widerspruch sachlich entscheidenden Verwaltungsakt abzuschließen. Das LSG führt aus, die Klage sei mangels Vorverfahrens unzulässig. Entgegen der Meinung des Beklagten seien nicht nur solche Verwaltungsakte vorverfahrenspflichtig, die eine Ermessensleistung zum Gegenstand hätten, sondern alle Verwaltungsakte, die eine Ermessensentscheidung erfordern. Dabei genüge es, wenn die Verwaltungsbehörde, wie der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinen Urteilen vom 14. Dezember 1978 - 2 RU 33/77 und 2 R U 41/77 - entschieden habe, in irgendeiner Form ihr Ermessen ausgeübt habe. Ein auf § 40 Abs 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes in der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) gestützter Verwaltungsbescheid sei eine Ermessensentscheidung in diesem Sinne. Wegen der Einheitlichkeit des Versorgungsanspruches bedürfe es auch im Hinblick auf die neu geltend gemachten Gesundheitsstörungen eines Vorverfahrens.

Der Beklagte hat die wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassene Revision eingelegt. Er meint, unabhängig davon, ob ein positiver oder negativer Zugunstenbescheid erlassen werde, sei ein Vorverfahren entbehrlich. Die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit eines Rechtsbehelfs richte sich nach der Anspruchsgrundlage der im Bescheid behandelten Leistung und nicht nach der Art (Rechtsgrundlage) des Bescheides. Der Kläger verlange mit seinem Zugunstenantrag Leistungen, auf die im Falle der Anerkennung ein Rechtsanspruch bestünde.

Der Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil des LSG abzuändern, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zurückzuverweisen ist.

Das LSG ist in Anlehnung an die Entscheidung des 2. Senats des BSG vom 14. Dezember 1978 (BSG SozR 1500 § 78 Nr 15) zutreffend davon ausgegangen, daß ohne Durchführung des in § 78 Abs 1 SGG gesetzlich vorgeschriebenen Vorverfahrens ein Sachurteil nicht ergehen dürfte. Die der genannten Gesetzesvorschrift (in der hierzu anzuwendenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30.7.1974 - BGBl I 1625 -) vom Beklagten gegebene Auslegung, bei stattgebenden und ablehnenden Zugunstenbescheiden könne unmittelbar - also ohne Vorverfahren - Klage erhoben werden, weil es auf die Anspruchsgrundlage der im Bescheid behandelten Leistung und nicht auf die Art (Rechtsgrundlage) des Bescheides ankomme, geht fehl. Der Beklagte verkennt, daß die Bindungswirkung des Erstbescheides einer weiteren Verwaltungsentscheidung auf der Basis desselben Streitgegenstandes grundsätzlich entgegensteht. Vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes am 1. Januar 1975 waren alle Verwaltungsakte in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung (KOV) nach § 80 Nr 1 SGG aF vor Erhebung der Klage in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Diese Vorschrift hat das Änderungsgesetz beseitigt. Nunmehr unterliegen Verwaltungsakte im Bereich der KOV der Regelung des § 78 SGG. Nach dessen Absatz 2 Satz 1 ist die Anfechtungsklage ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Eine solche Wahlmöglichkeit zwischen Widerspruch und Klage ist jedoch bei Verwaltungsakten, die ein Ermessen zum Gegenstand haben, ausgeschlossen. So hatte schon nach § 79 Nr 1 SGG in der bis zum Inkrafttreten des Änderungsgesetzes geltenden Fassung in Angelegenheiten der Sozialversicherung ein Vorverfahren stattzufinden, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt wurde, die nicht einen Rechtsanspruch auf Leistung betraf. Die Verpflichtung zur Durchführung des Vorverfahrens erstreckte sich nicht nur auf Verwaltungsakte, die eine Ermessensleistung beinhalteten, sondern auch auf solche, die ergangen waren, nachdem die Behörde in irgendeiner Form ihr Ermessen ausgeübt hatte (BSGE 3, 209, 215; 7, 292, 293; 37, 267, 268; SozR Nr 14 und 16 zu § 79 SGG). In diesen Fällen ist eine Rechtsänderung nicht eingetreten; vielmehr ist vor Erhebung der Anfechtungsklage zur Beurteilung von Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit entsprechender Verwaltungsakte ein Vorverfahren geboten. Eine Ausnahme, die ein Vorverfahren entbehrlich sein ließe, ist nicht gegeben. Infolgedessen ist die unmittelbare Klageerhebung, dh eine solche ohne Vorverfahren, nicht gestattet.

Die Frage, ob der Kläger, wie in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides vorgesehen, wahlweise Widerspruch oder unmittelbar Klage erheben durfte, beantwortet sich nach der Rechtsnatur des angefochtenen Verwaltungsakts. Darin hat sich die Verwaltungsbehörde auf die Bindungswirkung der in den Jahren 1952 und 1960 ergangenen Verwaltungsbescheide sowie auf die Rechtskraft der Urteile des SG Stuttgart bzw LSG Baden-Württemberg berufen. Nach § 24 KOVVfG und § 77 SGG wird ein Verwaltungsakt, wenn der gegen ihn gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt wird, für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Rechtskräftige Urteile binden die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (§ 141 Abs 1 SGG). Diese Bindungswirkung und Rechtskraftwirkung ist Ausdruck des Gebots der Rechtssicherheit. Dieses Gebot ist gleichrangig mit dem Postulat der materiellen Gerechtigkeit.

Beide Gebote geraten dann in Widerstreit, wenn sich nachträglich herausstellt, daß die ergangene Verwaltungsentscheidung von Anfang an (BSGE 26, 146, 147), dh zum Zeitpunkt ihres Erlasses mit dem seinerzeit geltenden Recht nicht übereinstimmte. Zur Lösung dieses Konflikts eröffnet § 40 KOVVfG der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit, eine Korrektur vorzunehmen.

Nach § 40 KOVVfG kann die Verwaltungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Voraussetzung für das der Verwaltungsbehörde eingeräumte Handlungsermessen ist - wenn auch nicht dem Wortlaut der Gesetzesvorschrift zu entnehmen - die Unrichtigkeit des früheren Bescheides. Dies ergibt sich einmal aus der Überschrift des Abschnittes IX vor § 40 KOVVfG "Berichtigung von Bescheiden", andererseits aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Zugunsten des Berechtigten können nur solche Bescheide durch Erteilung eines neuen Bescheides berichtigt werden, die selbst unrichtig sind. Die Verwaltungsvorschrift Nr 2 zu § 40 KOVVfG bestätigt diese Auffassung. Danach wird gefordert, daß die frühere Entscheidung unrichtig ist (BSG SozR § 40 KOVVfG Nr 12). Mithin setzt das Handlungsermessen, wie der Wortgebrauch "kann" verdeutlicht, erst dann ein, "wenn die frühere Entscheidung tatsächlich oder rechtlich unrichtig gewesen ist". Primär ist also, wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 24. November 1977 (BSG SozR 1500 § 103 Nr 16) ausgeführt hat, die Frage nach der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des bindenden Bescheides zu beantworten. Das Tatbestandsmerkmal der "Unrichtigkeit des Erstbescheides" unterliegt dabei im Streitfall der vollen richterlichen Nachprüfung (BSGE 29, 278, 284; BSG SozR 3100 § 35 Nr 8). Daraus die Folgerung zu ziehen, insoweit sei der Verwaltung kein Erkenntnisermessen eingeräumt, erscheint unzutreffend. Der Verwaltung kann es nämlich nicht verwehrt werden, eine Berichtigung zugunsten des Versorgungsberechtigten dann schon vorzunehmen, wenn zwar die volle Unrichtigkeit nicht erwiesen ist, ihr jedoch Zweifel an der Unrichtigkeit der früheren Entscheidung gekommen sind oder es etwa aus fürsorgerischen Gründen geboten erscheint, einen solchen neuen Bescheid zu erteilen. Auch Zweckmäßigkeitsgründe können für das Verwaltungshandeln gegebenenfalls bedeutsam sein (§ 78 Abs 1 SGG).

Mit dieser Entscheidung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu seinem Urteil vom 24. November 1977 (SozR 1500 § 103 Nr 16). Dort war allein auf das gerichtliche Verfahren abgestellt worden. Im übrigen wurde das der Verwaltung eingeräumte Handlungsermessen in früheren Entscheidungen des BSG (vgl BSGE 26, 146, 147 f; BSG BVBl 1969, 66 und 118) nicht umfassend umschrieben. Man räumte der Verwaltungsbehörde ein Ermessen in zweierlei Hinsicht ein, nämlich "ob" und "von wann an" sie die Berichtigung vornehmen wolle. Die pflichtgemäße Ermessensausübung erfordert jedoch einen weitergehenden Spielraum. Die Verwaltung ist nicht nur berechtigt, auf Antrag eine Berichtigung vorzunehmen, sondern das Gebot der pflichtgemäßen Ermessensausübung gebietet sogar, in gewissen Fällen von Amts wegen einen neuen Bescheid zu erteilen (BSG SozR § 40 KOVVfG Nr 16). Dabei kann sich allerdings der Freiraum des Ermessens je nach dem Grad des Unrechtsgehalts der früheren Entscheidung so weit verengen, daß der neue Bescheid erteilt werden muß (BSG KOV 1970, 61, 62; BSG SozR § 14 KOVVfG Nr 14; SozR 3900 § 40 Nr 5). Dieses Ergebnis ist aber nicht der einzige Anwendungsfall des § 40 Abs 1 KOVVfG. Generell steht es bei Erteilung eines neuen Bescheides im pflichtgemäßen Verwaltungsermessen, ob und gegebenenfalls für welchen Zeitraum die Bindungswirkung des Erstbescheides beseitigt werden soll (BSGE 19, 12, 13; 26, 146, 150 f; 36, 21, 22; 40, 121, 122; BSG BVBl 1969, 85, 86 und 129; 170, 15, 16). Aber auch dann, wenn, wie ausgeführt, der Ermessensspielraum auf eine Verpflichtung zur Erteilung eines neuen Bescheides zusammenschrumpft, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Denn es steht nicht von vornherein fest, ob die begehrte Leistung ohne den bindend gewordenen Erstbescheid von Anfang an hätte gewährt werden müssen. Somit ist es einer pflichtgemäßen Ermessensregelung überlassen, inwieweit von dem früheren Bescheid abgegangen werden kann (BSG BV-Bl 1966, 6; BSG KOV 1970, 61; SozR 3900 § 40 Nr 9). Eine solche Ermessensentscheidung ist nur im Rahmen des § 54 Abs 2 Satz 2 SGG gerichtlich nachprüfbar (BSG BVBl 1969, 86 mwN). Hätte man demgegenüber, wie der Beklagte meint, davon auszugehen, daß dem § 40 Abs 1 KOVVfG in Wirklichkeit ein Rechtsanspruch zugrundeliegt, so müßte in entsprechender rechtlicher Konsequenz für die Gerichte die Möglichkeit bestehen, ihre eigene Überzeugung an die Stelle der Verwaltungsüberzeugung zu setzen und unmittelbar zur Leistung zu verurteilen. Bei Zugunstenbescheiden kommt es jedoch auf die vom Ermessen getragene Überzeugung des Leistungsträgers an. Die gerichtliche Überprüfung seiner Entschließung erlaubt grundsätzlich nur eine Verurteilung zum Erlaß eines ermessensfehlerfreien Verwaltungsakts (Bescheidungsurteil gemäß § 131 Abs 3 SGG).

Gleichwohl kann das Urteil des LSG keinen Bestand haben. Das LSG hat nur teilweise die Rechtsprechung des BSG darüber beachtet, wie zu verfahren ist, wenn das in § 78 Abs 1 SGG vorgeschriebene Vorverfahren vor Klageerhebung nicht durchgeführt worden ist. Dann ist die Klage nicht als unzulässig abzuweisen. Vielmehr kann nach der ständigen Rechtsprechung des BSG das Vorverfahren noch während des Prozesses nachgeholt werden. Das Prozeßgericht hat dabei der Verwaltung Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren durchzuführen (BSG SozR 1500 § 78 Nr 8 mwN). Das führt zwangsläufig - wie Bettermann BVBl 1959, 314 aufgezeigt hat - zu einer Aussetzung des Verfahrens bis zur Widerspruchsentscheidung analog § 114 Abs 2 SGG. Der ergehende Widerspruchsbescheid wird gemäß § 96 SGG Gegenstand des Laufenden Prozeßverfahrens. Diese aus prozeßökonomischen Gründen gefundene Verfahrensweise dient dem Zweck, einen zweiten Prozeß zu vermeiden (BSG SozR § 79 Nr 4). Ein solcher vom BSG gewünschter Erfolg ist nicht zu erzielen, wenn das LSG, wie hier, den Beklagten zur Erteilung eines Widerspruchsbescheides verurteilt. In diesem Falle würde das gerichtliche Verfahren abgeschlossen und die bisher bei Gericht rechtshängige Sache in unzulässiger Weise auf die Verwaltungsebene zurückverwiesen (BSGE 7, 126; SozR § 123 SGG Nr 9). Gleichzeitig verstieße das LSG damit gegen das Gebot der Herstellung der Spruchreife (§ 131 Abs 2 SGG; BSG SozR 1500 § 103 Nr 16). Dem ist nicht entgegenzuhalten, die Verurteilung des Beklagten sei wegen dessen Weigerung, das Widerspruchsverfahren nachzuholen, notwendig gewesen. Ergibt sich im Verlaufe des gerichtlichen Verfahrens, daß der Beklagte nicht bereit ist, das gesetzlich erforderliche Vorverfahren durchzuführen - obwohl das Prozeßgericht ihm hierzu Gelegenheit gegeben hat -, ist das Prozeßgericht gehalten, dem Beklagten mittels Zwischenurteil (§ 202 iVm § 303 Zivilprozeßordnung -ZPO-) eine entsprechende Verpflichtung aufzuerlegen. Damit wird einerseits die Durchsetzbarkeit des nachträglich durchzuführenden Vorverfahrens erreicht, andererseits bleibt der Prozeß in der Hauptsache weiterhin rechtshängig und kann - sofern das Vorverfahren nachgeholt ist - weitergeführt werden.

Als weitere Lösungsmöglichkeit bietet sich an, in dem Prozeßantrag des Beklagten, die Klage als unbegründet abzuweisen, eine Stellungnahme des Inhalts zu erblicken, daß das Vorverfahren gescheitert sei (BVerwG BVBl 1959, 777; Beke, H. NJW 1972, 634; Bettermann BV Bl 1959, 308, 313). Wie der erkennende Senat hierzu in seinem Urteil vom 2. August 1977 (SozR 1500 § 78 Nr 8) ausgeführt hat, stehen einer solchen Lösung, nämlich daß der mit Sachargumenten begründete Klageabweisungsantrag der Verwaltung den Widerspruchsbescheid entbehrlich mache oder ersetze, keine rechtsförmlichen und rechtsdogmatischen Hemmnisse entgegen. Auf die Entscheidungsgründe im einzelnen wird verwiesen. Die hierzu vom 2. Senat des BSG in seinem Urteil vom 14. Dezember 1978 (BSG SozR 1500 § 78 Nr 15) vorgebrachten Bedenken vermögen den erkennenden Senat nicht zu überzeugen. Für den 2. Senat war indessen vor allem wichtig, daß in Angelegenheiten der Sozialversicherung Widerspruchsbehörde (§ 85 Abs 2 Nr 2 SGG) und Versicherungsträger nicht identisch seien (BSG SozR 1500 § 78 Nr 15 mwN). Hier - in einer Kriegsopfersache - ist aber eine solche Identität zwischen Widerspruchsstelle und der Verwaltungsbehörde, die den Beklagten im Prozeß vertritt, gegeben (BSG SozR 1500 § 78 Nr 8 mwN). Die rechtliche Ausgangslage, mit welcher sich der 2. Senat zu befassen hatte, war mithin von der gegenwärtig zu beurteilenden grundverschieden. Im übrigen hat der erkennende Senat eine solche Lösung selbstverständlich nur unter der Voraussetzung für angängig gehalten, daß der Klageabweisungsantrag mit Erwägungen zur Sache selbst begründet wird. Damit ist dem in § 78 Abs 1 SGG verfolgten Zweck, die Verwaltung in die Lage zu versetzen, ihre Akte im Wege der Selbstkontrolle nach Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu prüfen, ausreichend Rechnung getragen.

Ob allerdings im Hinblick auf diese Lösungsmöglichkeit vorliegendenfalls ein Vorverfahren entbehrlich ist, erscheint zumindest zweifelhaft. Das Vorbringen des Beklagten läßt jedenfalls gegenwärtig nicht erkennen, daß er erst nach erneuter Sachprüfung den Antrag auf Klageabweisung gestellt hat. Hierzu hätte es eines näheren Eingehens des Beklagten, insbesondere auch auf die Überlegungen des Klägers, bedurft. Allein das Festhalten an einer rechtsverbindlichen bzw rechtskräftigen Entscheidung reicht jedenfalls für sich allein nicht aus.

Die Annahme des LSG, der Kläger mache hinsichtlich der weiteren Gesundheitsstörungen "Kreislaufschwäche und Erkrankungen am Herzen" einen Rechtsanspruch auf Versorgung geltend, enthält - wenn auch unausgesprochen - die Unterstellung, bisher sei hierüber keine wie auch immer geartete rechtsverbindliche bzw rechtskräftige Entscheidung ergangen. Eine solche Feststellung bindet das BSG gemäß § 163 SGG mangels ausreichender Feststellungen nicht. Richtig ist, daß die Verwaltungsbehörde über diese Versorgungsansprüche bisher nicht entschieden hatte. Dies schließt allerdings nicht aus, daß der Kläger solche im Klage -bzw Berufungsverfahren vor dem SG bzw LSG Stuttgart geltend gemacht hatte. Die Berufung der Verwaltungsbehörde auf die Rechtskraft dieser Gerichtsentscheidungen hätte Anlaß geben müssen, den dortigen Streitgegenstand zu ermitteln. Nur so hätte geklärt werden können, ob, wie nach dem angefochtenen Bescheid zu vermuten, über diese Rechtsansprüche schon entschieden worden ist. Hierzu bedarf es der Beiziehung dieser Gerichtsakten, was bisher, soweit erkennbar, nicht geschehen ist. Jedenfalls waren sie ausweislich der Sitzungsniederschrift nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Selbst wenn in dem genannten Gerichtsverfahren die streitigen Gesundheitsstörungen rechtskräftig als Versorgungsleiden abgelehnt worden sein sollten, steht dies der gerichtlichen Nachprüfung eines - negativen - Zugunstenbescheides nicht entgegen (BSG SozR 1500 § 141 Nr 2).

Im übrigen ist der Rechtsansicht des LSG, wegen der Einheitlichkeit des Anspruches müsse im Vorverfahren auch über die Rechtsansprüche entschieden werden, nicht zutreffend. Richtig ist dagegen, daß in der Regel der Anspruch in Bezug auf den gesamten Leidenszustand zu prüfen ist, weil der Anspruch als im ganzen Umfang geltend gemacht anzusehen ist (BSGE 11, 26, 28 f). Daraus folgt, daß ein Kläger, wenn er etwa im Laufe des Prozesses ein weiteres Leiden als Schädigungsfolge geltend macht, nicht auf das Verwaltungsverfahren verwiesen werden darf. Vielmehr ist das Gericht, auch wenn kein Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist, unter Einbeziehung dieses neuen Anspruchsteils verpflichtet, über den gesamten Versorgungsanspruch zu entscheiden (BSG Sgb 1958, 91 Nr 15 und 158 Nr 4). Im zugrundeliegenden Falle hat die Verwaltungsbehörde - möglicherweise rechtsirrtümlich - hinsichtlich der neuen Gesundheitsstörungen einen auf § 40 Abs 1 KOVVfG gestützten Verwaltungsakt anstelle eines Erstbescheides erlassen. Mit der Klageerhebung ist der Anspruch des Klägers, so wie er sich rechtlich zutreffend darstellt, rechtshängig geworden. Damit ist das Gericht gehalten, über den gesamten Versorgungsanspruch - selbst wenn dieser zumindest teilweise einen solchen auf pflichtgemäße Ermessensausübung umfaßt - zu entscheiden. Eine Zurückverweisung an die Verwaltung, wie es dem LSG vorschwebt, ist ausgeschlossen.

Nach alledem kann das angefochtene Urteil des LSG nicht bestehen bleiben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.

 

Fundstellen

Breith. 1980, 880

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