Verfahrensgang

SG Hamburg (Urteil vom 02.11.1994; Aktenzeichen 3 KA 38, 39/91)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. November 1994 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit von Arzneimittelregressen.

Der Kläger ist Arzt für Allgemeinmedizin und zur kassenärztlichen (nunmehr einheitlich: vertragsärztlichen) Versorgung zugelassen. Er verordnete zu Lasten der beigeladenen Krankenkasse für dort versicherte heroinsüchtige Patienten codeinhaltige Arzneimittel, in erster Linie Remedacen, sowie Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel zum Zwecke der Drogensubstitution.

Auf die Anträge der Beigeladenen setzten die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung für die Quartale IV/88 und I/89 wegen unzulässiger Verordnungen zum Zweck der Drogensubstitution in verschiedenen Einzelfällen Arzneimittelregresse gegen den Kläger fest. Der Regreß wegen der Verordnung von codeinhaltigen Präparaten belief sich für das Quartal IV/88 auf 12.405,07 DM, für das Quartal I/89 auf 6.838,08 DM. Die Prüfgremien begründeten die Arzneimittelregresse damit, daß die Versorgung von Suchtkranken mit codeinhaltigen Drogenersatzmitteln keine ausreichende und zweckmäßige Krankenbehandlung darstelle.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die gegen die angefochtenen Bescheide erlassenen Klagen abgewiesen (Urteil vom 2. November 1994). Zur Begründung hat es dargelegt, die Verordnung der in Regreß genommenen Mittel stelle sich nicht als Krankenpflege (§ 182 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫) bzw Krankenbehandlung (§ 27 Abs 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB V≫) dar. Zwar umfasse die Krankenpflege bzw -behandlung auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Diese dürften aber nur zu dem Zweck, zu dem sie zugelassen seien, also innerhalb ihres objektiven Verkehrszweckes, verordnet werden. Die zweckwidrige Verordnung des Hustenmittels Remedacen zur Drogensubstitution nehme ihm die Eigenschaft als Arzneimittel. Als Mittel, das zur Stillung der Sucht diene, sei es grundsätzlich kein Arzneimittel mehr. Eine Ausnahme hiervon könne beim Vorliegen außergewöhnlicher Gründe, wie etwa der Einbindung der Verordnung im Rahmen einer anderen Krankenbehandlung, gemacht werden. Derartige Gründe seien bei der Drogensubstitution mit Remedacen bzw mit Codein-Compretten in den noch streitigen Einzelfällen nicht zu erkennen.

Mit der Sprungrevision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Die Verordnung von Codein-Präparaten zur Substitution bei heroinsüchtigen Patienten sei eine im Rahmen der Krankenpflege bzw -behandlung zulässige Arzneimitteltherapie. Der Ansatz des SG, Remedacen die Eigenschaft als Arzneimittel abzusprechen, wenn es zum Zwecke der Drogensubstitution verwendet werde, sei verfehlt. Es reiche für den bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Arzneimittels aus, daß es im Einzelfall erfolgreich zu einem anderen als seinem allgemeinen Verwendungszweck eingesetzt werde. Zwar bestehe nach der Zulassung der Methadon-Substitution durch die NUB-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen grundsätzlich die Wahl zwischen Methadon und dem Arzneimittel Remedacen. Die Behandlungsalternative mit Methadon habe aber im Quartal IV/88 noch nicht und im Quartal I/89 aufgrund des Hamburger Methadon-Projektes nur in eingeschränktem Umfang zur Verfügung gestanden. Die Substitutionstherapie drogenabhängiger Patienten mit Codeinpräparaten habe somit dem damaligen Stand der ärztlichen Wissenschaft entsprochen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. November 1994 aufzuheben und 1. zum Quartal IV/88, den Beschluß des Beklagten vom 15. November 1990 aufzuheben, soweit der Regreß 368,82 DM übersteigt, und den Beklagten zu verurteilen, insoweit erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes über den Widerspruch des Klägers gegen den Beschluß des Prüfungsausschusses vom 29. November 1989 zu entscheiden,

2. zum Quartal I/89, den Beschluß des Beklagten vom 15. November 1990 in der Fassung seiner Erklärung vom 2. November 1994 insoweit aufzuheben, als er den Regreß gegenüber dem Kläger bestätigt hat, und den Beklagten zu verurteilen, insoweit erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über den Widerspruch des Klägers gegen den Beschluß des Prüfungsausschusses vom 29. November 1989 zu entscheiden,

hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Hamburg zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor, der Kläger hätte die fraglichen Arzneimittel nur dann zu Lasten der Krankenkasse verordnen dürfen, wenn die Verordnungen notwendig und wirtschaftlich gewesen seien, um die Drogensucht seiner Patienten zu heilen, die Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das sei nicht der Fall gewesen. Gerade bei Remedacen könne der Umfang des Konsums mangels durchgreifender Überwachungsmöglichkeiten durch den Arzt nicht gesteuert werden. Im übrigen habe der Kläger seine Patienten auch nicht zweckmäßig und ausreichend behandelt.

Die Beigeladene beantragt ebenfalls,

die Revision zurückzuweisen.

Auch nach ihrer Auffassung stellt sich die Substitution mit Remedacen nicht als Krankenbehandlung iS des SGB V dar.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers, mit der er das erstinstanzliche Urteil für das Quartal IV/88 nur noch insoweit angreift, als die Verordnung von codeinhaltigen Präparaten im Streit steht, ist im Sinne der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG begründet. Die Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil reichen nicht aus, um abschließend über die Rechtmäßigkeit der Arzneimittelregresse entscheiden zu können.

Nach der für das Quartal IV/88 maßgeblichen Vorschrift des § 368n Abs 5 Satz 1 RVO hatten die von den Kassenärztlichen Vereinigungen zur Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung zu errichtenden Prüfungs- und Beschwerdeausschüsse auch die Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise zu überprüfen und ggf einen Arzneimittelregreß gegen den unwirtschaftlich verordnenden Arzt festzusetzen. Entsprechendes gilt gemäß § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V für das Quartal I/89.

Nach § 368e Satz 2 RVO (Quartal IV/88) bzw § 12 Abs 1 Satz 2 SGB V (Quartal I/89) durfte der Kläger Leistungen nicht verordnen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind. Dies gilt erst recht für solche Leistungen, die nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung erfaßt werden. Die Krankenpflege bzw die Krankenbehandlung, auf die die Versicherten einen Anspruch haben, umfaßt gemäß § 182 Nr 1 Buchst b RVO, § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V ua die Versorgung mit Arzneimitteln. Hierunter kann nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) unter bestimmten Voraussetzungen bei heroinsüchtigen Patienten auch die Drogensubstitution mit dem Arzneimittel Remedacen fallen. Sie ist mithin nicht generell von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen (BSG-Urteil vom 5. Juli 1995 – 1 RK 6/95 = BSGE 76, 194, 196 ff = SozR 3-2500 § 27 Nr 5; Urteil vom 17. Januar 1996 – 3 RK 26/94 = SozR 3-2500 § 129 Nr 1; vgl auch Urteil vom 18. Oktober 1995 – 6 RKa 3/93 = SozR 3-5550 § 17 Nr 2). Das gilt jedenfalls für die – hier allein zu beurteilende – Zeit vor Inkrafttreten der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen vom 2. Juni 1991, in Kraft getreten am 1. Oktober 1991, mit denen die Drogensubstitution mit Methadon grundsätzlich als zulässige Behandlung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt worden ist.

Allerdings stellt die Ersetzung des Suchtstoffes Heroin durch ein Mittel, das ausschließlich dazu dient, die Sucht zu stillen, für sich allein noch keine zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung durchzuführende Krankenpflege (-behandlung) dar (vgl Urteil des Senats vom 20. März 1996 – 6 RKa 62/94 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Deshalb hat die Rechtsprechung für eine in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung fallende Drogensubstitution generell und speziell für die Substitution mit Remedacen gefordert, daß diese dem Ziel dient, den Gebrauch von Drogen zu beenden (BSGE 76, 194 = SozR 3-2500 § 27 Nr 5 und BSG SozR 3-2500 § 129 Nr 1). Darüber hinaus sind auch bei einer grundsätzlich zulässigen Substitution die sich aus der Verpflichtung zur wirtschaftlichen Verordnungsweise iS des § 12 Abs 1 SGB V ergebenden Anforderungen zu beachten. Der Senat hat hierzu bereits in seinem Urteil vom 18. Oktober 1995 (SozR 3-5550 § 17 Nr 2) ausgeführt, daß es bei einer in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung fallenden Drogensubstitution zwingend geboten ist, daß der behandelnde Arzt die substituierten Patienten ständig betreut und kontrolliert; denn nur auf diese Weise könne sichergestellt werden, daß die Patienten die zur Substitution verordneten Mittel, hier die codeinhaltigen Präparate, tatsächlich einnehmen, die Drogenersatzmittel von den Patienten somit nicht mißbraucht, insbesondere nicht an andere Personen weitergegeben werden können. Eine begleitende Kontrolle der Patienten ist weiter auch deshalb geboten, um auszuschließen, daß ein Beigebrauch anderer Drogen stattfindet (vgl BSG aa0).

Da das SG im angefochtenen Urteil die Auffassung vertreten hat, eine Substitution mit codeinhaltigen Präparaten, insbesondere mit Remedacen, zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sei grundsätzlich ausgeschlossen, hat es sich mit den aufgezeigten Anforderungen an eine zulässige Drogensubstitution im Einzelfall – von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht – nicht auseinandergesetzt. Soweit es allgemein auf die vom Beklagten in seinem Schriftsatz vom 18. Juli 1994 überreichte Zusammenstellung des Behandlungs- und Verordnungsverhaltens des Klägers in den Fällen 2 bis 20 Bezug nimmt, reicht dies zur Annahme tatsächlicher Feststellungen hinsichtlich der aufgezeigten Anforderungen nicht aus. Hierzu bedarf es an Hand der Unterlagen des Beklagten Feststellungen durch das SG über das Verordnungsverhalten des Klägers, um abschließend darüber entscheiden zu können, ob dieser in den Quartalen IV/88 und I/89 zulässigerweise die Mittel Remedacen bzw Codein-Compretten zur Drogensubstitution verordnet hat. Da der Senat die hierzu erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, war der Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Entscheidung des SG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174336

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