Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie. Erstattungsanspruch des erstangegangenen und leistenden Sozialhilfeträgers nach Wegfall der örtlichen Zuständigkeit mit Eintritt der Volljährigkeit des Leistungsberechtigten gegen den nunmehr örtlich zuständigen Sozialhilfeträger. Erstattungsanspruch nach § 14 Abs 4 S 1 SGB 9 aF. einheitliches Rehabilitationsgeschehen. Erstattungsanspruch nach § 2 Abs 3 S 2 SGB 10. Vorrang des § 14 Abs 1 SGB 9 aF iVm § 104 Abs 1 S 1 SGB 10

 

Leitsatz (amtlich)

Die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers für ein einheitliches Rehabilitationsgeschehen wechselt nicht allein wegen des Eintritts der Volljährigkeit des Leistungsberechtigten.

 

Orientierungssatz

§ 14 Abs 1 SGB 9 aF und § 104 SGB 10 sind für den erstangegangenen Träger vorrangige Sonderregelungen (§ 37 SGB 1) und verdrängen § 2 Abs 3 S 2 SGB 10 (in diese Richtung bereits BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 22/16 R = SozR 4-3250 § 14 Nr 28 RdNr 26 f).

 

Normenkette

SGB X § 104 Abs. 1 S. 1, § 2 Abs. 3 Sätze 1-2; SGB I § 37 S. 1; SGB IX § 14 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 2 S. 1, Abs. 4 S. 1; SGB XII §§ 53, 54 Abs. 1, 3, §§ 107, 98 Abs. 2 S. 1, Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 13.02.2020; Aktenzeichen L 15 SO 274/16)

SG Berlin (Urteil vom 08.09.2016; Aktenzeichen S 195 SO 3349/13)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Februar 2020 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte für die Zeit bis zum 31. Dezember 2019 518 597,85 Euro zu erstatten hat.

Der Beklagte trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 537 485,43 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Im Streit ist ein Anspruch auf Aufwendungsersatz. Der Kläger begehrt noch die Erstattung von Aufwendungen, die ihm durch die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sechsten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) sowie von Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII im Zeitraum vom 5.6.2010 bis 31.12.2019 entstanden sind.

Der im Juni 1992 im Zuständigkeitsbereich des Klägers geborene und dort bis Anfang 1993 bei seiner Mutter bzw in Pflegefamilien wohnhafte K W (im Folgenden W) leidet an einer dauerhaften geistigen Behinderung bei Trisomie 21 (sog Down-Syndrom) und Hypothyreose. Seit Anfang 1993 sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 und die Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G und H festgestellt. Im Alter von acht Monaten kam er Anfang 1993 in eine Pflegefamilie im Kreisgebiet des Beklagten, in der er bis heute lebt. Die Pflegemutter ist seit 1994 seine Betreuerin in sämtlichen Angelegenheiten; W trägt seit 1994 auch den Familiennamen seiner Pflegemutter. Der Beklagte erbrachte bis zum Eintritt der Volljährigkeit Hilfen zur Erziehung in Vollzeitpflege in der Pflegefamilie als Leistung der Jugendhilfe; Kostenträger war der Kläger.

Vor Eintritt der Volljährigkeit beantragte die Pflegemutter für W im Frühjahr 2010 beim Beklagten, ihm für die weitere Betreuung in der Pflegefamilie Hilfen nach den Bestimmungen der Sozialhilfe zu gewähren. Der Beklagte leitete diesen Antrag innerhalb von zwei Wochen unter Hinweis auf § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) an den Kläger weiter und machte geltend, dass dieser weiterhin örtlich zuständig sei. Der Kläger widersprach dem. Im Anschluss an eine entsprechende Verpflichtung in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht ≪LSG≫ vom 6.7.2010 - L 9 SO 100/10 B ER) bewilligte der Kläger ab dem 5.6.2010 (Volljährigkeit des W) Leistungen der Eingliederungshilfe (monatlich anfallende Kosten in Höhe von rund 5200 Euro) in Form der Familienpflege als Vollzeitpflege und der Übernahme der Kosten für die Beschäftigung und Betreuung im Tagesförderbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) sowie Hilfe zur Pflege während zweier Ferienbetreuungen im Juli 2010 und im Juli 2011 (2726,72 Euro) und Kurzzeitpflege/Verhinderungspflege im Oktober 2012 (1609,23 Euro) während der Verhinderung der Betreuerin.

Nach fruchtloser Aufforderung zur Aufwendungserstattung und "Fallübernahme" hat der Kläger am 17.12.2013 Klage zum Sozialgericht (SG) Berlin erhoben. Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, auf die Einrede der Verjährung zu verzichten. Das SG hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger Aufwendungen iHv 363 578,09 Euro für den Zeitraum vom 5.6.2010 bis zum 31.8.2016 sowie für weitere laufende Leistungen der Eingliederungshilfe zu erstatten. Außerdem hat es festgestellt, dass der Beklagte die Leistungen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege künftig in eigener Zuständigkeit zu leisten habe (Urteil vom 8.9.2016).

Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG Berlin-Brandenburg das Urteil des SG abgeändert, die Klage hinsichtlich des Feststellungsantrags abgewiesen und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 13.2.2020). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt, der Beklagte sei ab Eintritt der Volljährigkeit zuständig und auf Grundlage von § 14 Abs 4 Satz 1 SGB IX bzw § 104 Abs 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) erstattungspflichtig. Die Hilfeform "Familienpflege" stelle vorliegend wegen der fortdauernden behinderungsbedingten Betreuungsnotwendigkeiten keine ambulant betreute Wohnmöglichkeit iS des § 98 Abs 5 SGB XII dar. Mit der Volljährigkeit des W sei nicht mehr § 98 Abs 2 SGB XII entsprechend anzuwenden, sondern der gewöhnliche Aufenthaltsort des W maßgeblich (§ 107 SGB XII).

Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 98 Abs 5 SGB XII. Die konkrete Betreuungsform sei eine ambulant betreute Wohnmöglichkeit im Sinne dieser Norm. Dies ergebe sich neben den Ausführungen in einem Rundschreiben der Senatsverwaltung des Klägers auch aus Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte der Vorschrift und aus dem Gegensatzpaar ambulant-stationär.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Februar 2020 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. September 2016 abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Zu Recht hat das LSG entschieden, dass der Kläger vom Beklagten die Erstattung seiner Aufwendungen für die dem W laufend erbrachten Eingliederungshilfeleistungen, soweit sie im Revisionsverfahren noch streitbefangen sind, und der erbrachten Leistungen der Hilfe zur Pflege einschließlich Kurzzeitpflege/Verhinderungspflege verlangen kann. Der Beklagte ist mit dem Eintritt der Volljährigkeit des W der örtlich und sachlich zuständige leistungsverpflichtete Träger geworden.

Gegenstand des Revisionsverfahrens sind nur noch die vom Kläger verfolgten Ansprüche auf Kostenerstattung für Leistungen der Eingliederungshilfe sowie von geleisteter Hilfe zur Pflege, begrenzt auf den Zeitraum vom 5.6.2010 bis zum 31.12.2019. Wegen der Zeit ab dem 1.1.2020, über die das LSG ebenfalls eine Entscheidung in der Sache getroffen hat, haben die Beteiligten sich im Wege eines Vergleichs in der mündlichen Verhandlung im Hinblick auf die Hauptsache und die Kosten einer rechtskräftigen Sachentscheidung über die Erstattungsforderung unterworfen und den Streitgegenstand so auf die Zeit vom 5.6.2010 bis zum 31.12.2019 begrenzt. Den Anspruch auf Kostenerstattung verfolgt der Kläger statthaft im Wege der allgemeinen Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG). Die von ihm vorgenommene Konkretisierung der Klageforderung im laufenden Rechtsstreit (insgesamt 518 597,85 Euro) stellt keine Klageänderung iS des § 99 Abs 3 Nr 2 SGG dar (vgl BSG vom 26.1.2006 - B 3 KR 4/05 R - SozR 4-2500 § 37 Nr 7 RdNr 11). Das beim LSG daneben noch verfolgte Feststellungsbegehren (§ 55 Abs 1 Nr 1 SGG), gerichtet auf die Feststellung einer Erstattungspflicht auch für zukünftige Leistungen (vgl BSG vom 13.2.2014 - B 8 SO 11/12 R - SozR 4-3500 § 106 Nr 1 RdNr 13; vgl auch BSG vom 10.7.1996 - 3 RK 29/95 - SozR 3-2500 § 125 Nr 6 - juris RdNr 18; BSG vom 10.11.2005 - B 3 P 10/04 R - SozR 4-3300 § 40 Nr 2 - juris RdNr 12), hat sich mit Bezifferung der Klageforderung und der Begrenzung des Streitgegenstands erledigt. Den Feststellungsantrag zur sog "Fallübernahme" (vgl zu dieser Fragestellung BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 22/16 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 28 RdNr 30) verfolgt der Kläger in der Revisionsinstanz nicht mehr.

Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Erstattung der Kosten für die geleistete bzw laufende Eingliederungshilfe ist § 104 SGB X.

Dagegen scheidet § 14 Abs 4 SGB IX(hier in der bis 31.12.2017 maßgeblichen Normfassung des Gesetzes zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom 23.4.2004, BGBl I 606; im Folgenden: alte Fassung ≪aF≫) , der Erstattungsanspruch für den zweitangegangenen Träger der Rehabilitation, entgegen der Auffassung des LSG als Anspruchsgrundlage aus. Auf Grundlage der bindenden Feststellungen des LSG ist mit Eintritt der Volljährigkeit des Leistungsberechtigten keine Zäsur des Leistungsgeschehens in tatsächlicher Art eingetreten; eine solche Zäsur im Leistungsgeschehen ergibt sich auch nicht in rechtlicher Hinsicht (im Einzelnen später). Damit leistete der Kläger hier als erstangegangener Träger der Rehabilitation, weil seine Zuständigkeit schon 1993 (mit dem Antrag auf Leistungen der Vollzeitpflege in der Pflegefamilie) begründet worden ist und er sie durchgehend anerkannt hat. Wegen der Einheitlichkeit des rehabilitationsrechtlichen Leistungsgeschehens kommt es auch nicht auf weitere von den Beteiligten als "Erstanträge" gewertete Anträge an, weil diese jeweils kein neues rehabilitationsrechtliches Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt haben (vgl BSG vom 28.11.2019 - B 8 SO 8/18 R - BSGE 129, 241 = SozR 4-3250 § 14 Nr 30, RdNr 14).

Auch § 2 Abs 3 SGB X scheidet als Anspruchsgrundlage aus. Danach hat bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit die bisher zuständige Behörde die Leistungen noch so lange zu erbringen, bis sie von der nunmehr zuständigen Behörde fortgesetzt werden (Satz 1). Diese hat der bisher zuständigen Behörde die nach dem Zuständigkeitswechsel noch erbrachten Leistungen auf Anforderung zu erstatten (Satz 2). § 14 Abs 1 SGB IX aF und § 104 SGB X sind jedoch für den erstangegangenen Träger vorrangige Sonderregelungen (§ 37 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - ≪SGB I≫) und verdrängen § 2 Abs 3 Satz 2 SGB X(in diese Richtung bereits BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 22/16 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 28 RdNr 26 f) .

Die Voraussetzungen des § 104 SGB X liegen zugunsten des Klägers vor. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs 1 SGB X (nachträglich entfallene Leistungsverpflichtung) vorliegen, ist derjenige Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Leistungsberechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (§ 104 Abs 1 Satz 1 SGB X). Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs 1 Satz 2 SGB X). Ein Erstattungsanspruch besteht nicht, soweit der nachrangig verpflichtete Leistungsträger seine Leistungen auch bei Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers hätte erbringen müssen (§ 104 Abs 1 Satz 3 SGB X). Gemäß § 104 Abs 3 SGB X richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Vorschriften. § 104 Abs 1 SGB X ist auch anwendbar, wenn - wie im vorliegenden Fall - die vorrangige Leistungsverpflichtung nur durch die örtliche Zuständigkeit von ansonsten sachlich gleichrangigen Leistungsträgern begründet sein kann.

Der Kläger war im hier streitigen Zeitraum nachrangiger Träger der Rehabilitation. Sein Nachrang iS des § 104 SGB X wird durch die Bestimmungen des § 14 Abs 1 und 2 SGB IX aF begründet (vgl grundlegend BSG vom 26.6.2007 - B 1 KR 34/06 R - BSGE 98, 268 = SozR 4-3250 § 14 Nr 4, RdNr 10 ff). Wie der Senat bereits entschieden hat, erfassen diese Vorschriften auch Sachverhalte mit einem Leistungsbeginn vor dem 1.7.2001 (vgl BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 22/16 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 28 RdNr 13 f).

Nach § 14 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB IX aF hat der mit einem Rehabilitationsantrag angegangene Rehabilitationsträger zu prüfen, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist. Stellt er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung nicht zuständig ist, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu. Leitet er den Antrag nicht weiter, wird er selbst umfassend für die erforderlichen Rehabilitationsleistungen zuständig (§ 14 Abs 2 Satz 1 SGB IX aF).

Der Kläger, der den Antrag aus dem Jahr 1993 nicht weitergeleitet, sondern (bis zum Eintritt der Volljährigkeit zutreffend) in der Annahme eigener örtlicher und sachlicher Zuständigkeit geleistet hat, ist damit erstangegangener Träger iS § 14 Abs 2 Satz 1 SGB IX aF für die Leistungen der Betreuung in der Pflegefamilie. Mit dem Eintritt der Volljährigkeit und bei im Übrigen unverändert gebliebenem Leistungsgeschehen ist indes seine örtliche Zuständigkeit entfallen und der Beklagte ist auf Grundlage von § 98 Abs 1 SGB XII örtlich zuständig geworden. § 98 Abs 5 SGB XII(in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2.12.2006 - BGBl I 2670) steht dem - unabhängig von der Reichweite der Regelung in § 107 SGB XII - nicht entgegen. Die Vorschrift kommt schon deshalb nicht zur Anwendung, weil es sich angesichts eines einheitlichen Leistungsgeschehens seit 1993 um einen sog Altfall im Sinne der Rechtsprechung des Senats handelt; die vor 2005 begründeten Zuständigkeiten bleiben unberührt (§ 98 Abs 5 Satz 2 SGB XII; vgl BSG vom 25.8.2011 - B 8 SO 7/10 R - BSGE 109, 56 = SozR 4-3500 § 98 Nr 1, RdNr 18 unter Hinweis auf BT-Drucks 15/4751 S 48; BSG vom 25.4.2013 - B 8 SO 6/12 R - SGb 2014, 156).

Auf Grundlage der bindenden, von dem Beklagten nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG (vgl § 163 SGG) ist bei W seit 1993 durchgehend von einem einheitlichen - auch rehabilitativen - Leistungsgeschehen der "Familienpflege" auszugehen. W hat bereits vor Eintritt seiner Volljährigkeit 2010 (unabhängig von der Bezeichnung der Leistung in den Bescheiden) Leistungen der Unterbringung in einer Pflegefamilie (§ 54 Abs 3 SGB XII mWv 5.8.2009 eingeführt durch das Gesetz vom 30.7.2009, BGBl I 2495; vgl seit dem 1.1.2020 § 80, § 102 Abs 1 Nr 4, § 113 Abs 1 und Abs 2 Nr 4 SGB IX) als ambulante Leistung der Eingliederungshilfe erhalten, die durch ein intensives Betreuungsverhältnis gekennzeichnet ist und ua zur Vermeidung eines Aufenthalts in einer vollstationären Einrichtung erbracht wird, wenn dies dem Kindeswohl dient (dazu bereits BSG vom 26.10.2017 - B 8 SO 12/16 R - SozR 4-1750 § 524 Nr 1 RdNr 33; BSG vom 25.9.2014 - B 8 SO 7/13 R - BSGE 117, 53 = SozR 4-3500 § 54 Nr 13, RdNr 39). Die Leistung ist zwar erst 2009 klarstellend in das SGB XII eingefügt worden, stand aber auch zuvor über den offenen Leistungskatalog des § 54 Abs 1 SGB XII und der Vorgängerregelungen im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) zur Verfügung (vgl BSG vom 25.9.2014 - B 8 SO 7/13 R - BSGE 117, 53 = SozR 4-3500 § 54 Nr 13, RdNr 29, 37). Wegen § 10 Abs 4 Satz 2 Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII) ist bei einem leistungsberechtigten Kind, bei dem - wie vorliegend - (auch) eine geistige Behinderung vorliegt, Eingliederungshilfe, auch in Form der Betreuung in der Familie, im Verhältnis zur Jugendhilfe vorrangig (BSG vom 25.9.2014 - B 8 SO 7/13 R - BSGE 117, 53 = SozR 4-3500 § 54 Nr 13, RdNr 26; BSG vom 26.10.2017 - B 8 SO 12/16 R - SozR 4-1750 § 524 Nr 1 RdNr 20; BSG vom 4.4.2019 - B 8 SO 11/17 R - BSGE 128, 36 = SozR 4-1300 § 111 Nr 10, RdNr 14).

Auf Grundlage der Feststellungen des LSG ist mit Volljährigkeit keine Änderung im tatsächlichen Geschehen eingetreten. W unterfiel danach weiterhin dem Personenkreis des § 53 Abs 2 SGB XII aF iVm § 2 Eingliederungshilfe-Verordnung (EingliederungshilfeVO) aF; auch für erwachsene Leistungsberechtigte kam über den offenen Leistungskatalog des § 54 Abs 1 SGB XII aF Eingliederungshilfe in Form der Hilfe in einer Pflegefamilie in Betracht, was § 80 Satz 3 SGB IX nunmehr klarstellt (vgl dazu BT-Drucks 18/9522 S 264). W hat weiterhin die erforderliche Betreuung allein von seiner Pflegemutter erhalten, insbesondere die Lebensführung im häuslichen Bereich konnte er behinderungsbedingt nicht ohne fremde Hilfe bewältigen. Am Inhalt der Betreuung hat sich angesichts der erheblichen Entwicklungsverzögerung bei W nichts geändert. Die Betreuung ist durch die persönliche Zuwendung gerade durch die Pflegemutter gekennzeichnet gewesen. Wäre die Hilfe durch die Pflegemutter entfallen, hätte dies nach den Feststellungen des LSG nicht durch andere ambulante Hilfen kompensiert werden können; die erforderliche Hilfe hätte dann nur durch stationäre Hilfe gesichert werden können.

Ob Leistungen der Hilfe in einer Pflegefamilie für erwachsene Leistungsberechtigte, die als ambulante Leistungen erbracht werden, zugleich den Begriff des ambulant-betreuten-Wohnens erfüllen, braucht abschließend nicht entschieden zu werden. Gegen die Auffassung des Beklagten, die Betreuung in der Pflegefamilie sei für den erwachsenen Leistungsberechtigten zugleich ein Fall des ambulant betreuten Wohnens, spricht allerdings, dass die Hilfe der Betreuung in einer Pflegefamilie als Leistung der Eingliederungshilfe voraussetzt, dass dadurch der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung vermieden wird (vgl § 54 Abs 3 Satz 1 SGB XII aF). Demgegenüber orientiert sich der Begriff der betreuten Wohnmöglichkeiten, den das Gesetz in § 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII nicht näher definiert, über den Verweis in § 54 Abs 1 SGB XII an § 55 Abs 2 Nr 6 SGB IX aF (vgl BSG vom 30.6.2016 - B 8 SO 6/15 R - BSGE 121, 293 = SozR 4-3500 § 98 Nr 4, RdNr 12 unter Hinweis auf BT-Drucks 15/1514 S 67 zu § 93). Von § 55 Abs 2 Nr 6 SGB IX aF (Hilfe zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten) können vielfältige Leistungen unterschiedlichster Betreuungsleistungen sowohl in der eigenen Wohnung, in Wohngruppen oder Wohngemeinschaften erfasst sein. Erforderlich ist, dass durch die geleistete Hilfe das selbstständige Leben und Wohnen ermöglicht werden soll, damit der behinderte Mensch durch den Verbleib in der Wohnung einen Freiraum für die individuelle Gestaltung seiner Lebensführung erhält (vgl zuletzt BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 22/16 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 28 RdNr 24). Zwar liefe es dem normativen Bestreben von § 98 Abs 5 SGB XII zuwider, wollte man die Abgrenzung allein nach der Art der Leistung vornehmen; maßgeblich für die Entscheidung, ob ein ambulant betreutes Wohnen vorliegt, sind letztlich die aus der Bedarfslage (Art und Schwere der Behinderung und hieraus resultierende, durch geeignete Leistungen zu kompensierende Einschränkungen) folgenden Ziele und Zwecke der (erforderlichen) Leistungen (vgl BSG vom 30.6.2016 - B 8 SO 6/15 R - BSGE 121, 293 = SozR 4-3500 § 98 Nr 4, RdNr 14). Voll- bzw teilstationäre Erbringungsformen sind im Regelungszusammenhang des § 98 Abs 5 SGB XII aber ausgeschlossen (vgl nur BSG vom 25.8.2011 - B 8 SO 7/10 R - BSGE 109, 56 = SozR 4-3500 § 98 Nr 1, RdNr 16). Dieser Abgrenzungsgesichtspunkt legt es nahe, dass die Betreuung in der Pflegefamilie für einen erwachsenen Leistungsempfänger nicht unter den Begriff des ambulant betreuten Wohnens fällt, weil sie zwar ambulant erbracht wird, ihre Erbringung aber - ausgehend von den behinderungsbedingten Beeinträchtigungen - qualitativ andere Inhalte hat und voraussetzt, dass der Leistungsempfänger - entfiele die umfassende Betreuung in der Pflegefamilie - nicht durch ein alternatives ambulantes Angebot (und sei es rund um die Uhr) in einem eigenen (außerfamiliären) Wohnumfeld (Wohnung, Wohngruppe oder Wohngemeinschaft) betreut werden könnte, wie es das LSG vorliegend auch festgestellt hat.

§ 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII kommt hier schon deshalb nicht zur Anwendung, weil sich die örtliche Zuständigkeit von Sozialhilfeträgern für Leistungen ambulant betreuter Wohnformen nur bei nach dem 31.12.2004 eintretenden Leistungsfällen nach der Zuständigkeit vor Eintritt in die Wohnform als solche richtet (vgl BSG vom 25.8.2011 - B 8 SO 7/10 R - BSGE 109, 56 = SozR 4-3500 § 98 Nr 1, RdNr 18 unter Hinweis auf BT-Drucks 15/4751 S 48; BSG vom 25.4.2013 - B 8 SO 6/12 R - SGb 2014, 156; vgl auch BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 22/16 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 28 RdNr 19). Da eine Änderung im Leistungsgeschehen seit 1993 nicht eingetreten ist, handelt es sich hier aber um einen sog Altfall im Sinne der Rechtsprechung des Senats, selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die Unterbringung in einer Pflegefamilie zugleich den Begriff des ambulant-betreuten-Wohnens erfüllen könnte.

Bei Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen in einer anderen Familie oder bei anderen Personen richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach § 104 BSHG iVm § 97 Abs 2 BSHG wie § 107 SGB XII iVm § 98 Abs 2 SGB XII; danach ist derjenige Träger örtlich zuständig, in dessen Bereich der Leistungsempfänger im Zeitpunkt des Beginns der Unterbringung oder in den letzten zwei Monaten davor seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat. § 104 BSHG bzw § 107 SGB XII als (auch) die Zuständigkeit regelnde Norm (vgl Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ vom 17.12.2003 - 5 C 14.02 - BVerwGE 119, 356 = Buchholz 436.0 § 104 BSHG Nr 1; BSG vom 26.10.2017 - B 8 SO 12/16 R - SozR 4-1750 § 524 Nr 1 RdNr 20) gilt aber ausdrücklich nur für Kinder und Jugendliche (§ 7 Abs 1 Nr 1 und 2 SGB VIII), dh Minderjährige (§ 2 BGB), die außerhalb ihres Elternhauses untergebracht sind (vgl nur Rasch, NZS 2020, 772; Klinge in Hauck/Noftz, SGB XII, § 107 RdNr 5 Stand Juli 2021).

Endet mit dem Eintritt der Volljährigkeit des W damit die durch § 104 BSHG und § 107 SGB XII zeitlich begrenzte Gleichstellung der Betreuung in einer Pflegefamilie mit der Pflege in stationären Einrichtungen, ohne dass sich seit dem 31.12.2004 das Leistungsgeschehen geändert hat, beurteilt sich die örtliche Zuständigkeit für die ambulant erbrachten Leistungen von diesem Zeitpunkt an entsprechend der Grundregel des § 98 Abs 1 SGB XII nach seinem gewöhnlichen Aufenthalt (vgl § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I). Seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte W seit 1993 durchgehend im Kreisgebiet des Beklagten (vgl zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts bei Minderjährigen BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 22/16 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 28 RdNr 20 mwN), wovon auch die Beteiligten zutreffend ausgehen.

Hinsichtlich der erbrachten Hilfen zur Pflege während zweier Ferienbetreuungen 2010/2011 (2726,72 Euro) bzw in Form der Kurzzeitpflege/Verhinderungspflege 2012 (1609,23 Euro) richtet sich der Anspruch wie vom LSG ausgeführt nach § 105 SGB X. Hat ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 102 Abs 1 SGB X vorliegen, ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (§ 105 Abs 1 Satz 1 SGB X). Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach den für den zuständigen Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften (§ 105 Abs 2 SGB X). Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger diese Leistungen nicht nach außen erkennbar vorläufig geleistet (vgl zu diesem Erfordernis BSG vom 28.3.1984 - 9a RV 50/82 - SozR 1300 § 102 Nr 1; BSG vom 10.7.2014 - B 10 SF 1/14 R - SGb 2014, 504) weshalb § 102 Abs 1 SGB X nicht zur Anwendung kommt. Die geltend gemachten Beträge und damit die erbrachten Leistungen sind nach den Feststellungen des LSG nach Grund und Höhe zutreffend.

Die übrigen Voraussetzungen der Erstattungsansprüche liegen vor, sie sind rechtzeitig geltend gemacht (§ 111 SGB X); auf die Einrede der Verjährung (§ 113 SGB X) haben die Beteiligten verzichtet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG).

Krauß                Scholz                Luik

 

Fundstellen

Haufe-Index 15403691

FEVS 2023, 253

SGb 2022, 425

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