Orientierungssatz

Berücksichtigung der Weihnachtsgratifikation bei der Errechnung der Jahresarbeitsverdienstgrenze:

Durch § 1 iVm § 2 Abs 2 Nr 2 ArEV 1977 ist jedenfalls ab 1.7.1977 die weitere (inhaltliche) Anwendung des RAMErl 1943-01-06 ausgeschlossen worden. Die Anrechnung von Weihnachtsgeld oder eines 13. Monatsgehalts bei der Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes entspricht dem sozialversicherungsrechtlichen Entgeltbegriff (§ 14 Abs 1 SGB 4), nach dem grundsätzlich alle einem Arbeitnehmer aus seiner Beschäftigung zufließenden Einkünfte als Arbeitsentgelt anzusehen sind, gleichviel ob er sie aufgrund einer verbrieften Verpflichtung oder gewohnheitsmäßig erhält.

 

Normenkette

ArEV § 1; RAMErl 1943-01-06; ArEV § 2 Abs. 2 Nr. 2; SGB IV § 17 Fassung 1976-12-23

 

Verfahrensgang

SG München (Entscheidung vom 07.02.1980; Aktenzeichen S 18 Kr 155/78)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin zu 1) an die Beklagte Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 5.227,20 DM für die Klägerin zu 2) zu zahlen hat, obgleich deren jährliches Einkommen - bei Berücksichtigung eines ihr regelmäßig als "Weihnachtsgratifikation" gewährten 13. Monatsgehalts - im Erhebungszeitraum die Jahresarbeitsverdienstgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 165 Abs 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) überstieg.

Die Klägerin zu 2) ist bei der Klägerin zu 1) als Prokuristin beschäftigt. Ihr jährliches Bruttogehalt belief sich nach Angaben des Arbeitgebers für 1975 (ohne Berücksichtigung einer am 1. September 1975 erfolgten Gehaltserhöhung, § 165 Abs 5 RVO) auf 26.876,-- DM, 1976 auf 28.306,-- DM und 1977 auf 34.156,-- DM. Diese Beträge enthalten ein jährliches Urlaubsgeld von 252,-- DM, vermögenswirksame Leistungen von 624,-- DM sowie ein jeweils am 31. Dezember des laufenden Jahres als "Weihnachtsgratifikation" gezahltes 13. Monatsgehalt, das 1975 2.000,-- DM, 1976 2.110,-- DM und 1977 2.560,-- DM betrug.

Im Januar 1976 beantragte die Klägerin zu 2) gegenüber der Beklagten Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 173b RVO ab 1. Januar 1976. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Oktober 1976 ab. Die Klägerin zu 2) hat diesen Bescheid nicht angefochten.

Mit Bescheid vom 6. Oktober 1977 forderte die Beklagte von der Klägerin zu 1) für die Klägerin zu 2) Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung sowie zur B für A (BA) für die Zeit vom 1. Januar 1976 bis 31. August 1977 in Gesamthöhe von 15.249,26 DM. Gegen diesen Bescheid erhoben die Klägerinnen Widerspruch, den sie damit begründeten, daß sie die für den fraglichen Zeitraum geschuldeten Beiträge zur Rentenversicherung sowie zur BA entrichtet hätten und in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht der Beitragspflicht unterlägen, da die Klägerin zu 2) die hierfür maßgebliche Jahresarbeitsverdienstgrenze überschreite. Daraufhin ermäßigte die Beklagte ihre Forderung auf die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 5.227,20 DM. Mit Bescheid vom 27. Oktober 1977 wies sie den Widerspruch der Klägerinnen im übrigen zurück.

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) München mit Urteil vom 7. Februar 1980 abgewiesen. Die Klage der Klägerin zu 2) sei schon deshalb unbegründet, weil der Antrag auf Freistellung von der Versicherungspflicht nach § 173b RVO von der Beklagten bestandskräftig abgelehnt worden sei. Auch das Begehren der Klägerin zu 1) sei unbegründet, da das regelmäßige jährliche Arbeitsentgelt der Klägerin zu 2) die Jahresarbeitsverdienstgrenze in § 165 Abs 1 Nr 2 RVO nicht übersteige. Gemäß der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Dezember 1957 (3 RK 51/57 = BSGE 6, 204) gelte für Weihnachtsgratifikationen der Erlaß des Reichsarbeitsministers (RAM) vom 6. Januar 1943 (AN 1943, 6) fort. Danach seien Weihnachtsgratifikationen bei der Errechnung der Jahresarbeitsverdienstgrenze nicht zu berücksichtigen, soweit deren Gewährung nicht in einer schriftlichen Vertragsurkunde, einem Tarifvertrag oder einer Betriebs- oder Dienstordnung vereinbart worden sei. Da der Klägerin zu 2) jedoch eine solche Zusage nicht gegeben worden sei, müsse die Weihnachtsgratifikation bei der Errechnung der Jahresarbeitsverdienstgrenze außer Betracht bleiben.

Mit ihrer - vom SG zugelassenen - Sprungrevision vertreten die Klägerinnen die Ansicht, auch ein kraft betrieblicher Übung gewährtes Weihnachtsgeld müsse auf den Jahresarbeitsverdienst angerechnet werden. Der Ministerialerlaß aus dem Jahre 1943 könne heute nicht mehr angewandt werden, da sich das Sozialversicherungsrecht zwischenzeitlich fortentwickelt habe. Schon das genannte Urteil des BSG vom 20. Dezember 1957 sei davon ausgegangen, daß der Erlaß des RAM vom 6. Januar 1943 durch die Präambel des Erlasses vom 24. Oktober 1944 (AN 1944, 302) förmlich aufgehoben und seine Fortgeltung nur mit der Erwägung gerechtfertigt worden sei, daß ein Weihnachtsgeld, das nicht aufgrund schriftlicher Vereinbarung geleistet werde, seinen Geschenkcharakter noch nicht völlig abgestreift habe. Diese Erwägung sei jedoch nicht mehr zeitgemäß, weil höherverdienende Angestellte inzwischen in vollem Umfange in die Renten- und Arbeitslosenversicherung einbezogen seien und deshalb nicht mehr des besonderen sozialversicherungsrechtlichen Schutzes durch die gesetzliche Krankenversicherung bedürften, weil dieser durch den Beitragszuschuß (§ 405 RVO) in anderer Weise sichergestellt werde. Auch das Revisionsbegehren der Klägerin zu 2) sei begründet, da sich deren Versicherungsfreiheit aus dem Gesetz ergebe und deshalb die Bestandskraft eines die Freistellung von der Versicherungspflicht nach § 173b RVO ablehnenden Bescheides deren Versicherungspflicht nicht zu begründen vermöge.

Die Klägerinnen beantragen,

das Urteil des Sozialgerichts München vom

7. Februar 1980 sowie den Bescheid der Beklagten

vom 6. Oktober 1977 in Gestalt des Widerspruchsbescheides

vom 27. Oktober 1977 aufzuheben sowie festzustellen,

daß die Klägerin zu 2) mit Wirkung vom 1. Januar 1976

nicht der gesetzlichen Krankenversicherung

unterliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, das angefochtene Urteil stimme in seiner Begründung mit den Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung überein und sei daher zu bestätigen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen sind zulässig und begründet.

Die Klägerin zu 2) unterlag während der streitigen Zeit (1. Januar 1976 bis 31. August 1977) nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung, weil ihr regelmäßiger Jahresarbeitsverdienst jeweils die Jahresarbeitsverdienstgrenze in § 165 Abs 1 Nr 2 RVO überstieg.

Ihr Bruttoarbeitsentgelt - vermindert um einen Weihnachtsfreibetrag von 100, - DM (Art 3 des Gesetzes vom 27. Dezember 1960, BGBl I 1077, idF von Art 29 des Gesetzes vom 21. Dezember 1974, BGBl I 3656, 3669; ab 1. Juli 1977: § 2 Abs 2 Nr 2 der Arbeitsentgeltverordnung vom 6. Juli 1977, BGBl I 1208) - überschritt seinerzeit die in der gesetzlichen Krankenversicherung maßgebliche Jahresarbeitsverdienstgrenze, die 1975 bei 25.200,-- DM, 1976 bei 27.900,-- DM und 1977 bei 30.600,-- DM lag. Das (um den Freibetrag von 100,-- DM verminderte) als "Weihnachtsgratifikation" gezahlte 13. Monatsgehalt durfte - entgegen der Auffassung der Beklagten - bei Ermittlung des Jahreseinkommens nicht unberücksichtigt bleiben.

Die von den Klägerinnen vorgebrachten Bedenken gegen die Anwendbarkeit des Erlasses vom 6. Januar 1943 (AN 1943, 6) geben in der Tat Anlaß zu überdenken, ob dieser Erlaß noch angewendet werden kann. Das BSG hatte immerhin schon in seiner ersten Entscheidung zur Anwendbarkeit dieses Erlasses entschieden, daß er bereits durch den Erlaß des RAM vom 24. Oktober (AN 1944, 302) formell aufgehoben worden und auch später nicht wieder in Kraft getreten ist (BSGE 6, 204, 208 f). Das BSG hat lediglich die in dem Erlaß getroffenen Regelungen inhaltlich im Wege richterlicher Lückenfüllung, also kraft Richterrechts, weiterhin für maßgeblich erklärt, weil es der Auffassung war, daß die nicht schriftlich vereinbarten Weihnachtsgratifikationen von nicht mehr als einem Monatsgehalt ihren Geschenkcharakter noch nicht völlig abgestreift hätten.

Wenn auch diese Auffassung später noch mehrfach bestätigt worden ist (BSG SozR Nr 17 zu § 165 RVO; BSGE 24, 262; 26, 117), so könnte gleichwohl das insoweit bisher zugrunde gelegte Richterrecht veränderten Gegebenheiten, insbesondere der Rechtsentwicklung im Arbeitsrecht, anzupassen sein. Dies liegt um so näher, als der Gesetzgeber nunmehr mit Wirkung vom 1. Juli 1977 durch § 1 iVm § 2 Abs 2 Nr 2 der ua aufgrund von § 17 des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB 4) erlassenen Arbeitsentgeltverordnung eine Regel getroffen hat, die Weihnachtsgratifikationen lediglich insoweit nicht zum Arbeitsentgelt rechnet, als sie 100,-- DM nicht übersteigen und in der Zeit vom 8. November bis 31. Dezember gezahlt werden. Durch diese Regelung ist jedenfalls ab 1. Juli 1977 die weitere (inhaltliche) Anwendung des Erlasses vom 6. Januar 1943 ausgeschlossen worden (so auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand März 1979 S 314e; Grüner, SGB 4, § 14 Anm IV, S 22; aA anscheinend Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung, § 165 Anm 4). Die Gegenmeinung (so auch das Urteil erster Instanz) verkennt, daß der Erlaß vom 6. Januar 1943 formell schon 1944 aufgehoben worden ist und die dort getroffenen Regelungen lediglich durch richterliche Lückenfüllung inhaltlich wieder angewendet wurden.

Indes braucht über die Frage, ob schon für die Zeit vor dem 1. Juli 1977 eine Änderung der Rechtsprechung geboten wäre, hier nicht abschließend entschieden zu werden. Selbst wenn man nämlich davon ausgehen würde, daß die Regelungen des Erlasses vom 6. Januar 1943 inhaltlich bis zum 30. Juli 1977 noch anwendbar gewesen wären, könnte dies im vorliegenden Fall nicht dazu führen, daß die hier streitige Gratifikation bei der Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes auszusparen wäre. Der Erlaß betraf nämlich nur Gratifikationen, die aus Anlaß des Weihnachtsfestes in der Zeit vom 25. November bis 24. Dezember des jeweiligen Jahres gezahlt wurden. Die hier streitigen Gratifikationen wurden aber jeweils erst am 31. Dezember des betreffenden Jahres gezahlt und wurden deshalb von den Regeln dieses Erlasses gar nicht erfaßt (vgl dazu auch BSGE 26, 117 und Brackmann aaO mwN).

Die Anrechnung von Weihnachtsgeld oder eines 13. Monatsgehalts entspricht im übrigen dem sozialversicherungsrechtlichen Entgeltbegriff (§§ 160 RVO aF, 14 Abs 1 SGB 4), nach dem grundsätzlich alle einem Arbeitnehmer aus seiner Beschäftigung zufließenden Einkünfte als Arbeitsentgelt anzusehen sind, gleichviel ob er sie aufgrund einer verbrieften Verpflichtung oder gewohnheitsmäßig erhält. Sie wahrt ferner die Einheit des für die Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes und des für die Beitragsbemessung maßgeblichen Entgeltbegriffs.

In diesem Rechtsstreit ist neben der Klägerin zu 1) als Adressatin des Beitragsbescheides auch die Klägerin zu 2) klagebefugt. Denn der Beitragsbescheid beeinträchtigt auch sie in ihren Rechten. Zwar kann die Beklagte nur die Klägerin zu 1) als Arbeitgeberin der Klägerin zu 2) und damit als Beitragsschuldnerin in Anspruch nehmen (§§ 393, 394 RVO). Weil die Klägerin zu 2) jedoch bei einer ungerechtfertigten Inanspruchnahme der Arbeitgeberin befürchten mußte, daß diese ihr künftig entsprechende Arbeitnehmer-Beitragsanteile vom Gehalt abziehen würde, hat auch sie ein berechtigtes Interesse an der Aufhebung des streitigen Bescheides.

Der getroffenen Sachentscheidung steht schließlich nicht die Bestandskraft des ihren Befreiungsantrag gemäß § 173b RVO zurückweisenden Bescheides der Beklagten entgegen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Klägerin zu 2) nach § 165 Abs 1 Nr 2 RVO versicherungspflichtig wäre, weil sie lediglich unter dieser Voraussetzung einer Befreiung gemäß § 173b RVO bedürfte. Da die Klägerin zu 2) jedoch schon von Gesetzes wegen von der Versicherungspflicht freigestellt ist, steht der Bescheid der Beklagten vom 15. Oktober 1976 ihrem - wie dargelegt - sachlich begründeten Anfechtungsbegehren nicht entgegen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Fundstellen

BB 1981, 2140-2141 (ST1)

RegNr, 9032

Das Beitragsrecht Meuer, 322 A 45/1 (ST1)

USK, 8129 (ST1)

Die Beiträge 1981, 336-339 (ST1)

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