Orientierungssatz

Zur Frage der Berufsunfähigkeit eines (ungelernten) Ersten Schmelzers am Kupolofen.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 1967 und des Sozialgerichts Duisburg vom 18. Mai 1965 werden aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der im April 1903 geborene Kläger begehrt Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. November 1963 bis zum 30. April 1968.

Das Sozialgericht Duisburg hat die Beklagte am 18. Mai 1965 zur Gewährung dieser Rente verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Beklagten am 9. Mai 1967 zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Nach der Ansicht des LSG war der Kläger in der genannten Zeit berufsunfähig. Ausgangsberuf sei - so hat es ausgeführt - die Tätigkeit eines Ersten Schmelzers am Kupolofen. Der Kläger sei viele Jahre hindurch in einer Gießerei als Hilfsarbeiter und Ofenarbeiter beschäftigt gewesen und habe sich hierbei die Kenntnisse und Fähigkeiten erworben, die ein Erster Schmelzer benötige. Als solcher habe er sodann etwa fünf Jahre lang gearbeitet. Ein Versicherter brauche seine Kenntnisse und Fähigkeiten nicht durch einen Facharbeiterbrief nachzuweisen; es genüge, wenn er die erforderlichen Fähigkeiten durch langjährige praktische Erfahrung erworben habe. Die Tätigkeit des Klägers habe in ihren Anforderungen derjenigen eines Hüttenfacharbeiters entsprochen. Weil der Erste Schmelzer für die Qualität und Zusammensetzung des Eisens verantwortlich sei, habe seine Arbeit besondere Bedeutung für den Betrieb. Ein Erster Schmelzer sei auch Vorgesetzter von etwa sechs Arbeitern am Ofen; anderen Arbeitnehmern dürfe er zur Sicherung des Arbeitsablaufs im Einzelfall Weisungen erteilen. Der Kläger sei deshalb einem Facharbeiter gleichzustellen. Er könne nicht auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden. Seinem Ausgangsberuf entsprechende Tätigkeiten könne er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten. Die Ultraschallprüfung von Gußteilen und die Tätigkeit eines Sandprüfers seien ihm zwar nach seinen Kräften und Fähigkeiten noch möglich; jedoch sei dafür eine Einarbeitungszeit bis zu sechs Monaten erforderlich, also eine längere betriebliche Einweisung. Eine Tätigkeit von sechsmonatiger Dauer in der - dafür in Betracht kommenden - Lohngruppe 3 sei - auch im Hinblick auf das Alter des Klägers - einer unzumutbaren Tätigkeit gleichzustellen.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der Kläger stehe einem gelernten Facharbeiter nicht gleich, seine Tätigkeit habe trotz des hohen Arbeitsentgelts nicht derjenigen eines Hüttenfacharbeiters entsprochen. Aber auch dann, wenn der Kläger einem Facharbeiter gleichzuachten sei, könne er auf die Ultraschallprüfung von Gußteilen und die Prüfertätigkeit im Sandlabor verwiesen werden. Eine Einarbeitungszeit für die Dauer von höchstens sechs Monaten sei noch zumutbar, auch wenn sie mit einer Lohneinbuße verbunden sei.

Die Beklagte beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er konnte nämlich nach einer Einarbeitungszeit auf die Ultraschallprüfung von Gußteilen und auf die Tätigkeit eines Sandprüfers verwiesen werden.

Mit Recht ist das LSG davon ausgegangen, daß der Kläger seit 1963 seine bisherige Tätigkeit als Erster Kupolofen-Schmelzer nicht mehr ausüben könnte. Wegen seiner Gesundheitsstörungen vermochte er nur noch leichte bis mittelschwere Arbeiten zu verrichten. Damit war aber seine Erwerbsfähigkeit noch nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren körperlich und geistig gesunden Versicherten herabgesunken (§ 1246 Abs. 1 Satz 1 RVO).

Das LSG hat den Kläger einem Facharbeiter gleichgestellt. Dies ist nach den im Verfahren getroffenen Feststellungen nicht zu beanstanden. Was dem Kläger an regulärer Ausbildung in einer Lehre fehlt, wird durch die jahrelange praktische Erfahrung ausgeglichen. Die Verweisbarkeit nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO richtet sich jedoch nicht allein nach der Einstufung in ungelernte, angelernte und gelernte Tätigkeiten oder Berufe. Vielmehr kommt es auf die subjektive und objektive Zumutbarkeit anderer Tätigkeiten unter Berücksichtigung aller Einzelumstände an. Subjektiv waren die Ultraschallprüfung von Gußteilen und die Tätigkeit als Sandprüfer dem Kläger zumutbar. Es handelt sich um Teilfunktionen des Lehrberufs Hüttenfacharbeiter; diese können nicht von ungelernten Arbeitern wahrgenommen werden. Sie setzen ein Interesse an physikalischen Dingen, geistige Regsamkeit, Gewissenhaftigkeit, saubere lesbare Handschrift und Beherrschung der Grundrechenarten voraus und werden dadurch qualifiziert. Ein sozialer Abstieg wäre damit für den Kläger nicht verbunden gewesen. Einem Versicherten ist zuzumuten, beim alters- und krankheitsbedingten Nachlassen seiner Kräfte eine gewisse Einbuße an Einkommen und sozialer Stellung hinzunehmen. Die besonderen Anforderungen an den bisherigen Beruf bilden zwar einen der Maßstäbe für die subjektive Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit; sie geben dem Versicherten aber keinen Anspruch darauf, nur auf Tätigkeiten mit gleichen oder ähnlichen Anforderungen verwiesen zu werden. Dies gilt besonders dann, wenn die übrigen Maßstäbe eine andere Beurteilung rechtfertigen. Der Kläger war zwar wie ein gelernter Facharbeiter tätig; es darf jedoch nicht außer Betracht bleiben, daß seine Ausbildung qualitativ eng begrenzt war. - Auch objektiv waren die in Frage stehenden Arbeiten dem Kläger nicht unzumutbar. Das LSG hat die Gegenmeinung deshalb vertreten, weil die erforderliche Einarbeitungszeit bis zu sechs Monaten zu lang sei, und zwar allgemein wie auch im besonderen, wenn man das Alter des Klägers bei der Antragstellung und die Lohneinbuße berücksichtige. Dieser Argumentation vermag der Senat nicht zu folgen. Jeder Versicherte hat die Pflicht mitzuwirken, daß der Versicherungsfall vermieden werde. Eine Umschulung und eine längere betriebliche Einweisung und Einarbeitung dürfen zwar erst nach erfolgreichem Abschluß berücksichtigt werden; die Notwendigkeit einer kürzeren betrieblichen Einweisung und Einarbeitung steht aber der Verweisung nicht entgegen (BSG 24, 181, 184 = SozR Nr. 54 zu § 1246 RVO). Wo die Grenze zu ziehen ist, läßt sich nicht allgemein sagen. Mit Recht hat das LSG das Alter des Klägers in die Prüfung mit einbezogen. Geht man jedoch davon aus, daß der Kläger - was er auch tatsächlich getan hat - bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres im Arbeitsleben geblieben wäre, so war sein Alter von 60/61 Jahren für sich allein kein Hinderungsgrund für eine Umstellung. Das Alter eines Versicherten von 57 Jahren steht - nach der Rechtsprechung - nicht einmal einem Umzug an einen anderen Ort entgegen (SozR Nr. 21 zu § 1246 RVO), obwohl ein Wohnortwechsel - verbunden mit dem Verlassen des eigenen Haus- und Gartengrundstücks - gegenüber einer Umstellung in der betrieblichen Arbeit viel stärker in die Lebensverhältnisse eingreift. Ein höheres Lebensalter erfordert lediglich die Prüfung im Einzelfall, ob der Versicherte noch die körperliche und geistige Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit für die Umstellung besitzt (SozR Nr. 14 zu § 1246 RVO). Dies war im Falle des Klägers unbestritten und ist vom LSG festgestellt worden. - Die Lohneinbuße während der Einarbeitungszeit wäre ebenfalls nicht schwerwiegend gewesen. Die während dieser Zeit in Betracht kommende Lohngruppe 3 macht rd. 85 v.H. der Lohngruppe 5 und rd. 81 v.H. der Lohngruppe 5 a, die für Facharbeiter vorgesehen sind, aus. In der höchstens sechs Monate dauernden Einarbeitungszeit wäre dem Kläger also ein Ausfall etwa in Höhe eines Schmelzer-Monatslohns entstanden. Dafür hätte er aber anschließend noch fast vier Jahre lang den Lohn eines Gußprüfers erhalten. Im übrigen ist die Zeit von sechs Monaten vom Berufungsgericht als Höchstmaß angesehen worden. Da der Kläger das Schmelzverfahren beherrscht, wären ihm seine Metallkenntnisse bei der Umstellung auf die Prüftätigkeit zugute gekommen; seine Einarbeitung hätte wahrscheinlich nur eine kürzere Dauer - und damit eine geringere Lohneinbuße- erfordert. - Auch allgemein betrachtet dürfte eine Einarbeitungszeit von sechs Monaten nicht zu lang sein und für höherwertige, verantwortungsvolle Arbeiten der Üblichkeit entsprechen. Im Falle des Klägers erscheint sie jedenfalls als angemessen.

Die Kräfte und Fähigkeiten des Klägers reichten für die mehrfach genannten Prüfungstätigkeiten aus. Diese waren dem Kläger objektiv und subjektiv zumutbar. Als Gußprüfer konnte er wenigstens die Hälfte des durchschnittlichen Verdienstes eines Facharbeiters, auch eines Spezialfacharbeiters erzielen. Der Kläger war nicht berufsunfähig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669866

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