Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit eines Kfz-Mechanikermeisters. offener Arbeitsmarkt. Zahl der Verweisungstätigkeiten

 

Orientierungssatz

Ein Kraftfahrzeugmechanikermeister, der zur Gruppe der Tätigkeiten mit dem Leitberuf eines Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion gehört, kann nur dann auf die Tätigkeiten eines Kundendienstberaters, Ersatzteil-Lageristen und Garantie-Sachbearbeiters verwiesen werden, wenn konkret festgestellt wurde, daß für solche Tätigkeiten der Arbeitsmarkt nicht verschlossen ist.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 17.11.1980; Aktenzeichen L 3 J 125/79)

SG Lübeck (Entscheidung vom 28.03.1979; Aktenzeichen S 2 J 354/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der Kläger, der das Schlosserhandwerk erlernt hat, war bis 1975 in einer Kraftfahrzeugwerkstatt tätig und zuletzt als verantwortlicher Meister für die Durchführung von Zwischenuntersuchungen an Fahrzeugen amtlich anerkannt. Die Beklagte lehnte den am 3. Januar 1978 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 5. Juni 1978 ab, weil der Kläger nicht berufsunfähig sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 28. März 1979 zur Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 17. November 1980 zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei berufsunfähig. Auszugehen sei von der Tätigkeit eines Kraftfahrzeug-Mechanikermeisters, auch wenn der Kläger die formelle Qualifikation für diesen Beruf nicht besitze. Zumutbar seien daher nur Facharbeitertätigkeiten und diesen gleichgestellte andere Arbeiten. Auf fachfremde Tätigkeiten könne er wegen der fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten nicht verwiesen werden. Die Tätigkeit eines Kundendienstberaters komme nicht in Betracht, weil der Kläger kenntnismäßig nicht mehr auf dem aktuellen Stand der technischen Entwicklung stehe. Im übrigen handele es sich um eine Aufstiegsposition, die nicht in nennenswerter Zahl vorhanden sei. Arbeitsplätze für Ersatzteil-Lageristen würden vorwiegend innerbetrieblich an besonders verdiente Belegschaftsmitglieder vergeben. Sie seien daher nicht in nennenswertem Ausmaß über eine Bewerbung auf dem Arbeitsmarkt zugänglich. Im übrigen sei der Kläger wegen seiner Leistungsminderung und wegen seines Alters grundsätzlich nicht wettbewerbsfähig. Die Tätigkeit eines Garantie-Sachbearbeiters gebe es nur in wenigen Großbetrieben und insgesamt nicht in nennenswerter Zahl. Der Kläger sei auch dann berufsunfähig, wenn man nicht von der Tätigkeit eines Kraftfahrzeug-Mechanikermeisters, sondern von der eines Facharbeiters ausgehe. Dem Gericht seien keine, einem Facharbeiter zumutbaren Tätigkeiten bekannt, die der Kläger mit dem verbliebenen Leistungsvermögen ausüben könne.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom erkennenden Senat durch Beschluß zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, der Kläger sei nicht berufsunfähig. Er könne auf die Tätigkeiten eines Kundendienstberaters im LKW-Bereich, eines Ersatzteil-Lageristen und eines Garantie-Sachbearbeiters in der gesamten Kraftfahrzeugbranche verwiesen werden. Den Zugang zum Arbeitsmarkt hätte das LSG nicht prüfen dürfen, denn bei den in Tarifverträgen erfaßten Tätigkeiten sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) davon auszugehen, daß sie in hinreichender Zahl vorhanden seien. Das gelte auch für die Tätigkeit eines Garantie-Sachbearbeiters, obwohl diese im Tarifvertrag nicht ausdrücklich erwähnt sei. Die Verweisung auf die Tätigkeit eines Ersatzteil-Lageristen scheitere nicht daran, daß sie im allgemeinen innerbetrieblich vergeben werde.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen

Landessozialgerichts vom 17. November 1980 sowie das

Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 28. März 1979

aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige und begründete Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger wegen der Qualität der ausgeübten Tätigkeit und der tariflichen Eingruppierung trotz der fehlenden formellen Qualifikation als Kraftfahrzeug-Mechanikermeister zur Gruppe der Tätigkeiten mit dem Leitberuf eines Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion gehört, so daß zumutbar im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO nur solche Berufstätigkeiten sind, die zur Gruppe mit dem Leitberuf eines Facharbeiters gehören. Die Gründe, mit denen das LSG die Verweisung des Klägers auf die Tätigkeiten eines Kundendienstberaters, Ersatzteil-Lageristen und Garantie-Sachbearbeiters abgelehnt hat, rechtfertigen die Annahme von Berufsunfähigkeit jedoch nicht.

Die Tatsache, daß der Kläger kenntnismäßig nicht mehr auf dem aktuellen Stand der technischen Entwicklung steht, hindert die Verweisung auf die Tätigkeit eines Kundendienstberaters dann nicht, wenn er die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten innerhalb einer kurzen, bis zu drei Monaten dauernden Einarbeitung und Einweisung erwerben kann (vgl BSG SozR Nr 40 zu § 45 RKG und SozR 2200 § 1246 Nr 23). Das Berufungsurteil läßt Feststellungen zu der Frage vermissen, wie lange der Kläger brauchen würde, um den für die Ausübung der Tätigkeit notwendigen Stand der Kenntnisse zu erreichen. Zwar mögen solche Bewerber den Vorzug erhalten, die in der Lage sind, einen entsprechenden Arbeitsbereich sofort und ohne Einschränkung zu übernehmen. Das steht einer Verweisung jedoch nicht entgegen, denn Nachteile in der Wettbewerbsfähigkeit begründen nicht die Unfähigkeit zur Verrichtung einer auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen Tätigkeit (vgl BSGE 10, 33, 34).

Etwas anderes könnte dann gelten, wenn es sich bei der Tätigkeit eines Kundendienstberaters um eine Aufstiegsposition handelte, die nur im Wege der Beförderung oder Höherstufung erreicht werden kann. Hat der Versicherte eine solche Stelle nicht tatsächlich inne, so wird er im allgemeinen schon deshalb nicht darauf verwiesen werden können, weil die Aufstiegsposition meist eine höhere Qualifikation und höherwertige Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert als die Ausgangstätigkeit. Nach den Feststellungen des LSG wird die Tätigkeit eines Kundendienstberaters zwar von Kraftfahrzeugmechanikern wegen der Bezahlung und der angenehmen Arbeitsbedingungen als Aufstiegsposition angestrebt. Das bedeutet jedoch nicht zwingend, daß es sich auch für den Kläger, der immerhin durch seine Tätigkeit als Kraftfahrzeug-Mechanikermeister eine höhere Qualifikation nachgewiesen hat als ein normaler Kraftfahrzeug-Mechaniker, um eine Aufstiegsposition handeln muß. Es ist durchaus denkbar, daß der Übergang von der Tätigkeit eines Kraftfahrzeug-Mechanikermeisters zu der Tätigkeit eines Kundendienstberaters ein Wechsel auf gleicher Ebene oder gar ein qualitätsmäßiger Abstieg ist. Nach den Feststellungen des LSG steht jedenfalls nicht fest, daß ein Kraftfahrzeug-Mechanikermeister die Tätigkeit eines Kundendienstberaters nur im Wege des Aufstiegs, dh im Wege der Beförderung oder Höherstufung erreichen kann. Die Verweisung des Klägers auf die Tätigkeit eines Kundendienstberaters käme allerdings nicht in Betracht, wenn die Zahl der vorhandenen Arbeitsstellen so gering ist, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fällt. Nach der Rechtsprechung des BSG ist zwar davon auszugehen, daß für Vollzeitarbeitskräfte der Arbeitsmarkt nicht verschlossen ist, wenn die Verweisungstätigkeiten in Tarifverträgen ausdrücklich aufgeführt sind (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 19, 22, 30). Diese Vermutung einer ausreichenden Zahl von Arbeitsplätzen für Vollzeitarbeitskräfte ist jedoch im Einzelfall widerlegbar, so daß das Tatsachengericht nicht gehindert ist, die Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze festzustellen und dabei zu dem Ergebnis zu kommen, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fällt. Im vorliegenden Fall hat das LSG sich jedoch auf die Aussage beschränkt, daß es Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl nicht gebe. Für eine solche Wertung fehlen deshalb die erforderlichen Tatsachenfeststellungen. Das Berufungsurteil enthält keine konkreten Angaben darüber, wieviel Arbeitsplätze in den etwa 2.000 bis 3.000 LKW-Handels- und Reparaturbetrieben für Kundendienstberater gibt.

Das gleiche gilt für die Verweisung des Klägers auf die Tätigkeiten eines Garantie-Sachbearbeiters soweit das LSG hierzu festgestellt hat, Arbeitsplätze dieser Art seien nicht in nennenswerter Zahl vorhanden, weil sie nur in wenigen Großbetrieben vorkämen. Diese Feststellung ist zu pauschal und ungenau, so daß sie eine Subsumtion nicht erlaubt.

Auch die weitere Begründung, mit der das LSG die Verweisung des Klägers auf die Tätigkeit des Ersatzteil-Lageristen und Garantie-Sachbearbeiters abgelehnt hat, hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Nach der Rechtsprechung des BSG steht der Verweisung eines Versicherten auf eine bestimmte Tätigkeit nicht entgegen, daß Arbeitsplätze dieser Art vorwiegend innerbetrieblich an besonders verdiente Belegschaftsmitglieder vergeben werden, es sei denn, daß es sich um typische Schonarbeitsplätze für leistungsgeminderte Betriebsangehörige handelt (vgl Urteil vom 22. September 1977 - 5 RJ 84/76 -; Urteil vom 29. November 1979 - 4 RJ 93/78 -; Urteil vom 29. Mai 1980 - 5 RJ 88/79 -; Urteil vom 10. Juni 1980 - 4 RJ 7/80 -; vgl auch BSG SozR 2600 § 46 Nr 1 und SozR Nr 22 zu § 46 RKG). Der Senat sieht auch nach erneuter Überprüfung keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

Der Rechtsprechung des Großen Senats des BSG zur Teilzeitarbeit (vgl BSGE 43, 75, 79 = SozR 2200 § 1246 Nr 13) liegt der Gedanke zugrunde, daß der Versicherte nur dann auf die verbliebene Erwerbsfähigkeit verwiesen werden kann, wenn dafür in der Wirklichkeit der Arbeitswelt auch eine reale Chance der Verwertbarkeit besteht, wenn also eine nicht nur theoretische Möglichkeit vorhanden ist, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erlangen. Deshalb scheiden solche Tätigkeiten für eine Verweisung aus, die es auf dem Arbeitsmarkt nicht oder praktisch nicht, dh nur in so geringer Zahl gibt, daß eine Verweisung darauf unrealistisch ist. Diese Grundsätze gelten nicht nur für eine Beschränkung auf Teilzeitarbeit; das Erfordernis des Vorhandenseins einer nicht unbedeutenden Zahl von Arbeitsplätzen gilt grundsätzlich auch bei der Fähigkeit zur Vollzeittätigkeit. Allerdings hat die Rechtsprechung insoweit die Vermutung aufgestellt, daß es für die von Tarifverträgen erfaßten Vollzeittätigkeiten einen ausreichenden Arbeitsmarkt gibt (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 19, 22, 30). Diese Vermutung kann aus besonderen Gründen ganz entfallen (vgl hierzu das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 15. Oktober 1981 - 5b/5 RJ 116/80) oder im konkreten Fall widerlegbar sein. Es kann durchaus sein, daß eine nur noch vereinzelt vorkommende Tätigkeit im Tarifvertrag genannt ist, etwa weil versäumt worden ist, sie nach Rückgang der Arbeitsstellen zu streichen, oder weil die Tarifpartner ausnahmsweise die Aufnahme einer nur vereinzelt vorkommenden Tätigkeit aus bestimmten Gründen für geboten hielten. Ist die Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze aber nicht zu gering, so kommt es nicht darauf an, wie und an wen solche Arbeitsplätze vergeben werden. Die Frage nach der Erreichbarkeit eines nicht nur in geringer Zahl vorhandenen Arbeitsplatzes betrifft die von der Konjunktur abhängige Wettbewerbsfähigkeit des Versicherten, die auf die Berufsunfähigkeit keinen Einfluß hat (vgl BSGE 10, 33, 34). Ist der Versicherte in der Lage, eine nicht nur in geringer Zahl vorkommende Berufstätigkeit zu verrichten, so kann seine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit nicht seine Unfähigkeit zur Ausübung dieser Tätigkeit begründen. In solchen Fällen ist durchaus eine verwertbare Erwerbsfähigkeit vorhanden, deren Realisierung aus Gründen scheitert, die nicht von der Rentenversicherung zu vertreten sind. Dieser Fall ist nicht dem Fall gleichzustellen, daß Tätigkeiten solcher Art entweder nicht oder so gut wie nicht vorhanden sind.

Obwohl dem Berufungsurteil entnommen werden kann, daß der Kläger gesundheitlich in der Lage ist, die Tätigkeiten eines Kundendienstberaters, Ersatzteil-Lageristen und Garantie-Sachbearbeiters auszuüben, ist eine abschließende Entscheidung nicht möglich, weil das LSG keine ausreichenden Feststellungen zur Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze getroffen hat. Das LSG wird - wenn es trotz der Aufzählung in Tarifverträgen - Zweifel daran hat, ob für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt offen oder verschlossen ist, konkrete Feststellungen zur Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze in der gesamten Bundesrepublik zu treffen haben, wobei auch die Zahl der hinreichend qualifizierten Bewerber von Bedeutung ist.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen und zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Das Berufungsgericht wird auch über die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659186

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