Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Vollzeitarbeitskraft. Vorhandensein von Arbeitsplätzen

 

Orientierungssatz

Wird bei der Besetzung eines Arbeitsplatzes ein Betriebsfremder nicht berücksichtigt, obwohl er die ihm obliegenden Arbeiten ausführen könnte und es sich auch nicht um einen typischen Schonarbeitsplatz für leistungsgeminderte Betriebsangehörige handelt, so ist der Betriebsfremde nur in seiner Wettbewerbsfähigkeit benachteiligt. Diese aber fällt allein in den Risikobereich der Arbeitslosenversicherung.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 03.05.1979; Aktenzeichen L 8 J 131/77)

SG Berlin (Entscheidung vom 06.09.1977; Aktenzeichen S 22 J 810/76)

 

Tatbestand

I

Die im Jahr 1922 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie arbeitete von 1942 bis 1960 mit Unterbrechungen ua als Telefonistin, Küchenhilfe, Hausgehilfin und Reinigungsfrau. Sie lebt von Sozialhilfe. Wegen Krankheit ist sie in ihrem Leistungsvermögen eingeschränkt. Sie ist aber noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten im Sitzen mit kurzen Unterbrechungen durch Gehen oder Stehen vollschichtig zu verrichten. Dabei muß auf die Arbeitsumgebung Rücksicht genommen werden, und bestimmte Arbeiten kann die Klägerin überhaupt nicht leisten.

Die Beklagte hat den im September 1975 gestellten Antrag der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit mit Bescheid vom 11. Februar 1976 abgelehnt, weil die Klägerin noch nicht berufsunfähig sei.

Die Klage ist erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 6. September 1977). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 3. Mai 1979 das Urteil sowie den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. Oktober 1975 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. In den Entscheidungsgründen ist ua ausgeführt: Einige Tätigkeiten, die zunächst in Frage zu kommen schienen, könne die Klägerin nicht verrichten; zB könne sie weder als Werkstattschreiberin, Sortiererin oder Montiererin arbeiten noch Feinsortierarbeiten oder Feinmontierarbeiten leisten. Sollte es darüber hinaus noch einfache Sortierarbeiten oder Montagearbeiten geben, die dem eingeschränkten Leistungsvermögen der Klägerin gerecht würden, so handele es sich hierbei um aus sozialen Gründen in Großbetrieben an dort bereits langfristig Beschäftigte zu vergebende Tätigkeiten, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kaum - jedenfalls nicht in nennenswertem Umfang - angeboten würden.

Mit der von dem Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie weist darauf hin, daß nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Arbeitsmarkt für vollschichtig Arbeitsfähige in der Regel nicht verschlossen ist. Nach ihrer Ansicht liegt bei der Klägerin auch keiner der in der Rechtsprechung bezeichneten Ausnahmefälle vor.

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Berlin vom 6. September 1977 als unbegründet zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Sie trägt ua vor: Einen allgemeinen Arbeitsmarkt für einfache Sortierarbeiten, Montagearbeiten und Verpackungsarbeiten, die sie noch ausführen könne, gebe es nicht.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als die Sache zurückverwiesen werden mußte. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.

Die Klägerin wäre nur dann berufsunfähig, wenn es keine Tätigkeiten gäbe, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihr unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Das ergibt sich aus § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO. Wäre die Klägerin (noch) nicht berufsunfähig, dann brauchte ihre etwaige Erwerbsunfähigkeit nicht geprüft zu werden.

Bei der Untersuchung derjenigen Tätigkeiten, die den Kräften und Fähigkeiten der Klägerin entsprechen, hat der Vorderrichter angenommen, es könne einfache Sortiertätigkeiten und Montagetätigkeiten geben, die dem eingeschränkten Leistungsvermögen der Klägerin gerecht werden. Ob es solche Tätigkeiten tatsächlich gibt und wie sie beschaffen sind, hat das LSG dagegen nicht untersucht, weil diese Tätigkeiten nur an langfristig Beschäftigte vergeben würden, so daß der allgemeine Arbeitsmarkt der Klägerin verschlossen sei. Das ist jedoch rechtsirrig.

Das BSG hat wiederholt entschieden, daß bei einer Vollzeitarbeitskraft in der Regel nicht geprüft zu werden braucht, ob für die Tätigkeiten, die in Frage kommen, Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang vorhanden sind, jedenfalls dann, wenn diese Tätigkeiten von Tarifverträgen erfaßt sind (BSGE 44, 39 = SozR 2200 § 1246 Nr 19 - 5. Senat -, SozR 2200 § 1246 Nr 22 und 30 - 4. Senat -). Ausnahmen hat die Rechtsprechung dann angenommen, wenn der Versicherte nicht unter den im Betrieb üblichen Arbeitsbedingungen arbeiten oder nicht den Arbeitsplatz von seiner Wohnung aus aufsuchen kann.

Auch Fälle wie den vorliegenden hat das BSG schon entschieden. Der 5. Senat hält es nicht für "statthaft, daß das LSG alle attraktiven Montierarbeiten und Kontrollarbeiten von der Verweisung ausschließt, weil sie im Erwerbsleben angeblich fast ausschließlich eigenen Betriebsangehörigen vorbehalten sind" (Urteil vom 22. September 1977 - 5 RJ 84/76 - S 4).

Dem hat sich der erkennende Senat angeschlossen (Urteil vom 29. November 1979 - 4 RJ 93/78 -, S 8). An dieser Rechtsprechung ist, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Risikoverteilung zwischen Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung, grundsätzlich festzuhalten. Wird bei der Besetzung eines Arbeitsplatzes ein Betriebsfremder nicht berücksichtigt, obwohl er die ihm obliegenden Arbeiten ausführen könnte und es sich auch nicht um einen typischen Schonarbeitsplatz für leistungsgeminderte Betriebsangehörige handelt, so ist der Betriebsfremde nur in seiner Wettbewerbsfähigkeit benachteiligt. Diese aber fällt allein in den Risikobereich der Arbeitslosenversicherung.

Da das LSG von einer anderen Rechtsauffassung ausgeht, hat es nicht untersucht, ob bei der Klägerin die Ausnahmen vorliegen, auf die die Rechtsprechung abgestellt hat. Hätte das Berufungsgericht dahingehende Ermittlungen durchgeführt, dann hätte sich möglicherweise ergeben, daß derartige Ausnahmen nicht vorliegen, die Klägerin also auf einfache Sortiertätigkeiten und Montagetätigkeiten verwiesen werden kann und deshalb weder berufsunfähig noch gar erwerbsunfähig ist.

Das angefochtene Urteil war aufzuheben. Die Sache war zurückzuverweisen. Über die Kosten wird das Berufungsgericht entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657406

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